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Alte StimmenGebrechen, Einsamkeit, Sorgen? Diese Senioren singen sich glücklich

Lesezeit 7 Minuten
Eine Seniorin hat die Arme ausgebreitet und ist singend zu sehen. Hinter ihr der Chor und ein Pianist in action.

Was macht die alte Stimme aus? „Manchmal wird sie wacklig und bleibt nicht mehr genau auf dem angestrebten Ton. Aber sie entwickelt auch eine eigene Qualität“, sagt man hier.

Wer über 60 ist, den sortiert das Leben manchmal aus. Bei den „Alten Stimmen“ ist die hohe Zahl an Jahren im Gegenteil Bedingung, um überhaupt mitmachen zu dürfen. Über einen Chor, der Lebensmut und Optimismus schenkt.

Arme wachsen blütenkelchgleich in den Himmel. Im bunten Fenstermosaik blitzt die Frühlingssonne. Ein Säuseln weht durch den Kirchenraum, es piepst und plappert, als hüpfte ein Gebirgsbach über die Kieselsteine ins Tal. Vokale fließen, Nasale schmelzen, es raspelt ein Reibelaut und zwischendurch explodiert irgendwo ein P. Chorleiterin Ortrud Kegel fliegt glücklich durch die Reihen. „Schon nach der ersten Probe waren wir high“, sagt Regine. Sie ist 87 Jahre alt und Gründungsmitglied des „Experimentalchor Alte Stimmen“. „Grandios“, sagt Brigitte, 83. Es ist die Rede von Lebenselixier, von innerem Strahlen, von festen Freundschaften. Ausrufezeichen nach jedem Wort.

Rund 14 Jahre ist es her, dass Regine und Brigitte einem Aufruf im „Kölner Stadt-Anzeiger“ gefolgt sind. Zwei Zeilen: „Singen ab siebzig: Experimentalchor für Alte Stimmen. Anmeldung zum Schnuppertreffen unter…“ Mit mehr als 120 anderen Senioren standen sie dann etwas unsicher und überrascht vom großen Auflauf in der Kölner Philharmonie. „Ich habe ja nie gesungen, höchstens mal mit meiner Schwester in der Küche“, sagt Regine. Aber es ist dann sofort so, als hätte man schon immer aufeinander gewartet. Regine und das Singen. Singen und Brigitte. Brigitte und Regine. Ein Reigen und alle halten einander die Hand. „Feste Freundinnen“, sagt Regine.

Harmonielehre ist erstmal zweitrangig

Vor dem Flügel steht Simon Rummel. Er leitet gemeinsam mit Alexandra Naumann und Ortrud Kegel den Chor. Der Pianist lässt die Arme wie die Zeiger einer Uhr um den Körper schwingen. Zu einer jeweils ausgedachten Uhrzeit summt jedes Chormitglied einen Ton. Manche poltern tief in das Summen hinein, wieder andere fliegen piepsend oben drüber. Alles versetzt im Zeitraffer eines Zwölf-Stunden-Runds. Erstmal kein „Ubi Caritas“, erstmal kein „Kleiner grüner Kaktus“, erstmal auch kein „Viva Colonia“. Die „Alten Stimmen“ sind eben ein Experimentalchor. Harmonielehre ist da zweitrangig.

Es geht ums Ausprobieren. Um Töne im ganz Allgemeinen. Schnarchen, rascheln, piepsen, flüstern, schnalzen, rattern, summen. Und natürlich um die Frage: Wie klingt eigentlich so eine menschliche Stimme, wenn sie faltig wird, wie Hildegard sagt. „Manchmal wird sie wacklig und bleibt nicht mehr genau auf dem angestrebten Ton. Aber sie entwickelt auch eine eigene Qualität“, sagt die 75-Jährige. Das rumhüpfende Jodeln der jungen Jahre ist abhandengekommen. Wenn man so will, haben sich die fliegenden Stimmen der Chormitglieder im Laufe der Zeit hingesetzt. „Ich war mal Mezzosopran, jetzt singe ich Tenor“, sagt Ulla, 81. Schulterzucken. Ist halt so.

08.05.2025, Köln: Der Chor „Alte Stimmen“ probt in der Stephanuskirche.

Foto: Michael Bause

„Wir hatten viele Mitglieder jenseits der 90, die uns mittlerweile schon verlassen haben“, sagt Brigitte. „Da war klar: Wir brauchen frisches Blut.“

Alt sind sie hier alle, auch wenn man zuletzt die Zugangsbeschränkungen gelockert hat. „Wir hatten viele Mitglieder jenseits der 90, die uns mittlerweile schon verlassen haben“, sagt Brigitte. „Da war klar: Wir brauchen frisches Blut.“ Also öffneten die „Alten Stimmen“ ihre Tore auch für Menschen, die mindestens 60 Jahre alt sind. Nachwuchs. Küken Markus, 65, konnte sich so Zutritt verschaffen. Er war früher mal Omnibusfahrer und singt schon lange im Chor. Sein Berufsleben hat er seinerzeit um den Probendienstag herumgebaut. „Wenn ich für eine Sechstagesfahrt ab Dienstag vorgesehen war, dann hab ich meinen Chef gebeten: Tausch mich um auf Mittwoch. Ich will ja dienstags singen.“ Das hat meistens geklappt und war ihm eben wichtig. Bei den „Alten Stimmen“ sei „jeder anders“, das begeistere ihn. Außerdem natürlich das Programm: Schwitters, Jandl, Kreisler mit ihrer experimentellen Lyrik sind beispielsweise mit von der Partie. „Wer hört sowas schon noch? Das muss man doch wieder mehr in die Mitte der Gesellschaft holen.“ Gute nacht gedicht (gehaucht), Mondeier in Sfumatosänften – Regine öffnet ihren kirschroten Mund und lacht vergnügt. Man versteht sich. Wenn gerade mal keine Chorprobe ist, dann trifft sie sich schließlich mit einigen Chormitgliedern zur Lyrikgruppe. 

Verstorbene Partner, krumme Rücken, verpasste Chancen

Es ist freilich nicht alles erbaulich am Altwerden. „Heute nur glückliche Stunden, Morgen nur Sorgen und Leid“, singen Brigitte, Regine, Hildegard, Ulla, Markus und die anderen dann auch. Wer hier herkommt, dem hängen zuweilen über Jahrzehnte zusammengesammelte Kümmernisse am Rockzipfel. In so einem langen Leben, da staubt's deshalb zuweilen. Pflegebedürftige Angehörige, verstorbene Partner, eigene Krankheiten, krumme Rücken, faltige Wangen, Enttäuschungen, verpasste Chancen, Selbstzweifel.

„Das Gras ist verdorret“. Simon Rummel walzt den Satz aus wie den Hefeteig für eine sehr große Pizza. Am Ende zieht er sich klebrig und dünn durch den Raum. Brahms Requiem, die Totenmesse. Rummel flüstert. Brigitte, Hildegard, Regine, Ulla, Markus und die anderen stimmen ein. Die Zeitlupe zerlegt den Satz in seine Einzelteile. Der hohe Turm an Jahren, er kommt nicht über Nacht. Er schleicht sich an. Heimlich überholen die Gebrechen dabei zuweilen die gefühlte Jugend. Plötzlich ist die Zukunft für all die Pläne, die man vor sich hergeschoben hat, zu kurz geworden. Plötzlich ist das Gras wirklich nicht mehr grün und saftig. Ein Hauchen weht vorüber, ein Rasenmäher rattert, eine Schlange zischt. „Wie mitten in der Nacht und ich finde im Radio keinen Sender“, urteilt Rummel und strahlt. Gespenstisch. Und zuweilen traurig. „Viele unserer Mitglieder sind schon gestorben. Das geht einem nah. Wir weinen um die anderen“, sagt Ortrud Kegel.

Die Chormitglieder sind singend zu sehen. Einige halten Noten in der Hand.

Sie singen hier auch von der obersten Regel des Alterns: „Beklag dich nicht!“

Aber die Stimme, sie ist ein „Überlebensmuskel“, wie Mit-Chorleiterin Alexandra Naumann sagt. „Sie verbindet uns mit der Welt, lässt uns Selbstwirksamkeit erfahren.“ Sie zaubert. Sie schenkt Mut, den ein oder anderen Plan in der Gegenwart umzusetzen. Denn das Leben ist jetzt und das Jetzt ist ja noch da. Sie tröstet. „Nach dem Tod meines Mannes konnte ich einige Monate nicht kommen. Musik konnte ich nicht ertragen. Und dann? Hat mich die Gemeinschaft hier in gewisser Weise gerettet“, sagt Regine. Sie kuriert die Krankheit Einsamkeit. Sogar einen kompletten Neustart kann man im hohen Alter damit noch hinlegen, weiß Ulla, die vor sechs Jahren aus Ingelheim nach Köln zog. „Ich dachte, mich nimmt niemand mehr auf mit 75 Jahren. Aber hier hat es geklappt, ich fühl mich sauwohl“, sagt sie.

Ulla zog vor sechs Jahren nach Köln: „Ich dachte, mich nimmt niemand mehr auf mit 75 Jahren. Aber hier hat es geklappt“

Die Kraft der Alten wirkt wie ein Stromgenerator auch auf die etwas jüngeren Chorleiter. Alexandra Naumann hat sich durch ihre Arbeit mit dem Alter versöhnt. „Man denkt immer nur an Krankheiten, aber die Menschen hier zeigen mir, dass selbst die Defizite im Alter etwas Schönes sein können. Die Langsamkeit zum Beispiel. Da steckt auch Weisheit drin, Freude, Dankbarkeit, Bereicherung und Kreativität“, sagt Naumann. Auch Kollegin Ortrud Kegel gerät ins Schwärmen, wenn sie über den Chor spricht: „Unglaubliche Energie“, „gute Laune“, „positive Ausstrahlung“, „Zusammenhalt“. Ein Auffangnetz auch. Es erstreckt sich nicht nur auf die Probenzeiten. Man treffe sich zum Kaffeetrinken, telefoniere, sei füreinander da. Eine Kraft, die den gesammelten Jahren ihre dunkle Dissonanz nimmt. Und dann ist da natürlich auch noch der gesundheitliche Aspekt. Das Zwerchfell ist in Bewegung, das Herz wird angeregt, der Kreislauf, der Gleichgewichtssinn geschult, der Beckenboden gestärkt, die Nerven beruhigt. Singen gibt Kondition, Naumann nennt das „Sport von innen“.

Ein Training, das wirkt: „Ich bin vor der Chorprobe manchmal so im Eimer, dass ich es kaum hierher schaffe“, sagt Hildegard. Neben ihrem Platz lehnen zwei Wanderstöcke, die ihr helfen, trotz ihrer MS-Erkrankung noch unterwegs zu sein. „Nach der Probe bin ich dann guter Dinge und offen für alles. Es stärkt mich und hilft mir, mit der Unbill zurechtzukommen.“ Denn schließlich gilt im Allgemeinen und ganz besonders in dieser Gemeinschaft die oberste Regel des Alterns, die an diesem Nachmittag ebenfalls durch die Stephanuskirche in Riehl geschmettert wird: „Beklag dich nicht!“

Tapferkeit also. Zieh bunte Kleidung an und lerne! Hier am Donnerstagnachmittag bei Stephanus beherzigt man beides. Die Modefarbe Rentnerbeige sucht man vergeblich. Stattdessen viel Koralle, Kornblume, Klatschmohn, Sonne, Kürbis, Lavendel, gern auch in Kombination getupft oder großflächig geblümt. Und auch im Kopf glühen die Synapsen bunt. Denn: „Das Gehirn ist sehr plastisch und verdrahtet sich auch in hohem Alter wieder, wenn die Offenheit besteht, sich etwas Neues anzueignen“, sagt Ortrud Kegel.

Gelte es, neue Texte für einen Auftritt auswendig zu lernen, dann laufe man mit dem Lampenfieber-Gejammer „das schaff ich nicht“ bei den Chorleitern gegen eine Wand. „Die sagen dann mit Elan, aber auch einer gewissen Strenge: Das bewältigen wir schon“, erzählt Brigitte. Jedes Mitglied verfügt auch über den Zugang zum Repertoire in einer Cloud, so lassen sich über das Internet die Einzelstimmen üben.

Und richtig, nach dem Widerwillen und dem Stress, der sich bei Rentnern ebenso einstellt wie bei lethargischen Teenager-Schülern, reist dann das Erfolgserlebnis an. Brigitte hat das schon mehrfach erlebt: „Wenn man so einen italienischen Kanon auswendig singen kann, am Ende sogar vor Publikum, dann weiß man: In meinem Gehirn, da geht noch was!“ Stolz. Bühne. Applaus. Und alle strahlen.


Am Sonntag, 15.6. um 15.30 Uhr, zeigt das Filmhaus Köln „environmental dialogue. Der Experimentalchor Alte Stimmen auf den Spuren von Pauline Oliveros“. Tickets im Filmhaus oder an der Tageskasse