Deutschlands bekanntester Entertainer ist krank. Es wird Zeit, dass auch die Glitzerwelt Unperfektheiten akzeptiert.
KrebserkrankungGnade mit Gottschalk – Mehr Liebe, weniger Häme!


Cher wird von Thomas Gottschalk umarmt, nachdem sie einen BAMBI in der Kategorie Legende, während der 77. Bambi-Verleihung in den Bavaria Filmstudios erhalten hat.
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Thomas Gottschalk ist krank. Das ist Privatsache. Einerseits. Andererseits ist so gut wie nichts Privatsache, wenn man Deutschlands bekanntester Entertainer ist. Seine Krebserkrankung erklärt, warum er bei seinen jüngsten Auftritten nicht er selbst war. Er trat dennoch auf, sagt er, weil Pflichterfüllung in dieser Generation keine Frage von Tagesform und Laune ist.
So ist er. Er kann nicht anders. Ein alterndes Zirkuspferd rappelt sich auf und dreht sich im Staub der Sägespäne, wenn das Licht angeht. Das verdient Respekt, auch wenn man ihm den Mut gewünscht hätte, sich früher auf seine Genesung zu konzentrieren. Gleichzeitig macht es die Erbarmungslosigkeit, mit der viele Zuschauer seine irritierenden Einwürfe zuvor mit Spott und Häme überzogen hatten, noch erschreckender.
Die Gesellschaft ist noch immer unerbittlich
Ein Mann von 75 Jahren bringt - auch ohne Krebs - nicht mehr dieselbe geistige und körperliche Spannkraft auf wie ein 30-Jähriger. So ist das Leben. Schwäche und nachlassende Kraft gehören zum Menschsein. Dem alternden Gottschalk aber, dem „göttlichen Bub“ (Martin Walser), dem einst so strahlenden und kumpeligen „Thommy“, in dessen Hirn „permanent eine Rasterfahndung nach dem nächsten Gag abläuft“ (Günther Jauch), verweigerten die Zuschauer seit Jahren die Gnade der Nachsicht.
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Warum? Weil sie übel nahmen, dass auch diese blonde Heilandsgestalt im offensiven Operettenkostüm, dieser ewig jugendliche Held in die Jahre kam. Und weil die hypersensible Gegenwart, die sich so gern achtsam, maximal tolerant und offen für Vielfalt gibt, in Wahrheit noch immer unerbittlich ist, wenn es um Alter, Schwächen oder Krisen geht. Unperfektheiten haben keinen Platz im öffentlichen Leben. Fragen Sie mal den nuschelnden Til Schweiger.

So kennt ihn die Nation: Entertainer Thomas Gottschalk in schrillen Anzügen als Moderator der ZDF-Show „Wetten, dass..?“.
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Schon wer mit Akzent spricht, wird schnell belächelt
Kein Moderator sitzt im Rollstuhl. Kein Nachrichtensprecher ist blind. Schon wer mit Akzent spricht, wird schnell belächelt. Nicht wenige alternde Schauspielerinnen verschwinden einfach, weil es keine Rollen mehr für sie gibt. Zwar geben viele Prominente Auskunft über überstandene Depressionen und Lebenskrisen - aber erst in der Retrospektive. Sicht- und hörbare Normabweichungen verzeiht die Glitzerwelt nicht. Schon gar nicht bei einem, der so hell strahlte wie Gottschalk.
Das Publikum ist in dieser Frage gnadenlos: Zwar wirkt nur wenig so wohltuend auf Normalverbraucher wie die Erkenntnis, dass auch die Erfolgreichen, die Schönen und Schillernden als ganz normale Menschen der Unerbittlichkeit des Schicksals unterworfen sind. Aber sie mögen sich bitte hüten, in unperfektem Zustand öffentlich aufzutreten. Alte Moderatoren? Unzumutbar!
Massenhafte Lästereien
Gottschalk weiß das. Und es hielt ihn davon ab, seinen Krebs früher öffentlich zu machen. Das ist bitter. Wie grausam muss es auch für seine Familie gewesen sein, die massenhaften Lästereien und Beleidigungen zu hören, Gottschalks Unsicherheiten zu sehen - und zu wissen, was ihre Ursache ist.
Robert Enke behielt seine Depressionen 2009 für sich - auch aus Angst, dass die Krankheit ihn die Karriere kosten könnte. Am Ende kostete sie ihn das Leben. Hat sich seither etwas verändert? Zweifelhaft. Das gereizte, überspannte Land schießt befeuert von klickversessenen Boulevardmedien sofort auf jeden, der Anomalien zeigt.
Das Alter, hat Gottschalk noch vor wenigen Jahren eisern behauptet, gehe bei ihm „nicht mit Ernst, Verzweiflung und Degeneration einher“. Es sei zwar „eine narzisstische Kränkung“, aber es passiere eben allen. „Und das tröstet mich.“
Er wollte doch immer nur der Spaßonkel sein
Nun haben Ernst und Verzweiflung des Lebens auch ihn ereilt. Das durfte nicht sein, er wollte doch immer nur der Spaßonkel sein. „Ich bin kein Journalist und kein Moralist“, hat er mal gesagt. „Ich bringe Stimmung in die Angelegenheit.“ Krebs jedoch ist kein Gute-Laune-Thema. Es passt nicht zu Gottschalk. Schon vor Längerem hatte er damit zu kokettieren begonnen, dem Zeitgeist nicht mehr zu entsprechen. Als aus der Zeit gefallenen, nicht mehr trittsicheren Retro-Helden aber wollte das Land ihn nicht sehen.
Vor Jahren stellte sich Rudi Carrell mit dünner Fistelstimme als sterbende Legende vor ein weinendes Publikum. Es ist legitim, dass Gottschalk so lange wie nur irgend möglich seinem alten Image zu entsprechen versuchte. Aber es könnte dieser Gesellschaft mächtig guttun, zu erkennen, dass jedes Leben auch Unpässlichkeiten und Imperfektionen vorsieht, die jene, die es führen, nicht weniger wertvoll machen - so wie den neuen, langsameren, ganz normal gealterten, hilfebedürftigen Thomas Gottschalk.
Am Sonnabend wird er seinen Fernsehabschied feiern. Was er braucht, ist mehr Liebe und weniger Häme. So wie wir alle.
