Zehn Jahre nach den Anschlägen von Paris inszeniert Stephan Kimmig den Prozess gegen die Terroristen im Depot 1 des Kölner Schauspiels.
Schauspiel KölnIns Theater gegangen, aus dem Gericht gekommen

Claude De Demo und Paul Grill in „V13 – Die Terroranschläge von Paris“
Copyright: Birgit Hupfeld
„V13“, das steht für Vendredi Treize, für jenen Freitag, den 13., an dem vor zehn Jahren islamistische Terroristen mordend durch Paris ziehen. Sich vor dem Stade de France, während eines Freundschaftsspiels zwischen Frankreich und Deutschland, in die Luft sprengen. Das Kalaschnikow-Feuer auf Menschen eröffnen, die sich auf den Terrassen von Bars im 10. und 11. Arrondissement vergnügen. Im Bataclan-Theater ein Massaker unter den Besuchern eines Konzerts der Rockband Eagles of Death Metal anrichten. Die Attentäter töten mehr als 130 Menschen, verletzen viele Hunderte, traumatisieren eine Nation.
Im September 2021 soll ihnen der Prozess gemacht werden. Oder vielmehr ihren Helfern und Helfershelfern, denn acht der Mörder sind tot, nur Salah Abdeslam hat überlebt. Hat seine Sprengstoffweste nicht gezündet? War die Todesangst größer als die Mordlust? Oder hat er sich im letztmöglichen Augenblick gegen die Tat entschieden?
Regisseur Stephan Kimmig lässt einen Gerichtssaal ins Depot 1 bauen
In die Vorhalle des ehrwürdigen Palais de Justice auf der Île de la Cité hat man eigens für den Prozess eine fensterlose Sperrholzkiste gebaut, 45 Meter lang und 15 Meter breit. Hier sollen Überlebende und die Angehörigen der Ermordeten zu Wort kommen, hier soll kaum fassbares Leid juristisch penibel aufgearbeitet und am Ende „Gerechtigkeit und Recht das letzte Wort haben“, wie es die Staatsanwältin formuliert. Diese weiße Kiste, schreibt der französische Autor Emmanuel Carrère, nachdem er den Prozess für den „Nouvel Observateur“ zehn Monate lang beobachtet hat, erinnere ihn an eine Kirche, in der man „einen einzigartig geteilten Moment voller Entsetzen, Mitleid, Nähe und Präsenz“ erlebt habe.
Das könnte auch ein Theatererlebnis beschreiben. Bühnenbildner Oliver Helf hat Stephan Kimmig, einem der Top-Regisseure des deutschsprachigen Theaters, eine ebensolche Sperrholzkirche in das Depot 1 gebaut. Ob man nun auf der Tribüne, oder links und rechts auf den Bänken des provisorischen Gerichtssaals Platz nimmt, man wird selbst zum Prozessbeobachter, ist Teil der Verhandlung. Um diese Unmittelbarkeit geht es Kimmig.
Ein strenger Muslim, aber auch ein Partyboy, ein Fanatiker, der aber auch an seinem kleinen, beschaulichen Leben hängt.
Emmanuel Carrère gilt als Meister autofiktionalen Erzählens, er lässt Lesende die Welt durch seine Augen, mit seinen Urteilen wahrnehmen. In der Kölner Adaption der unter dem Titel „V13“ erschienenen Gerichtsreportage fehlt seine Stimme. Das Publikum füllt die Leerstelle des Autors, findet sich im Videobild auf hölzerner Leinwand inmitten des Geschehens wieder. Statt eines Ich-Erzählers sprechen Claude De Demo und Paul Grill. Sind Richter, Staatsanwälte, Verteidiger, Augenzeugen, Trauernde und Experten, selten Angeklagte – die Übergänge sind fließend, es geht um Intensität, weniger um Klarheit.
Salah Abdeslam, schreibt Carrère, wirke auf ihn „wie ein kleines Würstchen, das sich in seine Widersprüche verstrickt hat: ein strenger Muslim, aber auch ein Partyboy, ein Fanatiker, der aber auch an seinem kleinen, beschaulichen Leben hängt“. Eine kluge, kaltblütige Einschätzung. Im Depot 1 dagegen kochen die Emotionen hoch. Claude De Demo rüttelt einem Zuschauer am Knie, platzt im scharf anklagenden Ton fast vor Ungeduld ob der Justizmühlen. Paul Grill reckt als Angehöriger im Zeugenstand wutverzerrt die Arme. Gleich, fürchtet man, wird er sich mit Fäusten auf den Brustkorb trommeln. Patrick Jardin hat im Bataclan seine Tochter verloren. Sein Hass mag eine Sackgasse sein, muss man ihn deshalb auf der Bühne denunzieren?
Der Abend gewinnt freilich auch durch seine schmerzhafte Nähe. Etwa wenn De Demo, im Off stehend, zögerlich zur erschütternden Zeugenaussage ansetzt, wenn Grill zwischen seinen anverwandelten Figuren wie auftauchend innehält, wenn deren Berichte das Publikum direkt ins Schlachthaus des Bataclan, an die Tische des Belle Equipe versetzen, wenn von zerfetztem Fleisch, vom unerträglichen Geruch von Schießpulver und Blut die Rede ist. Da geht es weniger um die Schockwirkung als um das Nachempfinden eines Schocks, durch den ein Leben in zwei Hälften gerissen wird. Um das Trauma, das sich gegen die leidenschaftslose juristische Aufarbeitung sperrt.
Dann wird der Sperrholzraum trotz karger Einrichtung zum Kirchenschiff, und die Adaption des Prozesses zum Furcht und Mitleid erregenden Passionsspiel. Zu einer Art, wie es Dramaturgin Viola Köster formuliert, „Empathietraining“ in Sachen Verletzlichkeit. Die Aufbereitung der Terrornacht endet in einer Brasserie. Zeugen, Verteidiger, Staatsanwälte, selbst die zu kurzen Haftstrafen verurteilten „kleinen Fische“ feiern das Urteil, ordern flaschenweise Champagner. Hurra, die Zivilgesellschaft hat gewonnen! Doch etliche Wunden bleiben offen. Dieser immer mitreißende, manchmal allzu undifferenzierte Abend entlässt sein Publikum mit einem dicken Fragezeichen.

