Die Zahlen antisemitischer Straftaten und Vorfälle in NRW sind deutlich gestiegen. Das geht aus einem Bericht der Landesregierung hervor.
„Das geht alle an“Antisemitische Anfeindungen in NRW werden extremer

„Wir müssen uns vor Augen führen, was diese Zahlen konkret für die Menschen und für jüdisches Leben in Deutschland bedeuten“, sagt Sylvia Löhrmann, Beauftragte des Landes für die Bekämpfung des Antisemitismus.
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Auf dem Gehsteig stehen zwei Dutzend schwarze Eimer mit Topfblumen. Manche sind verwelkt. Auf der Mauer, umringt unter anderem von weißen Lilien und gelben Gerbera, hat ein Kind seinen Teddy und einen kleinen Schutzengel in ein Einmachglas gezwängt. Am Torgitter der Kölner Synagoge an der Roonstraße hängen Portraits der israelischen Geiseln, die von der Hamas entführt wurden. „Bring them home“, steht auf einem riesigen Banner am Gebetshaus.
Am 7. Oktober 2023 drangen Terroristen der Hamas nach Israel vor, töteten 1200 Menschen und verschleppten 240 Frauen, Männer und Kinder in den Gazastreifen. Seitdem hat sich nicht nur die Situation im Nahen Osten verschärft, sondern auch hierzulande.
695 Straftaten im vergangenen Jahr erfasst
Von Schmierereien und Beleidigungen über Bedrohungen bis zu tätlichen Angriffen und Mordplänen: 2024 wurden für Nordrhein-Westfalen 695 antisemitische Straftaten erfasst, was im Vergleich zum Vorjahr erneut eine signifikante Steigerung darstellt (2023: 547). Auch bei den gemeldeten antisemitischen Vorfällen unterhalb der Strafbarkeit gab es einen deutlichen Anstieg von 664 Vorfällen im Jahr 2023 auf 940 im Jahr 2024.
Durchschnittlich sind das 18 Übergriffe pro Woche, im Jahr 2023 waren es 13. Auch bundesweit stiegen die antisemitischen Straftaten 2024 erneut an (plus 20,8 Prozent) und erreichten mit 6236 Fällen einen neuen Höchststand.
„Wir müssen uns vor Augen führen, was diese Zahlen konkret für die Menschen und für jüdisches Leben in Deutschland bedeuten: Wohnhäuser von Jüdinnen und Juden werden markiert und beschmiert, in jüdischen Restaurants werden Fensterscheiben eingeschlagen, Veranstaltungen mit jüdischem Kontext werden abgesagt“, sagt Sylvia Löhrmann, Beauftragte für die Bekämpfung des Antisemitismus in NRW.
Anfeindungen gehören in Köln zum Alltag
Die erschreckende Diagnose gehört für Bettina Levy, Mitglied des Vorstandes der Synagogen-Gemeinde Köln, längst schon zum Alltag: „Die Zahlen bestätigen, was wir tagtäglich erleben.“ Die Politik des Staates Israel nach dem 7. Oktober werde „als Steilvorlage für antisemitische Äußerungen missbraucht“. Die Bedrohungslage auch in Köln habe sich deshalb „verschärft“, die Übergriffe und Anfeindungen würden „immer extremer und heftiger“, sagt Levy.

Bettina Levy, Mitglied des Vorstandes der Synagogen-Gemeinde Köln
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Vor der Synagoge steht ein Polizeiwagen. Auch Kindergärten oder Grundschulen mit jüdischen Kindern werden in Köln oft bewacht. „Es gibt persönliche Bedrohungen, Beleidigungen und dergleichen“, ergänzt die Kölnerin: „Ich möchte da nicht detaillierter sein, sondern klarmachen, dass das, was in dem Bericht der Landesregierung steht, die jüdische Gemeinde nicht überrascht.“
Bericht: In sozialen Netzwerken kennt Judenhass keine Grenzen
„Auf den Straßen, an Universitäten, im Kulturbereich wird Antisemitismus offen artikuliert und propagiert; in sozialen Netzwerken kennt Judenhass keine Grenzen“, heißt es im NRW-Bericht. Alle jüdischen Institutionen müssten rund um die Uhr polizeilich geschützt werden. 2024 sei zudem ein signifikanter Anstieg von antisemitischen Vorfällen an Hochschulen und Universitäten in Deutschland zu verzeichnen gewesen. Diese Entwicklung spiegele auch die Situation an nordrhein-westfälischen Hochschulen und Universitäten wider, wo jüdische Studierende und jüdische Dozentinnen und Dozenten persönliche Beleidigungen, Bedrohungen und Mobbing erleben mussten.
Die Anfeindungen jedenfalls seien „ganz direkt“ und auch vor körperlichen Übergriffen werde nicht zurückgeschreckt, berichtet Levy von ihren Erfahrungen. „Da wird nichts mehr kaschiert, nichts mehr versteckt, da ist keinerlei Scheu mehr.“ Schriftliche Bedrohungen etwa würden zunehmend unter dem richtigen Namen der Absender verschickt. In ihrer Gemeinde würden Mitglieder von Ausgrenzungen ihrer Kinder in den Schulen berichten, von Beschimpfungen und Beschuldigungen. „Manche Kinder wechselten deshalb die Schule“, sagt sie. Andere würden sich nicht mehr als jüdisch zu erkennen geben.
So wie die allgemeine Gewaltbereitschaft gestiegen sei, die „Verrohung der Gesellschaft“ spürbarer werde, „ist Rassismus, Antisemitismus und Ausgrenzung gesellschaftsfähig und mit vermeintlichen Argumenten begründbar geworden“, betont die Synagogen-Sprecherin. Was allerdings überrasche, sei die Geschwindigkeit dieser Entwicklung. „Wir sehen nur die exponentiell steigenden, abstrakten Zahlen.“ Aber hinter jeder Zahl stecke „eine Begebenheit, eine Beleidigung, ein Mensch, der sich bedroht fühlt“.
Kölner Synagogen-Vorständin: „Die Demokratie ist kein Selbstläufer“
Und dies sei „nichts, was vorher nicht da war“: „Es wird nur offener ausgelebt. Der Antisemitismus war nicht weg, und das ist an nichts mehr zu erkennen als an diesen Zahlen.“ Der Hass auf jüdisches Leben ziehe sich durch alle Bevölkerungsschichten und Altersklassen. „Das ist keine kleine Minderheit mehr“, sagt Levy.
Denkt sie deshalb darüber nach, ob Deutschland noch das richtige Land für ihre Familie ist? „Ist es, solange die offizielle politische Haltung klar ist“, sagt die junge Frau. „Ich glaube an unsere Demokratie.“ Aber der Glaube sei nicht unerschütterlich. „Die Demokratie ist nicht selbstverständlich, sie ist kein Selbstläufer, sie muss verteidigt werden, und zwar immer.“ Und dies sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe: „Das geht alle an.“