Die Evangelische Kirche im Rheinland bittet ehemalige Internatsschüler um Mithilfe bei einer Studie zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt.
Evangelische Kirche im RheinlandBetroffene von sexuellem Missbrauch in Internaten für Studie gesucht

Die rheinische Kirchenleitung lässt eine unabhängige wissenschaftliche Untersuchung zu sexualisierter Gewalt in den evangelischen Internaten durchführen.
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Die Evangelische Kirche im Rheinland (EKiR) weitet ihre Aufarbeitung des Missbrauchsskandals aus. Wie die Kirchenleitung mitteilt, soll es 2026 eine unabhängige Studie zu sexualisierter Gewalt in den Internaten im Bereich der rheinischen Kirche geben.
Verantwortlich sind die Historiker Daniel Gerster und Klaus Große Kracht von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Mit deren im Februar verstorbenen Direktor Thomas Großbölting, der zunächst als Autor angefragt war, haben beide eng zusammengearbeitet.
Vertraulichkeit zugesichert
In einem am Montag veröffentlichten Aufruf bitten die Wissenschaftler und die Kirche um die Unterstützung von Betroffenen sowie von Zeitzeugen. Aus Historiker-Perspektive besteht die Schwierigkeit nach Gersters Worten in der Aktenlage. „Nach vielen Trägerwechseln und Schließungen der Einrichtungen vor langer Zeit wird es nicht einfach sein, verlässliches und umfassendes Material zu bekommen“, sagte er dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Ziel der Studie ist nach Gersters Worten, „Fälle sexualisierter Gewalt in evangelischen Internaten in Umfang und Häufigkeit zu erfassen und aufzudecken, welche Personen und Strukturen die Gewalt ermöglicht haben“. Neben den Mitteilungen von Betroffenen würden die Akten der Kirche und der Träger ausgewertet. Allen Auskunftswilligen sichern die Forscher Vertraulichkeit und die Verarbeitung ihrer Aussagen in anonymisierter Form zu.
Die Forschung richtet sich nach Angaben der Kirchenleitung auf die evangelischen Internate, Alumnate und Schülerheime in Bad Godesberg, Burscheid, Dierdorf, Herchen, Hilden, Kaiserswerth, Meisenheim, Neukirchen-Vluyn, Neuss und Traben-Trarbach. Einbezogen ist auch das Wohnheim des Jung-Stilling-Instituts im westfälischen Espelkamp-Mittwald, das gemeinsam von der rheinischen und westfälischen Kirche getragen wurde. Gerster begrüßte es, dass die Kirche selbst die Initiative ergriffen habe, auch oder gerade weil bislang nur aus einer geringen Zahl der Internate Missbrauchsfälle bekannt seien. „Hier größere Klarheit zu gewinnen und zugleich missbrauchsbegünstigende Strukturen aufzudecken, ist ein wichtiges Ziel.“
Die Einrichtungen wurden überwiegend Mitte der 1950er Jahren eröffnet und – teils nach Trägerwechseln – zumeist in den 1970 und danach in den 2000er/2010er Jahren wieder geschlossen. Heute unterhält die rheinische Kirche keine Internate mehr.
Aus mehreren Häusern sind Missbrauchsfälle bekannt
Aus zwei der genannten ehemaligen Häuser, dem in Traben-Trarbach und dem in Hilden, sind nach den Worten von Oberkirchenrätin Henrike Tetz, Leiterin der Abteilung Bildung und Diakonie, bereits Missbrauchsfälle oder Verdachtsmomente einschlägig. Nun würden weitere Betroffene gesucht, die bereit sind, über Erfahrungen Auskunft zu geben – sei es mündlich oder schriftlich. „Wir sind darüber hinaus auch an allgemeinen Erinnerungen von Zeitzeuginnen und -zeugen an die Internatszeit interessiert, um den gesellschaftlichen und atmosphärischen Kontext zu erhellen“, so Tetz. Zudem soll es im Sinne einer verbesserten Prävention darum gehen, „Machtstrukturen und Gewaltkonstellationen“ kritisch zu beleuchten. Die Kosten der auf ein Jahr angelegten Studie, komplett finanziert aus Haushaltsmitteln, gibt die Kirche mit einem niedrigen sechsstelligen Betrag an.
Der Auftrag zu der neuen Untersuchung ist nach Angaben der EKiR auch Folge einer entsprechenden Pilotstudie zum früheren Schülerheim Martinstift in Moers, die 2023 veröffentlicht wurde. „Die bedrückenden Ergebnisse verstehen wir als Auftrag, alle evangelischen Internate, die es auf dem Gebiet unserer rheinischen Kirche gegeben hat, in den Blick zu nehmen“, sagte Vizepräses Antje Menn. Sie ist in der Kirchenleitung für das Thema sexualisierte Gewalt zuständig. „Mit der neu beauftragten Studie, die auch die Perspektive von Betroffenen einbezieht, stellen wir uns institutionellem Versagen und Machtmissbrauch im Kontext unserer Internate. Wir sind den Betroffenen Aufklärung und Aufarbeitung schuldig.“
Kontaktmöglichkeiten für Betroffene und Zeitzeugen
Ansprechstelle für den Umgang mit Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung der Evangelischen Kirche im Rheinland,
Claudia Paul,
Telefon: 0211 4562-391
E-Mail an: claudia.paul@ekir.de
Externe Beratungsstelle Weißer Ring
www.weisser-ring.de