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Interview

Kölner Schriftsteller Navid Kermani
„Politik hat sehr viel mit Liebe zu tun“

10 min
11.03.2025, Köln: Treffen zwischen Erzbischof Jacques Mourad (kath. Kirche in Syrien) und dem Schriftsteller Navid Kermani im Erzbischöflichen Generalvikariat.
Im Bild v.l.n.r. Navid Kermani.

Foto: Michael Bause

Navid Kermani

Der Kölner Schriftsteller Navid Kermani erklärt, was ihm in Krisenzeiten Hoffnung macht, und wann das Ende des Westens begonnen hat. 

Herr Kermani, in diesen Zeiten veröffentlichen Sie ein Buch über „Politik und Liebe“. Da muss man erstmal drauf kommen! Wo ist für Sie das verbindende Moment?

Navid Kermani: In einer Zeit, in der viele nur Kriege und den Aufstieg des Extremismus wahrnehmen, wollte ich nicht ebenfalls nur meine Sorge oder Verzweiflung teilen. Davon lese ich ja gerade selbst schon überall. Ich hatte das Gefühl, dass ich einen Kontrapunkt setzen sollte, indem ich formuliere, wofür sich politischer Einsatz lohnt.

Dabei lesen sich Ihre Reden aus jüngerer Zeit eher wie Unheilsprophetie.

Ja, ich kann nicht die Situation schönreden, wenn ich allein an die Kriege im Sudan, in Gaza, in der Ukraine denke, an die Entwicklung in den USA unter Donald Trump oder auch an den Klimawandel und den völligen Stopp amerikanischer Entwicklungshilfe von einem auf den anderen Tag, was Millionen Menschen vor allem in den Ländern Afrikas das Leben kosten wird. Aber am Anfang und am Ende stehen dann zwei ganz andersartige Texte.

Ein Brief an Ihre jüngere Tochter zum 18. Geburtstag und die Hochzeitsrede für Ihre ältere Tochter.

Ja, und da gehört es quasi zur Sprecherposition, Hoffnung zu vermitteln. Der Aufgabe musste ich mich stellen. Man kann da ja schlecht Trübsal blasen. Aber irgendwem etwas vormachen oder die Wirklichkeit beschönigen wollte ich auch nicht. So entstand die Kombination „Politik und Liebe“, die so fremd eigentlich gar nicht ist, im Gegenteil: Politik hat natürlicherweise sehr viel mit Liebe zu tun.

18.03.2025, Köln: Der Schriftsteller Navid Kermani am Ebertplatz.

Foto: Michael Bause

Navid Kermani

Inwiefern?

Es fängt schon damit an, dass jede Beziehung eine politische Seite hat. Wir definieren und führen unsere Beziehungen heute anders als vor 20 Jahren. Nicht nur, was Geschlechtervielfalt oder kulturelle Diversität angeht, sondern auch in der Art, wie wir Mann und Frau sind, Frau und Frau oder Mann und Mann. Damit sind wir, auch wenn wir privat fühlen, immer auch politische Wesen, bis in die intimsten Situationen hinein. Und wenn man, wie ich es am Anfang und am Ende des Buches tue, von wichtigen Ereignissen im Leben der eigenen Kinder her auf die Welt blickt, dann denkt man in gewisser Weise von der Liebe aus in die Politik.

Meine Generation hat sehr viel verspielt.
Navid Kermani

Vom Vaterstolz her gedacht, mag es verständlich sein, dass Sie sagen, Sie setzten Ihre Hoffnung auf die Jugend. Aber was macht Ihre Hoffnung auf die junge Generation aus?

Dass sie eine andere Notwendigkeit als wir spürt, sich einzusetzen. Speziell meine eigene Generation hat sehr viel verspielt, wenn ich nur an die ökologische Krise denke oder an das Projekt der europäischen Einigung. Das haben wir so nachrangig behandelt, dass sich heute in Brüssel die einzelnen Nationalismen gegenseitig blockieren. Oder denken Sie an die jüngsten Bildungsstudien, die noch dramatischer ausfallen, als man befürchten musste. Es ist ein absolutes Versagen, dass in einem so reichen, entwickelten Land wie Deutschland immer mehr Kinder die Schulen verlassen ohne die elementarsten Kenntnisse des Lesens oder der Mathematik.

Und wer ist dafür verantwortlich? Doch nicht sie selbst, ...

... sondern unsere Generation! Das ist langfristig – also für deren Leben, nicht so sehr für unseres – auch für die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands und die Zukunft der Demokratie verheerend. Oder erinnern Sie sich daran, wie nachrangig unsere Gesellschaft Kinder und Jugendliche während der Corona-Krise behandelt hat: Shopping-Mall und Baumärkte wären längst wieder offen, selbst die Fußball-Bundesliga hatte wieder Betrieb, da waren die Schulen immer noch zu. Darin drückte sich ja auch eine Wertigkeit aus. Oder die gigantischen Schulden, die wir für unsere fehlgeleitete, kurzfristig gedachte Politik aufnehmen müssen, die Renten, die für die Jüngeren kaum noch zu finanzieren sind. Und das sind jetzt nur einige wenige Beispiele von vielen. Natürlich sind die Möglichkeiten für die nachfolgende Generation damit, anders als für meine eigene, extrem begrenzt.

Der intuitive Glaube an einen Fortschritt ist dahin?

Ja, an ein Leben in materieller und politischer Sicherheit. Aber zugleich sehe ich, zumal wenn ich über Deutschland hinausblicke: Überall sind es ganz junge Menschen, die etwas in Bewegung bringen. Nicht nur jüngst auf Madagaskar, auch in vielen anderen afrikanischen Ländern, in der Türkei, in Iran, in der arabischen Welt, im Libanon, auch in Israel, jetzt gerade in Indonesien, Nepal oder in Serbien. Die junge Generation dort ist getrieben von dem Eindruck, dass ihr die Zukunft gestohlen wird. Und ich finde, sie hat allen Grund dazu.

Im Gegensatz zu unserer Generation?

Jedenfalls in Westeuropa haben wir – was historisch ziemlich einmalig ist – von der Geburt an immer nur in Frieden und Sicherheit erlebt, mit einer großen sozialen Absicherung, mit Europa als Geschenk. Aber auch mit Schulen ohne dauernden Unterrichtsausfall und ohne digitale Medien als Aufmerksamkeitskillern.Wir hatten kaum Verzweiflungsdruck. Das hat dazu geführt, dass wir wenig Antrieb hatten, Dinge grundlegend zu verändern, für etwas einzustehen, Opfer zu bringen.

Wir gehen alle zusammen unter, oder wir werden zusammen überleben.
Navid Kermani

Das soll jetzt anders sein?

Es ist immer sehr schwer, pauschal über junge Menschen zu sprechen. Aber gerade, wenn ich über Europa hinausblicke, erlebe ich sie viel beweglicher im Denken, viel unverkrampfter als uns damals. Gerade in den Krisengebieten sind es junge Menschen, die wissen: Es gibt sehr vieles, was uns über alles Trennende hinweg miteinander verbindet. Mit den alten Schablonen verspielen wir alle zusammen unsere Zukunft. Denken Sie nur an die Katastrophe, die sich vor unseren Augen im Nahen Osten abspielt. Ob junge Menschen während des Krieges unter Lebensgefahr in Gaza gegen die Hamas protestiert haben, in Iran sich gegen die religiöse Herrschaft auflehnen, in Syrien oder Libanon die Werte der demokratischen Revolution hochhalten, in der Türkei für Veränderungen streiten oder in Israel für ein Ende des Krieges auf die Straße gegangen sind oder den Wehrdienst verweigert haben – letztlich sind sie von der Erkenntnis getrieben:  Wir gehen alle zusammen unter, oder wir werden zusammen überleben.

Aber die Herrschaft liegt bei Leuten wie Benjamin Netanjahu, Donald Trump, Recep Tayyip Erdogan, Wladimir Putin, die alles dafür tun, heute schon die Saat zu legen für die Konflikte von morgen.

Das ist so – und gerade mit Blick auf die USA ist das schrecklich genug. Da bricht gerade eine Welt, wie wir sie kannten, zusammen. Ich will die Vergangenheit nicht romantisieren. Amerika hat immer knallharte Interessenpolitik betrieben. Aber der große Unterschied war: Es gab Werte, an die man appellieren konnte, die ein Ideal und Maßstab waren. Dieses emanzipatorische Versprechen, auch wenn es insbesondere nach außen hin immer wieder gebrochen wurde, machte die große Anziehung des Westens aus. Das war im Wettstreit der Systeme und Großmächte unser größtes Kapital, und zumindest nach innen sind oder waren die Freiheit, die Rechtsstaatlichkeit, die Demokratie ja nicht nur Chimären, sondern real, jedenfalls im Vergleich mit anderen Systemen und Regionen. Was jetzt passiert, und nicht erst seit Trump: Es gibt gar keine Werte mehr, die der Westen verraten könnte.

Als Europäer sind wir inzwischen sehr, sehr allein.
Navid Kermani

Wie meinen Sie das?

Wenn jetzt der Aggressor Russland belohnt wird und das Kriegsopfer, also die Ukraine, in einen desolaten Frieden gezwungen wird; wenn der amerikanische Präsident über Monate offen von der Deportation und Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung spricht und der Krieg erst endet, nachdem Gaza in ein totales Trümmerfeld verwandelt worden ist, ohne dass man irgendeine reale Perspektive für den Wiederaufbau oder gar die Selbstbestimmung der Palästinenser sieht; wenn die USA in ihrer neuen Sicherheitsstrategie Europa praktisch zum Feind erklären und sich das Ziel setzen, mit all ihren Mitteln und nicht zuletzt dem Einfluss ihrer Tech-Konzerne überall nationalistische Parteien an die Macht zu bringen, also in Deutschland konkret die AfD; wenn Völkerrecht für irrelevant erklärt wird, nicht zuletzt von unserem eigenen Bundeskanzler – dann leben wir in einer neuen Weltordnung, in der nur noch das Recht das Stärkeren zählt.

Für die Zukunft des Westens …

… ist das fatal. Denn als autoritäre, ausschließlich interessegeleitete Großmacht hat China dem Rest der Welt mehr zu bieten als ein Amerika, das extrem arrogant auftritt, mit der Ukraine seinen eigenen Verbündeten verrät, aber sich gleichzeitig von Putin an der Nase herumführen lässt. Dazu der Rückzug aus den Teilen der Welt, wo es nichts auf die Schnelle zu holen gibt. Wenn wir hinschauen würden, würden wir sehen, dass China überall auf der Welt massiv an Einfluss gewonnen hat, ohne einen einzigen Krieg zu führen, ohne einen einzigen Soldaten zu verlieren – durch knallharte Interessenpolitik einerseits, aber auch durch westliches Desinteresse andererseits, etwa auf dem afrikanischen Kontinent. Und als Europäer, die noch dagegenzuhalten versuchen, sind wir inzwischen sehr, sehr allein.

Unzählige Menschen haben den Respekt vor dem Westen verloren - nicht nur wegen seiner Schwäche, sondern auch wegen der offensichtlich doppelten Standards.
Navid Kermani

Wenn Sie sagen, das sei nicht erst seit Trump so – wann hat es begonnen, das Ende des Westens?

Symptomatisch für mich waren die Bilder vom Flughafen Kabul im August 2021 mit den Menschen, die sich verzweifelt an die amerikanischen Flugzeuge klammern: Der Westen hatte genug von Afghanistan, floh Hals über Kopf und überließ das Land den Taliban. Das war ein Moment, in dem klar wurde: Der Westen gibt den Anspruch auf, eine Ordnungsmacht zu sein. Unzählige Menschen, aber auch viele Regierungschefs in der ganzen Welt haben durch die Flucht des Westens und die gebrochenen Versprechen den Respekt vor dem Westen verloren, insbesondere im Globalen Süden. Das hat sich während des Gaza-Krieges noch weiter verschärft. Nicht nur wegen seiner Schwäche haben viele den Respekt vor dem Westen verloren, sondern auch wegen der so offensichtlich doppelten Standards und der gebrochenen Versprechen gegenüber den Afghanen. Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ein halbes Jahr später hatte viel damit zu tun.

Wieso?

Putin hat die Ukraine überfallen, weil er vom Westen keine Gegenwehr mehr erwartete – einem Westen, der so erbärmlich die Flucht aus Kabul ergriff, nachdem er hinter dem Rücken der gewählten Regierung ein Abkommen mit den Taliban vereinbart hatte, die gegen alles stehen, wofür der Westen angeblich eintritt. Und das Abkommen wurde wohlgemerkt von Joe Biden umgesetzt, nicht von Donald Trump, und es waren im Gefolge auch wir Europäer, wir Deutschen, die genauso kopflos, rücksichtslos agierten, indem sie gleichsam über Nacht alles aufgaben, wofür wir und insbesondere die Soldaten der Bundeswehr mit ihrem Leben über Jahre eingestanden waren. Wer soll uns noch glauben, wenn wir von Frauenrechten sprechen? Und wer hat von der Flucht des Westens profitiert? Wer wird – kampflos - die wertvollen Bodenschätze Afghanistans ausbeuten, die Seltenen Erden, das Lithium und so weiter, worum es dem Westen natürlich auch ging? Natürlich China.

Was wir am Westen hatten, das werden wir merken, wenn es ihn nicht mehr gibt.
Navid Kermani

Der Westen hat doch Gegenwehr in der Ukraine geleistet – und tut es noch mit seiner Unterstützung für das Militär.

Das stimmt. Anfangs schien sich Putin verkalkuliert zu haben, der Westen raufte sich – nicht zuletzt dank Joe Biden - zusammen. Aber inzwischen sehen wir, dass Putins Kalkül doch aufgeht, weil er die Geduld hatte, auf die Veränderungen in Amerika zu warten, die sich damals bereits abzeichneten. Putin wird für seinen Angriffskrieg belohnt! In den Bildern der Menschen, die sich in Kabul an die abhebenden amerikanischen Flugzeuge klammerten, lag eine Prophezeiung: Was wir am Westen hatten, das werden wir merken, wenn es ihn nicht mehr gibt. Heute sehen wir es im Nahen Osten, im Sudan, in der Ukraine – das sind alles Kriege, die in die Länge gezogen wurden oder die sogar verloren gehen können, weil sich der Westen als Ordnungsmacht und zivilisatorisches Projekt aufgibt.

Was wird aus Deutschland nach dem „Ende des Westens“?

Ich hoffe – wahrscheinlich vergeblich – auf einen echten Schub für die europäische Einigung. Wir müssten doch spätestens jetzt erkennen, dass wir auf uns selbst gestellt sind und unsere Interessen nur gemeinsam als Europäer vertreten können, weil wir als Deutsche, Franzosen, Spanier, Briten einfach zu wenige sind, um gegen China, Amerika, Indien oder Russland zu bestehen. Das begreiflich zu machen, ist angesichts von Trump sicherlich leichter als zu einer Zeit, in der Amerika allen gemeinsam Schutz bot und dafür die Führung übernahm. Auch die Anhänger einer Marine Le Pen in Frankreich, eines Viktor Orban in Ungarn oder bei uns der AfD könnten erkennen, dass Trump - so sehr sie ihn persönlich bewundern mögen - mit seiner Politik den nationalen Interessen schadet. Die Zölle, die er uns auferlegt, ohne dass wir uns wehren können, sind nur ein Beispiel von vielen. Und vielleicht begreifen ja auch immer mehr Menschen, dass es am Ende viel angenehmer ist, in Europa zu leben als im Amerika der Tech-Milliardäre, in Putins Russland oder Xi Jinpings China. Es ist das „europäische Lebensmodell“, das sich in der Konkurrenz als attraktiver erweisen muss und erweisen kann.

Vieles von der Attraktivität dieses Lebensmodells geben Sie auch Ihren Töchtern mit auf den Weg – ins Erwachsenendasein oder in die Ehe. Haben Sie bei diesen sehr persönlichen Texten von Anfang an eine Veröffentlichung mitgedacht?

Nein. Es gab erst danach einen Moment, in dem ich plötzlich dieses Buch vor Augen sah. Mit der Klammer dieser beiden Texte, merkte ich plötzlich, könnte aus Gedanken zu verschiedenen aktuellen Konflikten ein stimmiges Buch werden. Ohne eine umfassende These, aber mit einem roten Faden: dem Nachdenken über unsere Zukunft. Ich habe dann meine Töchter und meinen Schwiegersohn gefragt, ob ich diese Texte veröffentlichen dürfe. Und sie haben gesagt: Mach ruhig! Auch andere sollen das lesen.

Weil sie dann doch noch Hoffnung haben?

Natürlich haben sie Hoffnung. Sie und ich haben jedenfalls Hoffnung, sonst würden wir uns nicht weiter bemühen.


Zur Person & zum Buch

Navid Kermani, geb. 1967 in Siegen, ist Orientalist, Essayist, Reporter und Romanautor. Er lebt in Köln. Für sein schriftstellerisches Werk wurde er vielfach ausgezeichnet. Zuletzt widmete ihm die Konrad-Adenauer-Stiftung ihre „Hommage für herausragende Persönlichkeiten der deutschsprachigen Kultur“.

In seiner Dankesrede sprach Kermani über Konrad Adenauer und desssen Vermächtnis für die Gegenwart. Dieser Text ist am 11. Dezember im „Kölner Stadt-Anzeiger“ erschienen. (jf)

Navid Kermani: Wenn sich unsere Herzen gleich öffnen. Über Politik und Liebe, Verlag C.H. Beck, 143 Seiten, 20 Euro.

https://www.chbeck.de/kermani-herzen-gleich-oeffnen/product/38976882