Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

„Museum der Einsamkeit“Kann man so von Auschwitz erzählen?

Lesezeit 4 Minuten
Das Tor zum KZ Auschwitz-Birkenau mit dem Schriftzug „Arbeit macht frei“

Das Tor zum KZ Auschwitz-Birkenau mit dem Schriftzug „Arbeit macht frei“

In seinem neuen Erzählband versetzt uns Ralf Rothmann in einen Todeszug nach Auschwitz. Ist das schon „Holocaust-Kitsch“? 

Es ist eine literarische Binsenweisheit, dass Sprache die Wirklichkeit verändert, aber für Ralf Rothmann muss sie eine tiefere Bedeutung haben – schließlich hat ihn die Sprache aus der Arbeitswelt erlöst und in einen Schriftsteller verwandelt. Vielleicht scheinen seine Bücher deswegen etwas Nüchtern-Heiliges zu haben. Sie schöpfen aus dem Realismus des Erlebten, nur um darin eine höhere, der Alltagserfahrung entzogene Wahrheit zu beschwören, die wunderbar zwischen zwei Buchdeckel passt.

In dieser Hinsicht ist Rothmann ein magischer Realist, gerade wenn er den Spuren der eigenen Biografie folgt – aus seiner prekären Wahlheimat Berlin zurück in die Kindheit und Jugend im Ruhrgebiet und zuletzt, in seiner viel gerühmten, aber auch nicht unumstrittenen Weltkriegstrilogie, zum Vermächtnis der gebrochenen und lieblosen Eltern. Seine Romane verlassen selten dieses vertraute, ins Unbekannte führende Terrain; in seinen mittlerweile fünf Erzählbänden wagt er es hingegen immer wieder, seine Sprache in etwas anderes als erlöste Rothmänner zu verwandeln.

Die neun Geschichten kreisen jeweils um ein einziges Ereignis

„Museum der Einsamkeit“ heißt Rothmanns jüngster Erzählband, der abermals eher eine Sammlung von Novellen ist. Die neun Geschichten kreisen jeweils um ein einziges, in einem Zug berichtetes Ereignis oder laufen so unweigerlich und atemlos auf dieses zu, dass man ohne Not etwas Schicksalhaftes darin erkennen kann: Ein Pfarrer besucht seine krebskranke Tochter in der Klinik, eine Witwe bezieht ihre mutmaßlich letzte Wohnung, eine Frau beobachtet einen Notfall in der ungeliebten Nachbarschaft. Jede Geschichte hat ihren Wendepunkt, auf den zu warten, sich nicht lohnt. Obwohl sich die Zeichen verdichten, kommt er doch stets aus einem wohl komponierten Nichts.

In der Todesnovelle sammeln sich früh die Raben im klirrenden Wind, und doch lässt sich das Unvermeidliche erst spät und dann ganz plötzlich nicht mehr leugnen. Als der Pfarrer im Auto vom Klinikparkplatz rollt, taucht die gefürchtete Gewissheit im Rückspiegel auf, das „glänzende Gefieder“ der Vögel kommt dem Vater „einen Lidschlag lang höhnisch vor“ und schon stieben die vom Winken der Krankenschwester aufgescheuchten Tiere davon: „Ein träges, nahezu gemächliches Aufsteigen der schweren Körper, die sich, kaum waren die Krallen angelegt, leicht wie nichts in die Höhe schwangen.“

Ralf Rothmann

Ralf Rothmann

In den schweren, leicht werdenden Körpern lässt sich ohne weiteres die oft gelesene Todesmetapher identifizieren, aber bei Rothmann hat sie nichts Tröstliches mehr. Mit dem Pfarrer dürfen auch wir uns verhöhnt fühlen von einem Gott, der Rothmanns Geschichte zunächst den Titel zu geben scheint; erst gegen Ende gibt sich „Herr Dingens“ als wahrsagende Handpuppe des kranken Mädchens zu erkennen.

Zwischen Furcht und Hoffen scheinen viele Figuren im „Museum der Einsamkeit“ gefangen. Sie erleben erste oder späte Liebesnöte, erinnern sich an bessere Tage oder wollen sich eine lange getragene Last von der Seele nehmen. Rothmann versetzt sie teils in ihm und seinen Lesern wohlvertraute Milieus, auf Baustellen und ins Künstlerleben, und nur in einem Fall erschöpft sich seine Geschichte in einer allzu gründlich vorbereiteten Pointe. Beinahe übermütig wirkt der Auftritt zweier Gauner mit Migrationshintergrund, die dem deutschen Liebhaber ihrer Mutter einen unfreundlichen Besuch abstatten. Hier vertraut Rothmann offenbar darauf, dass erzählerische Virtuosität selbst das hartnäckigste Klischee erweichen kann. Die Handgranate, die der Bedrängte in seinem Briefkasten findet, ist jedenfalls nicht das, was sie scheint.

In „Psalm und Asche“ schildert Rothmann die letzten Stunden einer Jüdin

Am weitesten entfernt sich Ralf Rothmann in der Schlussnovelle von seiner Erfahrungswelt. In „Psalm und Asche“ schildert er die letzten Stunden einer Jüdin (offenbar Etty Hillesum), die auf der Zugfahrt vom niederländischen Durchgangslager Westerbork nach Auschwitz ein neugeborenes Kind annimmt, und setzt die späte Rechtfertigung des Lagerkommandanten Albert Konrad Gemmeker dagegen. Spricht aus der Erinnerung des SS-Manns die freundliche Banalität des Bösen (jemand schrieb, Gemmeker habe die Menschen nicht mit dem Stiefel nach Polen getreten, sondern ins Gas gelächelt), wendet Rothmann auf „Etty“ das seiner Geschichte vorangestellte Motto an: „Solche Dinge kann man nicht erzählen, die erlebt man einfach nur.“ 

Auf paradoxe Weise versucht Rothmann, in „Psalm und Asche“ vom Unsagbaren zu erzählen, indem er es uns aus nächster Nähe miterleben lässt - und beruft sich dabei auf Philip Mechanicus, einen jüdischen Autor, der wie Hillesum in Westerbork inhaftiert war und (mutmaßlich) in Auschwitz ermordet wurde. Wobei Rothmann gerade nicht Ettys Perspektive übernimmt, sondern in dritter Person berichtet und daher die Möglichkeit, im „wunderbaren Tod“ eine Erlösung zu sehen, in distanzierende Anführungszeichen setzen kann: „Das Letzte im Inneren, die Wahrheit hinter der Wahrheit, kann dir sowieso niemand nehmen. Nirgendwo. Wenn du das verstehst, bist du frei.“   

Einige Kritiker haben Rothmann vorgeworfen, den Holocaust zu verkitschen - ein Vorwurf, dem sich Rothmann mit der gewagten Konstruktion der Geschichte wohl bewusst ausgesetzt hat. Man könnte seine Schlussnovelle für eine Wette auf die Erzählkunst halten, für die Übung eines Virtuosen, der sich beweisen möchte, dass er auch das Unsagbare in Worte fassen kann. Das liegt vielleicht in der Natur seiner niemals leichtfertigen Literatur. Rothmann schreibt mit heiligem Ernst, um seine Figuren aus der Sprachlosigkeit zu befreien.


Ralf Rothmann: „Museum der Einsamkeit“, Suhrkamp, 268 Seiten, 25 Euro. E-Book: 21,99 Euro.