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Picky Eater-SyndromDer zehnjährige Finn aß jahrelang nur Brot

Lesezeit 4 Minuten
Aß jahrelang nur Brot: Finn (10) mit seiner Mutter Ivonne Reinke.

Aß jahrelang nur Brot: Finn (10) mit seiner Mutter Ivonne Reinke.

Was mittags auf den Tisch kommt, ist in vielen jungen Familien ein Dauerthema. Zahlreiche Kinder neigen dazu, beim Essen wählerisch zu sein. Manchmal steckt aber auch eine ernsthafte Fütter- und Essstörung dahinter. Finn (10) aus Schlewswig-Holstein war davon betroffen.

Das Leiden von Finn Reinke (10) aus Laboe an der Kieler Förde begann schon auf der Krabbeldecke. Das sagt seine Mutter Ivonne (49) heute. Finn litt jahrelang an einer Fütter- und Essstörung. Die Wende kam für die Familie nach einem therapeutischen Aufenthalt in Österreich.

Es war die Krabbelgruppe, in der Ivonne Reinke zum ersten Mal ahnte, dass ihr Kind anders ist als andere Babys. „Mit einer Zielsicherheit krabbelte Finn um alles herum, was essbar ist“, erzählt sie.

Während sich die anderen Kinder jede Hirse-Stange auf der Decke reflexartig in den Mund steckten, mied ihr Sohn alles, was verdaulich war. Er mochte nicht kuscheln. Er spielte nur mit Dingen, die fest und nicht breiig waren.

„Matschen fand er immer doof. Mit Fingerfarben konnte er auch nichts anfangen.“ Heute steht Finn manchmal mit seinem jüngeren Bruder Peer (8) knietief im Ostseewasser und buddelt im Schlick Häfen für Schiffe.

Picky Eater: Nach dem Stillen aß Finn aus Laboe nur fein pürierten Hafer-Bananen-Brei

Bis dahin war es für die vierköpfige Familie aus Laboe ein weiter Weg. Nach der Stillzeit aß Finn einen Hafer-Bananen-Brei. Nur den. Der Brei musste ganz fein püriert werden. „Sobald ein kleines Stückchen drin war, hat er es wieder ausgespuckt.“

Das änderte sich auch nicht, als Finn ein Jahr alt wurde. Auch nicht, als er kein Baby mehr war und seinen zweiten Geburtstag feierte. Da war der Pürierstab längst ein treuer Begleiter der Familie. „Das war eine sehr anstrengende Zeit“, erinnert sich Ivonne Reinke.

Als Finn zwei Jahre alt war, sollte sich etwas ändern. Den entscheidenden Anstoß gab die damalige Kinderärztin der Familie. „Wir hatten Glück, dass wir mit unserer Situation von der Ärztin sehr ernst genommen wurden.“

Wir hatten Glück, dass wir mit unserer Situation von der Ärztin sehr ernst genommen wurden
Ivonne Reinke

Für Ivonne Reinke war das nicht selbstverständlich. „Die Annahme, dass wählerisches Essen bei Kindern ein Erziehungsfehler ist, ist leider sehr verbreitet“, sagt die Laboerin. Sie hörte in ihrem Umfeld Sätze wie „Kein Kind verhungert am gedeckten Tisch.“ Ihr eigener Eindruck war: doch. „Essen war für Finn nicht zwingend notwendig.“

Die Kinderärztin recherchierte in ihrem Netzwerk und empfahl der Familie das Werner-Otto-Institut in Hamburg – ein sozialpädiatrisches Zentrum im evangelischen Krankenhaus Alsterdorf in Hamburg. Dort gibt es eine spezialisierte Abteilung für Fütter- und Essstörungen.

„Erst mit ihrer Hilfe haben wir den großen Sprung zum Mody-Brot geschafft“, erzählt Ivonne Reinke. Das Mody-Brot ist nach Finns Therapeutin Heike Mody benannt, die bei ihm mundmotorische und sensorische Einschränkungen feststellte. Es ist ein geschichtetes Körnerbrot mit Butter, Apfel- und Mandelmus und einem Pfannkuchen obendrauf.

Massagen um den Mund herum, Übungen mit dem Strohhalm, Singen und das Spielen mit einer elektrischen Zahnbürste im Mund waren die ersten Schritte, um seine Essgewohnheiten zu verbessern. Später traute sich Finn, einzelne trockene Reiskörner oder Nudeln in den Mund zu stecken.

Und dann die Erkenntnis: Finn leidet unter dem Picky-Eater-Syndrom

„Alleine hätten wir das niemals geschafft“, erzählt Ivonne Reinke. Der Aufwand war enorm. Einmal in der Woche fuhr sie mit Finn von Laboe nach Hamburg. Ein ganzer Tag ging dafür drauf. Aber es gab Fortschritte. Und die Erkenntnis: Finn leidet am Picky-Eater-Syndrom.

Über eine Stellungnahme des Werner-Otto-Instituts gelangte Ivonne Reinke an eine Esslernschule in Graz. Finn war damals fünf Jahre alt. Zwei Wochen sollte der Aufenthalt für die ganze Familie dauern. Aber Ivonne Reinke wusste, dass sie es wagen mussten. „Ich wollte mir später nicht sagen lassen, dass ich nicht alles versucht habe.“

In Graz wurden die Essgewohnheiten der Familie auf den Kopf gestellt. „Die nehmen erst mal alle Fehler aus dem System.“ Klar, dass Finn mit seinem Mody-Brot viel Aufmerksamkeit bekam. Und: „Wir haben ewig gewartet, bis das Kind gegessen hat.“

Finn lernte spielerisch, dass man aus Gurkenscheiben Autoreifen bauen und aus Pommes frites Bilder legen kann. Spielmais und Esspapier wurden zur täglichen Routine. Zwei Tage lang durfte Finn essen, was er wollte. Dann wurde es ernst.

Nach dem Aufenthalt in der Esslernschule gab es noch eine „Kampfphase“

Das Mody-Brot musste abgegeben werden. Die Ärzte und das gesamte Team übernahmen die Verantwortung. Die Regel lautete: Erst eine Nudel, dann das sichere Essen, um satt zu werden. „Finn hat getobt und fast die Möbel zerlegt. Das war ein richtiger Kampf.“

Heute isst Finn fast normal. Der Weg dahin war schwer. Nach dem Aufenthalt in der Esslernschule wartete auf die Familie in Laboe noch harte Arbeit unter therapeutischer Aufsicht einer Online-Betreuung aus Graz. Vier Monate „Kampfphase“, wie es Ivonne Reinke nennt.

Nach Reis, Nudeln und Pommes frites kam die Birne. Erst anfassen, dann aufschneiden, die nasse Seite berühren, in den Mund legen, zwischen die Zähne. Irgendwann kauen und schlucken. Jeder einzelne Schritt eine Anstrengung von mehreren Wochen. „Wenn man etwas verändern will, geht das nur in kleinen Schritten“, weiß Ivonne Reinke heute. Doch irgendwann kam der große Wendepunkt.

Finn wollte im Matsch spielen, Finn ließ sich kuscheln. Er probierte weitere Leckereien und entwickelte ein neues Lieblingsgericht, das das Mody-Brot für immer ablöste: paniertes Hähnchenschnitzel mit Blumenkohl und Kartoffeln. Auch die Hirsestängel von der Krabbeldecke würde Finn heute nicht mehr ablehnen.

Dieser Artikel erschien erstmals in den „Kieler Nachrichten“ – Partner im RedaktionsNetzwerk Deutschland. (RND)