Wenn Menschen flüchten, lassen sie nicht nur ihre Heimat, sondern auch ihre Liebsten zurück. Manchmal finden sie in fremden Menschen eine neue Familie, in fremden Orten ein neues Zuhause und in fremden Bräuchen neue Traditionen. Zwei moderne Weihnachtsmärchen
Herzensmenschen„Manchmal haben Fremde mehr Liebe zu geben als die eigenen Verwandten“

„Ich habe sieben syrische Enkelkinder“, sagt Heidrun Brandt. Mit vier von ihnen schmückte sie in diesem Jahr den Weihnachtsbaum: (v.l.) Vater Ebraheem Raslan und die Geschwister Daniel, Nedal, Talal und Mohammed Raslan mit ihrer „Oma Heidi“
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Nedal Raslan (23) und Heidrun Brandt (78): „Sie war für mich da und ich war für sie da“
Mit elf Jahren erlebte Nedal Raslan zum ersten Mal Weihnachten. 2015 war das, wenige Monate, nachdem er mit seinem Vater vor dem Assad-Regime aus Syrien nach Deutschland geflohen war. „Auf einmal waren die Straßen voller Lichter und die Balkone geschmückt“, erinnert sich Raslan, der muslimisch erzogen ist, damals tief beeindruckt von der Atmosphäre auf den Straßen. „Ich kannte das nur aus Filmen und Kinderserien.“ Und zwar von solchen, die auch heute im Fernsehen rauf und runter laufen: die von Nächstenliebe und Mitgefühl handeln, von Familie, Heimat und Nachhausekommen, von Menschen, die zueinanderfinden und von diesen magischen Weihnachtswundern.
Und irgendwie hat auch Nedal Raslans Lebensweg alles zu bieten, was es für so ein modernes Weihnachtsmärchen braucht. Nur weniger kitschig ist seine Geschichte, mit einem tragischen Anfang in Syrien. Ein Happy End hat sie trotzdem – die Abschlussszene, sie würde wohl an Heiligabend in Köln-Dellbrück spielen, in einem hellen Einfamilienhaus, im Wohnzimmer von Heidrun Brandt. Denn dort schmückt er inzwischen traditionell am Morgen des 24. Dezembers den Tannenbaum. Mit seiner 78 Jahre alten Vermieterin, die er „Oma Heidi“ nennt. Und „Oma Heidi“ nennt ihn ihren „Enkel“.
Blutsverwandtschaft gibt es zwischen ihnen keine, auch keine anderen Verknüpfungen im Familienstammbaum. Heidrun Brandt und Nedal Raslan kommen aus verschiedenen Welten. Und doch sind sie Teil einer Familie. Für Brandt ist es eine Zweitfamilie, wie sie sagt, eine, die man sich aussucht, in die man nicht hineingeboren wird, nicht einheiratet. Darauf komme es ja auch gar nicht an, sagt sie mit einem Schulterzucken beim Gedanken an Nedal Raslan, seine Geschwister, die Eltern, seinen Cousin und einen Freund der Kinder: „Sie gehören zu mir und ich gehöre zu ihnen. So ist das.“ Mit Raslans Mutter fährt sie zum Arzt oder macht Sport. Lyla, die Tochter, kommt manchmal nachmittags vorbei – zum Quatschen mit der Oma. Brandt sagt: „Ich habe sieben syrische Enkelkinder.“
Sie gehören zu mir und ich gehöre zu ihnen. So ist das
Wer nach dem Ursprung der Gemeinschaft sucht, der findet ihn 2021 in Dellbrück.
Denn Raslan und seinen Vater hatte es von Warendorf ins rechtsrheinische Köln verschlagen. Auch so eine filmwürdige Anekdote: Der Chef einer Einrichtung des Deutschen Roten Kreuzes habe gefragt, wo sie denn am liebsten hinwollten. Das Vater-Sohn-Gespann hatte noch keine Ahnung von Deutschland. „Hauptsache, es ist warm dort“, lautete deshalb ihre ungefähre Antwort. Dann habe der Mann eine Stadt auf einen Zettel geschrieben – es sei eine Überraschung gewesen –, und lediglich gesagt: „Es wird euch gefallen. Ihr werdet ein gutes Leben haben.“
Dieser Ort war Köln – wärmer als Bayern, und das Leben hier sollte tatsächlich seine positiven Wendungen nehmen. „Wir haben uns sofort wohl gefühlt“, sagt Raslan. 2016 erhielten sie ihren Aufenthaltstitel, drei Jahre später durfte der Rest der Familie nachkommen. „Dann lebten wir zu sechst in einer Zweizimmerwohnung, die war toll, aber nur für zwei Menschen ausgelegt. Wir schliefen auf dem Boden. Es war super eng.“
Und dann kam Heidrun Brandt ins Spiel. Die Wege kreuzten sich zunächst flüchtig in der Dellbrücker Nachbarschaft. Dort half der Schüler im Garten. „Ich wusste, dass der Junge ein Zimmer sucht. Mit vier Geschwistern zu Hause erledigte er seine Hausaufgaben manchmal draußen“, berichtet Brandt. Sie fackelte nicht lange und fragte, ob er nicht bei ihr einziehen wolle – ins erste Stockwerk, mit Schlafzimmer, Küche und kleinem Bad. „Sie vermietete mir die Zimmer für ganz wenig Geld – wir einigten uns darauf, dass ich ihr dafür im Haus und im Garten helfe. Ich stimmte sofort zu“, sagt der angehende Hörgeräteakustiker. Etwas später zog auch sein Cousin Hamza Alsharif in ein weiteres Gästezimmer ein. Auch er war aus Syrien geflüchtet.
Heimat ist nicht da, wo man geboren wurde, sondern da, wo man sich wohlfühlt. Es ist ein Gefühl
Nach einigen Jahren des Alleinlebens hatte Heidrun Brandt nun wieder Mitbewohner. Vor 18 Jahren ist ihr Mann gestorben, nach 40 Jahren Ehe. Brandt war klar: „Ein Partner kommt mir nicht mehr ins Haus. Ich bin dran. Ich bin frei. Ich kann bestimmen“, sagt sie. Zum Beispiel darüber, wer bei ihr wohnt. „Ein junger Mann war mir ganz recht.“ Das kannte sie noch von früher. „Wir hatten eine große Familie, ich war es gewohnt, dass immer Leute bei uns lebten. Mein Vater war ebenfalls viel auf Montage unterwegs im Ausland, das war ganz normal.“
Der Kontakt zu einigen Bekannten sei in den Jahren eingeschlafen, viele seien gestorben. Einsamkeit sei trotzdem nicht der Grund für ihre Entscheidung gewesen. Brandt hat eine Tochter und eine Nichte – ihre wichtigsten Kontakte – und eng verbundene Nachbarn. Sie geht zum Seniorentreffen in der Kirchengemeinde, ist ein aufgeschlossener Mensch – und öffnete ihr Herz auch schnell für Nedal Raslan und seine Familie.

Nedal Raslan wohnt in der Einliegerwohnung im Haus von Heidrun Brandt in Dellbrück. Mit der Zeit ist aus Vermieterin und Mieter eine Oma-Enkel-Bindung entstanden.
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Warum es zwischen ihnen so gut passte, dafür finden sie kaum Worte. „Sie war für mich da und ich war für sie da“, sagt Raslan. „Ich glaube aber, ich brauchte sie mehr.“ Zwischen technischen PC-Problemen auf der einen Seite und deutschem Papierkram und Anträgen auf der anderen Seite wuchs die Bindung. Und dann waren sie sich irgendwann einig: „Wir helfen uns, wir sind doch schließlich eine Familie.“ Aus Frau Brandt wurde eine Großmutter, die zuhört und tröstet. Und die beim Baumschmücken auch mal beide Augen zudrückt. Wenn Raslan oder seine Geschwister die Deko-Kartons plündern, dann werde es mitunter ganz schön bunt in ihrem Wohnzimmer. Jeglichen Schmuck hängen die Jungs an die Zweige, Kugel für Kugel. „Das ist nicht immer mein Geschmack“, sagt Brandt und lacht. Aber solange es ihren Enkeln gefalle, könne sie damit leben.
Weihnachten feiern sie nicht zusammen. Brandt verbringt den Abend mit ihrer Tochter und die Raslans bleiben unter sich. Obwohl sie Muslime sind, haben sie einige der Bräuche übernommen. „Mit Weihnachtskranz und Adventskalender und Geschenken für die Kleinen.“ Nur Kartoffelsalat gebe es nicht. Es sei deshalb auch nur „ein halbes Weihnachten“, gibt der 23-Jährige lachend zu. Keine halben Sachen macht er dagegen beim Gedanken an sein Zuhause: „Das ist Dellbrück.“ Da stimme das Gefühl. „Heimat ist nicht da, wo man geboren wurde, sondern da, wo man sich wohlfühlt.“
Die Kiels (68 und 70), Habiba (42) und Sino (12): „Familie ist da, wo Wärme ist“
Den ersten Weihnachtsfeiertag mit fünf Menschen zu verbringen, die vor nicht allzu langer Zeit noch Fremde waren – besser hätte es für Karin (70) und Wilfried (68) Kiel kaum kommen können. Das Paffrather Ehepaar hat keine eigenen Kinder und nur wenige Verwandte in der Nähe. Die Festtage waren bislang also eher von Ruhe geprägt. Das ist nun anders.
Denn vor neun Jahren ist ihr Leben mit einiger Rasanz um eine 180-Grad-Haarnadelkurve gesaust. Und plötzlich war da Sino. Heute ist er 12 Jahre alt, wenn sie über ihn reden, sagen sie „Nennenkel“. Eine Whatsapp-Nachricht: „Oma, wir haben Euch was zu Essen vor die Tür gestellt!“; gemeinsames weihnachtliches Schmücken der Stube; das kurze Flurgespräch mit Sinos Mutter Habiba, die so etwas Selbstverständliches fragt wie: „Hast du noch Tupperdosen von mir?“ Alltäglichkeiten, die doch funkeln, als wären es kostbare Edelsteine. Bewusst nach derlei Schätzen gesucht haben sie nicht, sagen die beiden Rentner. Aber es sei eben passiert. Einfach so.

In Habiba (l.) und ihrem „Nennenkel“ Sino haben Karin und Wilfried Kiel ganz unverhofft eine Familie gefunden.
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Obwohl, ein bisschen nachgeholfen hat Karin Kiel dann irgendwie schon. 2015 besuchte sie eine Flüchtlingsunterkunft in Bergisch Gladbach. Aus gesundheitlichen Gründen konnte sie nicht mehr arbeiten und wollte stattdessen Menschen dabei unterstützen, in Deutschland anzukommen. Sie traf auf eine fünfköpfige tadschikische Familie: Habiba und ihr Mann, zwei ältere Söhne und ein Kleinkind. Sino war da gerade mal zwei Jahre alt. Ihren Nachnamen will die Familie nicht in der Zeitung lesen – aus Sicherheitsgründen, sagen sie. Politische und familiäre Gründe zwangen sie dazu, ihre Heimat zu verlassen, so Habiba.
Dann begannen die Flechtarbeiten am Zopf, den man Familie nennt: gemeinsam Deutsch lernen, in der Schule zurechtkommen, einen Kindergartenplatz suchen, eine Wohnung finden, für Prüfungen lernen. Aber dazwischen knüpfte sich eben auch der Strang von der Gegenseite: gemeinsam Renovieren im Reihenhaus der Kiels, frisch gekochtes Essen bringen, wenn mal jemand krank war. „Wir haben alles gemeinsam geschafft, Schritt für Schritt, ein Wunder nach dem nächsten“, sagt Kiel.
Wir wollten helfen und sind selbst so reich beschenkt worden
Die größte Freude erlebten sie und ihr Mann, als Sino anfing, sie „Oma und Opa“ zu nennen. Anders als seine älteren Geschwister kennt er seine tadschikischen Großeltern kaum. „Ich brachte ihm manchmal die Tierposter aus der Apotheken-Umschau mit, zum Aufhängen an seiner Wand. Einmal ist ihm eines wohl heruntergefallen, sein Bruder hat es sich genommen.“ Sino habe geantwortet, das berichtete ihr Habiba danach: „Lass das, das hat mir meine Oma geschenkt.“ Damit war es besiegelt. Das Wunder, über das Karin und Wilfried Kiel noch heute staunen: „Wir wollten helfen und sind selbst so reich beschenkt worden.“ Gemeinsam verbringen sie Nachmittage mit Spielen oder Hausaufgaben, unternehmen Fahrrad-Ausflüge am Wochenende. In diesem Jahr waren die Kiels das erste Mal gemeinsam mit Sino im Urlaub, an der niederländischen See.
Und jetzt verbringen sie eben auch den ersten Weihnachtsfeiertag alle zusammen, zu siebt, das ist Familien-Tradition. Dann gibt es Raclette – kein typisches tadschikisches Essen. Genauso wenig, wie die Weihnachtsgeschichte, die am Abend vorgelesen wird, oder die Lieder, die gesungen werden. Habiba und ihre Familie bezeichnen sich als liberale Muslime, andere Feiertage haben bei ihnen eine höhere Bedeutung. Trotzdem verbinde sie der unterschiedliche Glaube eher, als dass er sie trenne, nicht nur zum Christfest. „Auch, wenn es manchmal Schweres oder Schlimmes in der Familie gibt, sagen wir, wir beten füreinander, jeder eben auf seine Weise“, sagt Kiel.
Familie ist da, wo Wärme ist. Wo die Menschen einen annehmen und ins Herz schließen
Wenn sie und Habiba jetzt zusammen auf dem roten Sofa sitzen, wirken die beiden Frauen fast wie Mutter und Tochter. Habiba nimmt Karin Kiel beim Erzählen immer wieder in den Arm, dabei lacht sie herzlich, manchmal legen die beiden ganz selbstverständlich ihre Hände ineinanderlegen. Da ist keine Scheu, nur Vertrauen und Geborgenheit.
„Familie ist da, wo Wärme ist. Wo die Menschen einen annehmen und ins Herz schließen“, sagt Habiba. Bei Karin und Wilfried zum Beispiel. „Die beiden haben uns nicht auf Abstand gehalten, sondern haben Nähe zugelassen. Manchmal haben Fremde mehr Liebe zu geben als die eigenen Verwandten.“ Nie habe sie sich in Deutschland allein gefühlt. „Wir haben hier so etwas wie Eltern, zumindest einen Ersatz.“ Denn Heimweh plage sie trotzdem manchmal. Mit ihrer Mutter, 5000 Kilometer entfernt, telefoniere sie täglich. Inzwischen hat sich Habiba aber ein Leben in Bergisch Gladbach aufgebaut. Sie leitet gemeinsam mit einer Freundin eine Großtagespflege-Einrichtung für Kinder unter drei Jahren. Vor kurzem ist die Familie eingebürgert worden. Sie bleiben. „Mein Zuhause ist jetzt hier“, sagt Habiba – und das ihrer Kinder auch. Noch so ein Schritt, noch so ein Wunder.

