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„Großes Problem für die Demokratie“Wie Kölner Politiker mit Beleidigungen und Drohungen umgehen

Lesezeit 5 Minuten
Freitag 24.07.2020 Köln
Interview mit der Politikerin Sarah Niknamtavin (Listenplatz 5, bei den Linken), am Aachener Weiher in der Kölner Innenstadt.
Interview Gespräch Talk für die Wahlserie zur Komunalwahl 2020.
Aufgenommen am: 24.07.2020
Foto: Alexander Roll (Staff)

Sarah Niknamtavin ist das jüngste Ratsmitglied in Köln. Sie zog 2020 als 21-Jährige für die Linke ein.

Kevin Kühnert hat sein Ausscheiden aus der Politik mit Bedrohungen begründet. Das Problem ist längst auf kommunaler Ebene angekommen.

Was genau das Motiv des Jugendlichen war, darüber rätselt Lucas Hahn heute noch. Fragen wollten ihn Lucas Hahn und sein Parteikollege von der FDP lieber nicht, „dazu war die Situation zu brenzlig“, sagt er. Vor der Europawahl im vergangenen Juni hängte der 19-Jährige an einem Nachmittag Parteiplakate in Kalk auf. „Plötzlich kam dieser Jugendliche auf uns zu, fing an, unsere Materialien wie Kabelbinder an sich zu nehmen und uns zu beleidigen. Wir sind dann schnell weggelaufen.“

Anfeindungen, Drohungen bis hin zu körperlichen Angriffen sind für viele Politikerinnen und Wahlhelfer keine Seltenheit. Vergangene Woche begründete der frühere SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert sein Ausscheiden aus der Politik in der Wochenzeitung „Die Zeit“ unter anderem mit Angriffen und Bedrohungen gegen sich, etwa von Neonazis und Corona-Leugnern.

Beleidigungen und Bedrohungen nehmen zu

Doch das Phänomen ist längst nicht nur auf Bundesebene ein Thema, wie Lotta Rahlf, Doktorandin am Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung sagt. Sie beschäftigt sich mit Gewalt gegen Politikerinnen und Politiker und was das für Demokratien bedeutet.

Alles zum Thema Polizei Köln

Lucas Hahn, stellvertretender Vorsitzender der Jungen Liberalen in Köln

Lucas Hahn, stellvertretender Vorsitzender der Jungen Liberalen in Köln

Rahlf sagt dem „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Die Aussagen von Kevin Kühnert zeigen, dass sich Menschen bewusst aus einem politischen Amt zurückziehen. Das trifft besonders auch die kommunale Ebene, dort machen Menschen ehrenamtlich Politik. Wenn sie sich aus Angst politisch nicht mehr engagieren, ist das ein großes Problem für die Demokratie.“ Laut ihrer Aussage sprechen die Statistiken „schon für einen Trend, dass Bedrohungen und Angriffe auf Mandatsträgerinnen und Mandatsträger zunehmen“.

Lotta Rahlf, Doktorandin am Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung

Lotta Rahlf, Doktorandin am Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung

Das Bundeskriminalamt etwa hat 2023 rund 5.400 Angriffe auf Amts- und Mandatsträger gezählt. Im Vergleich zum Vorjahr war das ein Anstieg um etwa 29 Prozent. Eine repräsentative Forsa-Umfrage im Auftrag der Körber-Stiftung in Hamburg ergab Anfang April, dass ein Viertel von mehr als 2000 befragten Lokalpolitikern angeben, dass sie selbst oder Personen in ihrem Umfeld wegen ihrer politischen Arbeit beleidigt oder bedroht worden sind. 27 Prozent berichteten, demokratiefeindliche Tendenzen in ihrer Kommune zu beobachten.

Und gerade in Köln ist Gewalt gegen Politiker seit 2015 ein Thema, als die damalige Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker (parteilos) bei einem rechtsextrem motivierten Messerattentat fast ihr Leben verlor. Reker überlebte und gewann die Wahl.

Ursula Gärtner, CDU Mitglied im Stadtrat Köln

Ursula Gärtner, sitzt seit 1994 für die Kölner CDU Stadtrat und ist dienstältestes Mitglied.

Doch das Ziel von Drohungen und Beschimpfungen ist sie als hauptamtliche OB weiterhin, wie ihr Referent Pascal Siemens vergangenes Jahr im Podcast des „Kölner Stadt-Anzeiger“ namens „Attentat am Blumenstand – Der Angriff auf Kölns Oberbürgermeisterin und die Gefährdung der Demokratie“ bestätigte. Rund drei E-Mails oder Briefe mit strafrechtlich relevanten Drohungen und Beleidigungen erhält ihr Büro – pro Woche. Siemens berichtete von einer Nachricht, die eine Leiche zeigte, die in sechs Teile zerlegt war, darunter die Nachricht an Reker, dieses Schicksal „stehe ihr auch bevor“.

„Hemmschwelle ist niedriger, etwas in die Tasten zu hauen als es jemandem ins Gesicht zu sagen“

Reker und Kühnert sind und waren Berufspolitiker, haben ein Büro, Personal, einen Apparat um sich herum – im Gegensatz zu der überwiegenden Mehrheit der 90 Kölner Ratsmitglieder, die sich ehrenamtlich engagieren. Nur einige Fraktionsgeschäftsführer und Fraktionschefs sind hauptberuflich Politiker.

Laut der Studie der Heinrich-Böll-Stiftung „Beleidigt und bedroht – Arbeitsbedingungen und Gewalterfahrungen von Ratsmitgliedern in Deutschland“ ist knapp die Hälfte der 50 interviewten Kommunalpolitiker von Drohungen betroffen, teils erreichen sie auch den privaten Raum.

30.04.2021, Köln:
Ein Streifenwagen der Polizei Nordrhein-Westfalen steht auf dem Alter Markt in der Kölner Altstadt, vor dem Historischen Rathaus zu Köln.
Outbreak Shutdown Lockdown Coronavirus Corona Virus COVID-19 SARS-CoV-2 Pandemie Corona-Krise.
Freitag 30. April 2021
Aufgenommen am: 30.04.2021
Foto: Alexander Roll (Staff)

Ein Streifenwagen der Polizei steht auf dem Alter Markt in der Kölner Altstadt vor dem Historischen Rathaus.

In der Studie heißt es: „Das Risiko, beleidigt, bedroht oder sogar körperlich angegriffen zu werden, erwartet keiner. Gleichwohl: Die Mehrheit der Gesprächspartner/innen ist sich bewusst, dass Pöbeleien und Beleidigungen schon immer Teil von Politik gewesen sind und es sich bei der verbalen Gewalt keineswegs um eine neue Erscheinung handelt. Allerdings, und dies dürfte nicht zuletzt mit den neuen medialen Kanälen und dort geführten Debatten verbunden sein, wird eine neue Quantität, vor allem aber auch Qualität der Anfeindungen wahrgenommen.“

Das bestätigt auch Ursula Gärtner von der CDU, die 72-Jährige sitzt seit 1994 im Rat und ist damit dienstältestes Mitglied und war lange Fraktionsvizechefin. Gärtner sagt: „Die Hemmschwelle ist niedriger, etwas in die Tasten zu hauen als es jemandem ins Gesicht zu sagen.“ Massive Anfeindungen hat sie aber noch nicht erlebt.

Das jüngste Ratsmitglied ist Sarah Niknamtavin, sie kam 2020 als 21-Jährige in den Rat. Die Linken-Politikerin berichtet von „grenzwertigen Kommentaren und Beleidigungen“ unter Instagram-Beiträgen. Sie reagierte darauf. „Trotz des öffentlichen Amtes hat das dazu geführt, dass ich versucht habe, mir eine gewisse Anonymität im Internet aufzubauen.“

Grünen-Fraktionsgeschäftsführer Lino Hammer.

Grünen-Fraktionsgeschäftsführer Lino Hammer.

Auf der anderen Seite des politischen Spektrums berichtet auch die Kölner AfD von Anfeindungen und Bedrohungen. So seien Mitte Februar im Rahmen des Bundestagswahlkampfes Infostände der Partei in Mülheim und Deutz umzingelt und gestört worden.

Expertin Rahlf begründet den Trend zu den häufigeren Übergriffen auch mit den sozialen Medien. „Dort findet eine gewisse Verrohung statt und sie befeuern den Hass.“ Kühnert sagte gegenüber der „Zeit“, er habe den Glauben daran verloren, gegen den Hass auf Social Media anzukommen.

Ähnliches berichtet auch Grünen-Fraktionsgeschäftsführer Lino Hammer, der sich wegen des Diskursklimas aus gewissen Diskussionen im Internet bewusst heraushält. „Glücklicherweise“ hat er laut eigener Aussage noch keine Drohungen erhalten.

Hammer erzählt aber, dass er mit seinem Ehemann nicht händchenhaltend über die Ringe gehen würde. Er hebt einen Satz von Kühnert hervor, der mit einem FDP-Politiker liiert ist: „Es braucht das ständige Bewusstsein, dass der politische Gegner auch recht haben könnte.“ Hammer sagt: „Häufig beobachte ich, dass viele ihre Wahrheit als die einzig wahre ausgeben. Dadurch wird der Ton rauer.“

21.08.2024, Köln: FDP Fraktionsvorsitzender im Stadtrat, Ralph Sterck.  Foto: Arton Krasniqi

Ralph Sterck ist seit 26 Jahren FDP-Ratsmitglied in Köln

Und Ralph Sterck, seit 1999 Ratsmitglied für die FDP sagt: „Man wird vorsichtiger, das war früher anders. Die sozialen Medien heizen die Stimmung an.“ Sterck versucht, seine Privatadresse aus der Öffentlichkeit herauszuhalten. In der Vergangenheit wurde sein Hauseingang bereits beschmiert, woraufhin er die Polizei einschaltete.

Auch Wahlhelfer Lucas Hahn kann verstehen, dass Kühnert aufgrund der bedrohlichen Stimmungslage sein Amt als Politiker aufgegeben hat. Auch er habe seit dem Vorfall in Kalk manchmal ein mulmiges Gefühl. „Seitdem schaue ich mich schon genauer um, wenn ich am Wahlkampfstand stehe.“

Seit Oktober 2023 ist Hahn bereits stellvertretender Vorsitzender der Jungen Liberalen in Köln, seit 2024 sitzt er als Sachkundiger Einwohner im Rechnungsprüfungsausschuss der Stadt Köln. Von politischem Engagement wolle er sich nicht abhalten lassen. „Ganz im Gegenteil“, sagt er.