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Emmy-RekordWas macht die Serie „Severance“ so einzigartig

Lesezeit 4 Minuten
Britt Lower und Adam Scott stehen vor einer hügeligen Wiese mit Ziegen, die sich in einem riesigen weißen Büroraum befindet.

Britt Lower und Adam Scott in der Apple-TV-Serie "Severance"

„Severance“ ist Top-Favorit bei den Emmys 2025. Das könnte daran liegen, dass die US-Serie punktgenau von unserer Nach-Corona-Identitätskrise erzählt. 

In dieser Woche wurden die Nominierungen für die 77. Emmy Awards bekannt gegeben. Das Feld der Bewerber um die US-Fernsehpreise führt „Severance“ mit 27 Nennungen an, das Geistesprodukt des TV-Newcomers Dan Erickson und des Hollywood-Comedians Ben Stiller, der hier als Regisseur zu großer Form aufläuft. Was einerseits nicht verwundert, denn keine andere Serie hat in den vergangenen Monaten mehr Meinungsstücke und öffentliche Diskussionen ausgelöst als die zweite Staffel der Apple-TV-Show.

Andererseits kommt der Emmy-Erfolg von „Severance“ – halb Arbeitswelt-Satire, halb verrätselte Science-Fiction-Dystopie – durchaus überraschend, denn schon die Prämisse ist schwer zu schlucken: Die Angestellten des sektenartigen Konzerns Lumon Industries – es bleibt uns und auch ihnen unklar, was genau der herstellt – unterziehen sich freiwillig einem Verfahren, das ihre Erinnerungen an den Arbeitstag von denen an ihr Privatleben trennt. Betreten sie den Aufzug zum Büro, wird ihre Arbeitspersönlichkeit aktiviert, ihr „Innie“ in der Sprache der Serie. Die Innies haben kein Bewusstsein vom Leben außerhalb der Firmenmauern, die Outies wiederum wissen nicht, was sie werktags zwischen neun Uhr morgens und fünf Uhr abends treiben.

„Severance“ hält viele Fragezeichen in der Schwebe

Die endlosen weißen Gänge im Lumon-Hauptquartier sind ein verschachteltes Labyrinth, eine aseptische Version des Mietskasernengerichts aus Kafkas „Der Prozess“. Hinter den Türen finden sich Großraumbüros, Chefzimmer und Entwicklungslabore, aber auch technisch hochgerüstete Folterkammern, ein Wachsfigurenkabinett der konzerneigenen Mythologie – und ein Wiesenhügel, auf dem Ziegen grasen. Die Ziegenwiese ist eine der vielen Mysterien, die auch am Ende der zweiten Staffel noch ihrer Auflösung harren.

Die könnte sich, wie das die finalen Folgen solcher „Puzzlebox“-Shows (siehe etwa „Lost“) so an sich haben, als herbe Enttäuschung entpuppen. Bislang jedenfalls hält „Severance“ seine vielen Fragezeichen mit unerhörter Souveränität in der Schwebe, und letztlich ist es genau diese surreale Grundstimmung, nach der die Serie zuvörderst strebt und die wohl auch ein Grund für ihre unvorhergesehene Beliebtheit ist: Wer hätten seinen Arbeitsplatz denn noch nie als Absurdistan erlebt, die Hierarchien seines Unternehmens als undurchschaubar und die strategischen Entscheidungen seiner Vorgesetzten als widersinnige Direktiven?

Die gute, alte Marx'sche Entfremdung feiert hier fröhliche Urständ. „Severance“ blickt aus der Sicht der Home-Office-Heimkehrer der Nach-Corona-Zeit auf den Büroalltag, vielleicht fremdelten nie zuvor so viele Arbeitnehmer mit ihrer fremdbestimmten Zeit. Lumon Industries ist wie ein Worst-of des Geschäftslebens: Die viktorianisch (oder von Deutschland aus betrachtet: wilhelminisch) steifen Unternehmenstraditionen, die veraltete Technik, das halb esoterische Psycho-Gebabbel, die dunklen Absichten und scientologischen Heilsversprechen.

Die handelnden Personen dürften uns aus dem eigenen Berufsleben bekannt vorkommen: der ironische Abstandhalter, die Überidentifiziererin, der Choleriker, der Streber aus dem mittleren Management. Dank der ausgezeichneten Darsteller – unter anderem Adam Scott, Patricia Arquette, John Turturro und die beiden Newcomer Britt Lower und Tramell Tillman – sind uns diese Typen sogar sympathisch.

Zugleich öffnet die Serie die Pandorabüchse der Identitätsfrage. Wenn das Gedächtnis, dem englischen Philosophen John Locke zufolge, der einzige Garant für die „Dieselbigkeit der Person“ ist, also für ihre persönliche Identität, was folgt dann, wenn man das Gedächtnis abknapst? Dazu muss man keinen Science-Fiction-Plot konstruieren, da reicht eine Alzheimer-Erkrankung oder eine der vielfältigen psychischen Störungen, von denen Oliver Sacks in seinem Klassiker „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ erzählt. Aber wer ist wer, wenn ich und ein anderer im selben Körper leben?

Mit fortschreitender Handlung gewinnen die Arbeits- und Privatpersonen der Protagonisten an Kontur und wir Zuschauenden sind gezwungen, unsere Sympathien für sie ebenso aufzuspalten, wie diese das mit ihren Erinnerungen getan haben. Denn die Interessen von Innie und Outie driften zunehmend auseinander, unterscheiden sich bald diametral, bis hin zu der Frage, ob man, wenn es gelingen sollte, den Eingriff in die Persönlichkeit rückgängig zu machen, einen Mord an seinen Innie begeht. Welchen Teil seiner Person, fragt „Severance“, muss man abtöten, um sich selbst als authentisch erleben zu können?


Die ersten beiden Staffeln von „Severance“ sind auf Apple-TV+ zu sehen.