Zehn Frauen über 70 legen beim Kölner Festival c/o pop auf. Mit dabei ist die 89-jährige Irmgard Schlösser - alias DJ Miss Crazy Irma.
Seniorinnen als DJsDie Show des Lebens geht immer weiter

Einige DJs von „Forever Fresh“ mit Mitgliedern des c/o-Pop-Festivals. In der Mitte die 89-jährige Irmgard Schlösser.
Copyright: Nadine Heller Menzel
„Ich möchte am Ende meines Lebens noch mal etwas Verrücktes machen“, sagt Irmgard Schlösser, bevor sie die Stufen zur Bühne hinaufsteigt und sich hinter dem üppigen Schaltpult aufbaut. Als junge Frau ist die 89-Jährige mit ihrem späteren Ehemann gerne zum Tanztee in die Flora gegangen und manchmal auch ins Café Kranzler in der Innenstadt. Jetzt steht sie in einer anderen Welt, den Katakomben des Kölner Clubs Bahnhof Ehrenfeld, und fängt als DJ von vorne an.
Irmgard, wie sie hier alle nennen, gehört zu den zehn Frauen ab 70, die einem Aufruf des Kölner c/o-Pop-Festivals gefolgt sind: „Lust auf Musik?“, stand auf dem Flyer und „Seniorinnen für kostenlose DJ-Ausbildung gesucht!“ Ein Flugblatt landete bei Werner Pusch, der in Bickenfeld den Seniorentreff der Arbeiterwohlfahrt betreute. Er dachte sofort an Schlösser. Zunächst habe sie sich geziert, erzählt diese, aber Werner habe die richtigen Worte gefunden: „Du bist doch eine Powerfrau.“
Die c/o Pop will den Graben zwischen den Generationen schließen
Als Kölner Kriegskind musste sie das wohl auch sein. 1945 war Schlösser zehn Jahre alt und wuchs in einer Trümmerlandschaft auf. „Das war nicht so schön, die Zeit damals“, sagt sie lapidar. Dann kamen Tanztee und das Wirtschaftswunder. In Bickendorf arbeitete Schlösser mit ihrem Mann in der eigenen Konditorei, sie zog drei Kinder auf und überlebte fünf ältere Geschwister. Im Workshop der c/o-Pop ist sie hingegen die Älteste. „Die anderen sind doch erst 70 oder 75“, sagt sie.
Die anderen, das sind Inge, Anne, Elisabeth oder Edeltraud, neun Frauen, die gemeinsam mit Irmgard im Club Bahnhof Ehrenfeld die letzte Stufe ihrer DJ-Grundausbildung absolvieren. Die Stimmung ist heiter und gelöst, dabei ist das hier kein Kaffeekränzchen. Am 26. April erleben die Workshop-Teilnehmerinnen ihre Feuertaufe vor Publikum, im großen Saal des Bürgerzentrums Ehrenfeld. Die c/o Pop erwartet 360 Gäste, ein volles Haus; vorher und nachher gibt es „normales“ Programm.
„Ich bin schon etwas nervös“, sagt Schlösser. „Was, wenn sich die jungen Leute fragen: Was will die Alte da?“ Der Gedanke ist nicht völlig abwegig. Der typische c/o-Pop-Besucher ist jünger als Irmgards Enkelinnen (die sind um die 30 Jahre alt) und dürfte Schlössers Lieblingsmusik allenfalls mit unterlegten Ironiesignalen konsumieren. Sie höre gerne deutsche Schlager, Roland Kaiser, Andrea Berg oder Helene Fischer, sagt sie. „Aber die bei der c/o Pop wollten lieber Power-Musik.“ Und so hat sich Irmgard für „Live is Life“ von Opus und Peter Schillings „Major Tom“ entschieden. Das gefalle ihr auch, beide Lieder sehen ja auf Deutsch: „Englisch habe ich leider nie gelernt.“ Abbas „Dancing Queen“ hätte sie gerne auch gespielt, aber das gab der Zeitrahmen nicht mehr her. Jede DJ hat neun Minuten für ihren Auftritt. Das sind drei Lieder, es sei denn, man sucht sich wie Irmgard zwei mit Überlänge aus.

Irmgard Schlösser alias Miss Crazy Irma
Copyright: Nadine Heller Menzel
Pia Leonhardt von der c/o Pop bereitet der Altersunterschied zwischen Publikum und den Nachwuchskünstlerinnen keine Sorgen. Sie leitet das „Forever Fresh“ getaufte Projekt und rechnet damit, dass am 26. April „die Hütte brennen wird“. Im Erfolgsfall sollen die Seniorinnen ins Booking-Programm des Pop-Festivals aufgenommen werden. Als Vorbild dafür dient die 86-jährige Wyrgiania Szmyt alias DJ Vika, die in ihrer Heimat Polen ein Star ist und regelmäßig in professionellen Clubs auflegt. Deswegen durchlaufen die „Forever Fresh“-Absolventinnen den kompletten PR-Fahrplan mit Fotositzung, Image-Beratung und Interviews für die geladene Presse. Auf ihren Werbebildern trägt Schlösser rosa Jacke, Rüschenhemd und Zylinder, halb kölsches Mädche, halb Zirkusdirektorin; ihr Künstlername lautet Miss Crazy Irma.
Äußerlich steht Irmgard ihrem drei Jahre jüngeren Vorbild kaum nach. Aber Wyrgiania Szmyt legt seit 25 Jahren auf und spielt anschlussfähige Musik. Dieses Feld überlässt Schlösser gerne den flippigen 70-Jährigen in ihrem Workshop. „Für mich ist der Auftritt eine einmalige Sache“, sagt sie. „Ich habe ja nur noch ein, zwei Jahre zu leben.“
Ich bewundere meine eigene Courage
Werner Pusch fährt Irmgard in seiner Freizeit zu den Workshops, schließlich hat er ihr die Sache eingebrockt, und Schlössers Kinder arbeiten während der DJ-Sitzungen. Pusch lobt, wie liebevoll die c/o-Pop-Mitarbeiterinnen auf die Frauen eingehen: „Das ist nicht von oben herab.“ Dieser Eindruck gilt nicht zuletzt für die professionelle DJ Sed(action), die den Frauen das Schaltpult erklärt. Vinyl-Platten werden hier nicht aufgelegt, die Musik kommt von USB-Stiften. Aber die Übergänge wollen geübt sein. „Da gibt es so viele Knöpfe zu drücken“, klagt Schlösser. „Aber die Seda hilft ja.“
„Ich bewundere meine eigene Courage“, sagt Irmgard lachend. Mit Pop-Musik und der Clubszene hatte sie in ihrem Leben kaum Berührungspunkte. Als Kind habe sich Klavier geübt, aber alles vergessen. Und die Konditorei habe einen Partykeller für 40 Gäste gehabt, da sei immer viel los gewesen. Ihre Kinder hätten zunächst gefragt: Bist Du verrückt? Ja, bin ich, war ihre Antwort. Oder eben: eine Powerfrau.
Man muss aktiv bleiben, sonst werde das mit dem Alter nichts, sagt Irmgard, die sich mit Gymnastik fit hält und das DJ-Programm wie eine willkommene Übung in geistiger und sozialer Fitness absolviert. Sie hat offensichtlich Spaß, auch wenn sie in den Musikpausen manchmal durchatmet: „Och, ist das plötzlich still hier“, sagt sie, als ‚I Was Made for Loving You‘ von Kiss verklingt. „Immer könnte ich mir das nicht anhören.“ Mit fünf anderen DJs aus dem Workshop trifft sie sich demnächst privat. Da ist die Frage, ob das Festival seinen Anspruch, die Sichtbarkeit von Seniorinnen in der Popkultur zu stärken, am Ende einlöst, im Grunde nebensächlich.
„Ich ziehe für den Auftritt die Flitterbluse an“, sagt Irmgard noch. Und dass sie wie bei den Proben ohne Stock und Rollator auf die Bühne gehen wolle. „Das ist besser.“ Die Show des Lebens muss weitergehen.
Das Kölner Festival c/o Pop läuft 2025 vom 23. bis 27. April mit zahlreichen Konzerten. Die Veranstaltung „Forever Fresh - Ü70 DJ-Newcomer-Kollektiv“ findet am 26. April von 21 bis 22.30 Uhr im Bürgerzentrum Ehrenfeld statt.