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Pflege auf ReisenIm Rollstuhl in den Urlaub – „Hier muss niemand um 19 Uhr ins Bett“

Lesezeit 6 Minuten
Fünf Menschen im Rollstuhl sowie Pflegende und Angehörige auf Norderney vor den Dünen.

Jochen Kindermann (im Rollstuhl in der Mitte) urlaubt auf Norderney. Möglich macht das der Verein „Urlaub und Pflege“, mit dem Pflegebedürftige und deren Angehörige verreisen können.

Für Pflegebedürftige und Angehörige ist eine Reise mit hohen Hürden verbunden. Wie der Verein „Urlaub und Pflege“ aus NRW ihnen hilft.

Hätte man Gelegenheit im Reisetagebuch der Sobottas zu blättern, dann würde man an diesem Dienstag von einem sonnigen Tag lesen, von einem Ausflug in eine sehr volle Stadt, vom aufregenden, aber dann gelungenen Wettrennen um einen schönen Platz im Café, von einer Himbeer-Sahne-Schnitte sowie Erdbeerkuchen, vom Hotelzimmerblick in den Kurpark und dort heimischem Federvieh. „Die Reisebegleiterin und Krankenschwester Margret Bigerl schreibt das für meine Frau auf, da stehen die schönsten Unternehmungen drin, alles, was so vor sich geht. Nach unserer Rückkehr lese ich meiner Frau das dann immer mal wieder vor“, sagt Günter Sobotta.

Er sitzt in einem Hotel in Norderney, 86 Jahre ist er alt und dass das Bielefelder Paar eine solche Urlaubsreise macht, ist keine Selbstverständlichkeit. Schließlich hatte seine Frau vor acht Jahren einen Schlaganfall, seitdem kann sie nicht mehr laufen, sie sitzt im Rollstuhl, „bekommt nicht mehr alles einwandfrei auf die Reihe“, so beschreibt es ihr Mann Günter. In den Urlaub fahren will er trotzdem, allerdings nicht ohne ihre Begleitung. „Das kommt gar nicht infrage, ohne meine Frau unternehme ich nichts“, sagt Günter Sobotta, schließlich sei man schon mehr als 50 Jahre verheiratet, ein Sommerurlaub getrennt schwer vorstellbar.

Ehepaar Sobotta mit Reisebegleiterin Margret Bigerl auf Norderney

Günter Sobottas Ehefrau sitzt im Rollstuhl. In den Urlaub wollen die beiden dennoch gemeinsam fahren. Reisebegleiterin und Krankenschwester Margret Bigerl hilft.

Und hier betritt der Verein Urlaub und Pflege die Bühne. Der gemeinnützige Reiseveranstalter ermöglicht es pflegebedürftigen Menschen und deren Angehörigen mehrtägige Auszeiten vom Alltag beispielsweise am Strand zu verbringen. Zum Internationalen Tag der Pflege wurde das Konzept vor kurzem ausgezeichnet.

Frische Seeluft an der Strandpromenade

Jochen Kindermann kann seit mehr als 20 Jahren nicht mehr selbständig verreisen. Damals erlitt er eine Kleinhirnentzündung, die ihn einschränkt, er braucht Hilfe beim Waschen, Duschen, Essen und zu Bett gehen. Zum Unterwegssein braucht er einen Rollstuhl und jemanden, der ihn schiebt. Nach dem Aufstehen nimmt er an der Morgenrunde teil, da wird es zuweilen auch ein wenig sportlich, ein bisschen Gymnastik, ein bisschen Dehnungsprogramm. „Nachmittags gehen wir spazieren. Das macht mir vor allem an der Strandpromenade Spaß. Da kann ich die frische Seeluft einatmen“, sagt Kindermann, der 66 Jahre alt ist. 

Jochen Kindermann an der Strandpromenade von Norderney

Jochen Kindermann ist seit einer Kleinhirnentzündung vor zwanzig Jahren auf Hilfe angewiesen. Hartmut vom Verein „Urlaub und Pflege“ ist deshalb im Urlaub auf Norderney immer dabei.

Was der Verein „Urlaub und Pflege“ hier an Lebensqualität ermöglicht, ist in etwa so selten wie das Gold im Rhein. Therese Woltemade ist Krankenschwester und seit 24 Jahren zusammen mit Gründerin Susanne Hanowell maßgeblich am Aufbau und der Weiterentwicklung des Reisekonzepts beteiligt. Der 1999 gegründete Verein wollte eine Lücke schließen in einem breit gefächerten Urlaubsangebot, das nur an diejenigen nicht zu denken schien, die eine Auszeit vielleicht am nötigsten brauchen: Pflegebedürftige und deren Angehörige.

„Als wir hier anfingen, gab es so gut wie gar nichts für diese Zielgruppe. Und auch heute ist es nicht immer einfach, Unterkünfte zu finden, die über genügend barrierefreie Zimmer verfügen“, sagt Woltemade im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Mittlerweile sind Woltemade und Hanowell mit ihren jährlich etwa 130 Gästen und 60 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aber schon weit herumgekommen. Nach Norderney und Borkum, ins Wangerland, die Lüneburger Heide, in die Niederlande, den Schwarzwald und die Eifel. Auch individuelle Flugreisen können über den Verein organisiert werden.

Reisen sind sehr kostspielig – ein Förderverein kann das abmildern

Wer mit beeinträchtigten oder pflegebedürftigen Menschen reist, muss einiges bedenken. Gibt es genügend behindertengerechte Toiletten in den Cafés, die man besuchen will? Sind Sandrollstühle vor Ort? Ist genug Platz, die mobile Kegelbahn aufzubauen? Finden sich barrierefreie Schwimmbäder? Welche Routinen und Rituale brauchen gerade demente Gäste? Wie ist sichergestellt, dass die Bedürfnisse derjenigen gut erkannt werden, die sich nicht oder nur schlecht artikulieren können?

Außerdem braucht jeder Teilnehmer eine Reisebegleiterin, die der Verein stellt. „Die Reisen werden dadurch natürlich sehr kostspielig“, sagt Woltemade. „Im Schnitt ist das dreimal so teuer, wie wenn wir Urlaub machen würden.“ Für elf Tage werde beispielsweise ein Urlaubsanteil von 3500 Euro pro Person fällig, dazu käme noch der Pflegeanteil, der sich aber meist über die Pflegekasse abrechnen lasse. „Denjenigen, die nicht genug Geld haben, versuchen wir, über unseren Förderverein zu helfen.“

Pflegebedürftige finden Gemeinschaft

Das Geld ist gut investiert, finden Kindermann und Sobotta. Die größte Freude sei vielleicht: die Gemeinschaft. Man spielt zusammen Rummikub, wetteifert bei Quizabenden, guckt gemeinsam Fußball – Kindermann ist Fan der Arminia Bielefeld, der man im Pokalfinale die Daumen drückte.

„Das genieße ich sehr, denn zu Hause bin ich doch auch sehr viel alleine“, sagt Kindermann. „Für viele unserer Gäste ist diese Reise die einzige Möglichkeit, nochmal rauszukommen, Neues zu erleben, Kontakt zu anderen Menschen zu knüpfen“, sagt Woltemade. „Die Geselligkeit spielt auf unseren Reisen eine große Rolle.“ Tagsüber sei man in Städten, Cafés oder am Strand unterwegs, manchmal biete sich auch eine Schiffstour an. Und auch abends endet das Programm nicht mit dem Abendbrot. „Hier muss niemand um 19 Uhr ins Bett.“

Für Paare ergebe sich aus der Reise häufig auch die belebende Möglichkeit, einmal etwas getrennt voneinander zu erleben. So könne der Pflegebedürftige auf sogenannten Tandem-Reisen mit der Pflegerin oder dem Pfleger die Strandpromenade erkunden, während der Ehepartner beispielsweise eine Radtour unternehme. „Gerade pflegenden Angehörigen fällt das Loslassen anfangs manchmal etwas schwer. Oft ist über Jahrzehnte eine sehr starke Bindung entstanden“, sagt Woltemade. „Aber schließlich zeigt sich am Ende doch, dass es schön ist, wenn beide getrennt voneinander Eindrücke sammeln können. Das ermöglicht oft ein neues Kennenlernen und lässt das Selbstvertrauen wachsen.“

Und dann sei ja da auch noch das allgemeine Urlaubsgefühl, das sich nach ein paar Tagen an der See automatisch einstellt. Kleinigkeiten mit anderen Augen sehen, Neues erleben, sich ganz schlicht ausruhen: „Ich schlafe hier sehr gut und erhole mich richtig. Diese zehn Tage stärken mich für den Alltag, der dann wieder auf mich wartet“, sagt Kindermann. Sobotta ergänzt: „Meine Frau blüht hier richtig auf. Und ich mit ihr.“


Tipps zur Urlaubsplanung

Der Verein Urlaub und Pflege e.V. organisiert Reisen für Pflegebedürftige und deren Angehörige. Unterwegs sein kann man gemeinsam, mit gleichem, aber auch unterschiedlichem Programm, Pflegebedürftige können aber auch alleine mitfahren, für eine 1:1-Betreuung ist gesorgt.

Wer sich selbst organisieren möchte, kann ein sogenanntes Pflegehotel ansteuern. Das sind Kombinationen aus pflegerischer Einrichtung und Hotel. Der Begriff ist nicht geschützt, weshalb man vor dem Buchen genau auf Angebot und Ausstattung achten sollte. Auch einige Pflegeheime und Reha-Kliniken vermieten einen Teil ihrer Zimmer an Urlauber. Einige Hotels bieten auch einen An- und Abreise-Service.

Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft hält eine aktuelle Liste mit Anbietern bereit, die Urlaubsreisen für Menschen mit Demenz und ihre Angehörige im Programm haben.

Urlaub für Pflegebedürftige ist häufig kostspielig. Ein Teil der Pflegeleistungen lässt sich über die Pflegekasse abrechnen. Nutzen kann man beispielsweise Kurzzeitpflege, falls das Pflegehotel als eine solche Einrichtung zugelassen ist. Um teilstationäre Pflege erstattet zu bekommen, muss das Hotel eine Zulassung als Tages- oder Nachtpflegeeinrichtung besitzen. Das Pflegegeld wird durch diese Leistung nicht gekürzt. Fahren Gepflegte ohne ihre pflegenden Angehörigen in den Urlaub, kann Verhinderungspflege beantragt werden. Auch Pflegesachleistungen oder ein Entlastungsbetrag kommt möglicherweise infrage. Beraten lassen kann man sich bei den Pflegehotels, der Pflegeberatung oder einem Pflegestützpunkt.