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Ausstellung „Para-Moderne“Schwestern, zur Sonne, zur Freiheit

Lesezeit 5 Minuten
Vier springende Frauen scheinen in der Luft zu stehen.

Alltag in der Siedlung Loheland: Federn/Sprung, um 1930 

Die Bundeskunsthalle Bonn zeigt die bis heute einflussreichen Lebensreform-Bewegungen nach 1900 – und ihre völkischen Abwege.

Sein Haus heiße Ruth und sei ziemlich ruhig, vertraute Franz Kafka seinem Tagebuch am 8. Juli 1912 an. „Nur in der Ferne spielen sie Fußball, die Vögel singen stark, einige Nackte liegen still vor meiner Tür.“ Kafka hatte sich für zwei Wochen in einer Lichthütte des Sanatoriums Jungborn einquartiert, mit vegetarischer Ernährung, ausdauerndem Kauen und täglichen Leibes- und Atemübungen. Ganz geheuer war dem schwachbrüstigen Kafka die Sache anscheinend nicht. Jedenfalls endet sein Eintrag mit einem Seufzer: alle ohne Schwimmhosen – bis auf mich.

Selbstredend darf Franz Kafka in einer Ausstellung über die deutsche Lebensreform nicht fehlen – als Gesundheitsfanatiker, der 1924 infolge von Lungentuberkulose starb, jener Volkskrankheit, die maßgeblich zum Aufstieg dieser bis heute einflussreichen Massenbewegung beitrug. Die Lebensreform nach 1900 erfasste sämtliche Bereiche der Gesellschaft und war in ihrer Vielfalt kaum zu überschauen. In ihr trafen sich pragmatische Sozialreformer und Utopisten, Künstler und Gesundheitsapostel, Idealisten und Geschäftemacher – nicht selten in einer Person. Sucht man einen gemeinsamen Nenner, findet man ihn in der Losung „Zurück zur Natur“. Die Reform war eine Gegenbewegung zur unaufhaltsamen Verstädterung und Industrialisierung des modernen Lebens.

Jetzt kann man die vielen Wege der Lebensreformer nachvollziehen

Jetzt kann man die vielen Wege und Abwege der Lebensreformer in der Bonner Bundeskunsthalle nachvollziehen – wobei der Ausstellungstitel „Para-Moderne“ den esoterischen oder auch neureligiösen Kern der Bewegung vorzüglich trifft. Natürlich strebte nicht jeder Büromensch, den es zur Erholung aufs Land zog, oder jede Frau, die sich bequeme Kleidung schneiderte, nach höherer Erkenntnis. Die Lebensreform brachte für die meisten ihrer Jünger vor allem praktische Erleichterungen mit sich oder schuf überhaupt erst ein Bewusstsein dafür, was uns krank macht und wie ein besseres Leben aussehen kann.

Aber oft genug verband sich mit den Reformversprechen eine Heilsgewissheit in bewusster Konkurrenz zu den alten Religionen. Selbst Rainer Maria Rilke machte aus dem Barfußlaufen eine Weltanschauung („möchte kein Sandkorn versäumen“), und die berühmteste Heilanstalt der Lebensreformer wurde nicht von ungefähr auf dem Tessiner Monte Verità errichtet – dem Berg der Wahrheit. Das am häufigsten vervielfältigte Kunstmotiv der Zeit war das „Lichtgebet“ von Fidus, auf dem sich ein nackter Jüngling auf einem Gipfel der Morgensonne entgegen reckt. Erlösung lag in der frischen Luft. Im stickigen Berlin spotteten die Zeitungen derweil über eine „Messias-Seuche“, verursacht durch Propheten wie Gusto Gräser, der seine Apostel in Jesuslatschen anführte und mit seiner selbstgestrickten Befreiungstheologie das Hippietum vorwegnahm.

Ein nackter Jüngling steht bei Sonnenaufgang auf einem Berg.

„Lichtgebet“ von Fidus

Man mag von den neuen Religionen, Diäten, Lichtkuren, Leibesübungen und den übersteigerten Hoffnungen der Zeit halten, was man mag. Sie schrieben Kunst- und Kulturgeschichte, und das oft genug mit Lehren, die schon den Zeitgenossen etwas verrückt vorkamen. In Bonn sind einige abstrakte Gemälde Wassily Kandinskys zu sehen, die ebenso dem theosophischen Geisterreich abgeschaut sind wie die Natur- und Gedankenformen Frantisek Kupkas. Lange hätte es als Sakrileg gegolten, neben diese Werke der klassischen Moderne die „mediumistischen Zeichnungen“ einer Wilhelmine Assmann zu hängen. Aber die zu ihrer Zeit nicht weniger berühmte Traummalerin schöpfte ihre Motive nun einmal aus den gleichen trüben Quellen.

In der Loheland-Siedlung bei Fulda hielten sich die jungen Frauen von Spiritismus, Geisterfotografie oder Hypnose hingegen tunlichst fern. Hier, auf dem Land, ging es um die ganzheitliche Bildung der neuen Frau, die nicht nur die Korsettstangen ihrer Kleider loswerden sollte. Auf dem Schulplan standen gymnastische Übungen, Garten- und Feldarbeit, rhythmischer Tanz und angewandte Kunsterziehung – Loheland wollte autark sein und autarke Frauen ausbilden. In Bonn ist dem Projekt ein eigener Raum gewidmet, mit Textilien, Möbeln und Töpferarbeiten – und neusachlichen Fotografien. Unter den Siedlungen der Lebensreform gehört das 1919 gegründete Loheland zu den langlebigsten (sie existiert heute als Waldorfschule); während der NS-Zeit diente sich die Mitgründerin Louise Langgaard den neuen Machthabern an.

Die völkischen Tendenzen werden in Bonn etwas unterspielt

Die völkischen Tendenzen innerhalb der Lebensreform-Bewegung werden in der Ausstellung keinesfalls ausgespart, aber etwas unterspielt. Breiten Raum nehmen sie am Beispiel des Reformers und späteren NS-Vordenkers Paul Schultze-Naumburg ein, der politische Prediger Ludwig Christian Haeusser wird als gefährlicher Verfechter des Führer-Prinzips vorgeführt. Diese unselige Traditionslinie führt in der Ausstellung über den Philosophen Martin Heidegger zum Unabomber Ted Kaczynski – aber man könnte sie auch in den Züchtungs- und Rassetheorien der Freikörperkultur angelegt sehen und natürlich im Blut-und-Boden-Teil der Jugend- und Wandervogelbewegungen.

Gerade in der Lebensreform ist nichts so unschuldig, wie es scheint – und mitunter werfen ihre Lichtgestalten lange Schatten. Oft genug wurden mit dem modernen Leben auch Schulmedizin und Wissenschaft zu Feinden erklärt, denen die Propheten eigene Para-Wissenschaften entgegensetzten; Impfskeptiker gab es schon um 1900, und die Tinkturen, die Rudolf Steiner im Geiste zusammenrührte, werden heute von der Krankenkasse bezahlt. In Bonn hört die Geschichte der Lebensreform mit den US-Hippies auf. Beinahe könnte man meinen, sie würde durch ihre Amerikanisierung (also: Profanisierung) von allem völkischen und quasi-religiösen Gedankengut gereinigt.

Der Blick nach Übersee fügt dieser ohnehin überreichen Schau ein bislang unterschätztes Kapitel hinzu. Bereits 1906 tauchte mit Wilhelm Pester der erste deutsche Reformprophet in Kalifornien auf – als Eremit mit Gitarre und Jesus-Look wurde er zum Vorbild vieler Naturburschen, die Nat King Cole 1946 mit seiner von Eden Ahbez geschriebenen Schnulze „Nature Boy“ unsterblich machte. Eine ganze Wand ist mit amerikanischen Pop-Postern und ihren Jugendstil-Vorläufern tapeziert, und natürlich fehlt Andy Warhols fantastischer Siebdruck des gelben Rauch ausstoßenden Hermann Hesse nicht. 1907 war der spätere „Steppenwolf“-Autor nackt auf dem Monte Verità herumgeklettert. In den Sixties wollten alle sehen, was ihm dort als höhere Wahrheit erschienen war.


„Para-Moderne. Lebensreformen ab 1900“, Bundeskunsthalle, Bonn, Di.-So. 10-18 Uhr, Mi. 10-20 Uhr, 11. April bis 10. August 2025. Der Katalog kostet 48 Euro.