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Ukraine-KriegWie Serhij in russischer Gefangenschaft starb – Misshandlungen und Folter

Lesezeit 5 Minuten
Ein Porträt von Serhij Hryhoriew an seinem Grab. Alex Babenko

Ein Porträt von Serhij Hryhoriew an seinem Grab. Alex Babenko

Nach dem bisher größten Gefangenenaustausch mit Russland ist die Freude über die Heimkehrer in der Ukraine groß. Doch was mussten sie in der Gefangenschaft alles erdulden? Viele vor ihnen berichteten von Misshandlungen und Folter. Dutzende starben in den russischen Lagern.

„Alles wird gut“, sagte Serhij Hryhoriew jedes Mal, wenn er von der Front in der Ostukraine mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern telefonierte. „Alles wird gut“, schrieb er noch, als er nach seiner Gefangennahme durch die Russen im Jahr 2022 ein letztes Mal mit seiner Familie Kontakt aufnehmen durfte. Seine jüngere Tochter Oxana ließ sich die Worte sogar auf ihr Handgelenk tätowieren - als Glücksbringer. Am Ende wurde es nicht gut. Im Alter von 59 Jahren starb Hryhoriew in russischer Kriegsgefangenschaft. Erst viele Monate später erfuhren seine Frau Halyna und die Töchter davon.

Hryhoriew ist einer von mehr als 200 ukrainischen Soldaten, die seit Kriegsbeginn in russischer Kriegsgefangenschaft starben. Menschenrechtler, Experten der Vereinten Nationen, die ukrainische Regierung und eine Gerichtsmedizinerin, die Dutzende der Leichen untersuchte, sind sich sicher: bei vielen der Todesfälle waren körperliche Misshandlungen in der Haft zumindest ein Mitgrund für ihren Tod.

95 Prozent der freigelassenen ukrainischen Kriegsgefangenen in der Haft gefoltert

Eigentlich sollen die Genfer Konventionen die menschliche Behandlung von Kriegsgefangenen garantieren. Ein UN-Bericht stellte im Jahr 2024 allerdings fest, dass 95 Prozent der freigelassenen ukrainischen Kriegsgefangenen in der Haft systematische Folter erdulden hätten müssen. Neben Schlägen kam es demnach zu Elektroschocks und sexueller Gewalt, den Gefangenen wurde die Luft abgeschnürt, der Schlaf entzogen und ihnen wurde vorgetäuscht, sie würden exekutiert. „Dieses Verhalten könnte nicht rechtswidriger sein“, sagte Danielle Bell, Leiterin der Menschenrechtsmission der Vereinten Nationen in der Ukraine. Auch Amnesty International dokumentierte systematische Folter ukrainischer Kriegsgefangener.

Ein ukrainischer Soldat umarmt seine Frau in der Region Tschernihiw, nachdem er im Rahmen eines Kriegsgefangenenaustauschs zwischen Russland und der Ukraine am Sonntag, 25. Mai 2025 aus der Gefangenschaft zurückgekehrt ist.

Ein ukrainischer Soldat umarmt seine Frau in der Region Tschernihiw, nachdem er im Rahmen eines Kriegsgefangenenaustauschs zwischen Russland und der Ukraine am Sonntag, 25. Mai 2025 aus der Gefangenschaft zurückgekehrt ist.

Auf Nachfrage der Nachrichtenagentur AP wollten sich die russischen Behörden nicht zu den Vorwürfen äußern. In der Vergangenheit hatte aber auch Russland der Ukraine die Misshandlung von Kriegsgefangenen vorgeworfen. Die Vereinten Nationen haben zwar auch Menschenrechtsverletzungen von ukrainischer Seite kritisiert, diese waren aber deutlich weniger häufig und brutal und beschränkten sich oft auf die unmittelbare Gefangennahme.

Am 10. April 2022 telefonierte er zum letzten Mal mit seiner Frau

Hryhoriew war seit 2019 bei der Armee und wurde nach Kriegsbeginn im heftig umkämpften Mariupol eingesetzt. Am 10. April telefonierte er zum letzten Mal mit seiner Frau Halyna im fernen Poltawa. „Alles wird gut“, habe er gesagt - wie immer. Zwei Tage später wurden er und seine Einheit gefangen genommen. Insgesamt gerieten bei der russischen Eroberung von Mariupol mehr als 2000 Ukrainer in russische Gefangenschaft.

Im August 2022 kam noch einmal ein Brief, in dem Hryhoriew seine Frau mit ihrem Spitznamen ansprach: „Meine liebe Halotschka, ich bin am Leben und gesund. Alles wird gut.“ Das war die letzte Nachricht, die Halyna und ihre Töchter jemals von Serhij erhalten sollten.

Tochter Oxana begann, russische Internetportale zu durchforsten, wo immer wieder Videos von ukrainischen Kriegsgefangenen auftauchten. Irgendwann wurde sie fündig und erschrak: Ausgemergelt sah ihr Vater aus, die Haare waren kurz geschoren, ihm fehlten Zähne. „Ich bin am Leben und gesund“, sagte Hryhoriew in die Kamera, offenbar weil er dazu gezwungen wurde. „Wenn man ihn angeschaut hatte, wusste man, dass das nicht wahr ist“, sagte Oxana.

„Alle wurden geschlagen - ohne Ausnahme“

Das bestätigte auch Olexij Hontscharow, der gemeinsam mit Hryhoriew in Kriegsgefangenschaft war und in der Gefängniskolonie Kamensk-Schachtinski im Südwesten Russlands nach eigenen Angaben Misshandlungen erdulden musste. „Alle wurden geschlagen - ohne Ausnahme“, sagte Hontscharow. „Manche mehr, manche weniger, aber wir haben es alle abbekommen.“

Alle wurden geschlagen - ohne Ausnahme
Ukrainer nach russischer Kriegsgefangenschaft

Der 48-Jährige kam im Februar im Rahmen eines Gefangenenaustauschs in die Ukraine zurück. Monatelang habe er in der Strafkolonie unter Schmerzen in der Brust gelitten. Die Schläge hätten aber nie aufgehört und manchmal erst begonnen, nachdem er um ärztliche Hilfe gebeten habe, sagte Hontscharow. „Gegen Ende konnte ich kaum noch gehen.“ Nach seiner Rückkehr in die Ukraine wurde bei ihm Tuberkulose diagnostiziert - eine Krankheit, die bei ehemaligen Kriegsgefangenen mittlerweile immer wieder entdeckt wird.

Sein Lagergenosse Hryhoriew sei kräftig gewesen und habe anfangs besser durchgehalten als viele jüngere Soldaten. Aber irgendwann habe er immer wieder Schwindel- und Erschöpfungsanfälle gehabt und schließlich nicht mehr ohne Hilfe laufen können. Medizinische Hilfe habe er aber nie erhalten.

Hunderte Leichen wurden in der Leichenhalle in Kiew abgeladen

Inna Padei hat die Aufgabe herauszufinden, was mit Hryhoriew und anderen gestorbenen Kriegsgefangenen passiert ist. Sie obduziert die von Russland überstellten Leichen - genauso wie die in Massengräbern gefundenen Ukrainer. Hunderte Leichen in schwarzen Säcken wurden in der Leichenhalle in Kiew abgeladen, in der sie arbeitet. Diejenigen, die im Kampfeinsatz starben, tragen oft noch Uniformen und haben offensichtliche Wunden. Bei den gestorbenen Kriegsgefangenen ist es schwerer, die genaue Todesursache herauszufinden. Denn oft sind ihre Leichen entstellt oder teilweise verwest. Russland halte die Leichen absichtlich so lange zurück, bis durch die Verwesung die Todesursache nicht mehr festgestellt werden könne, sagte Petro Jazenko, ein Sprecher der ukrainischen Regierungsbehörde, die für Kriegsgefangenenangelegenheiten zuständig ist.

Nach Angaben der ukrainischen Regierung starben mindestens 206 Kriegsgefangene in russischen Lagern und wurden in ihre Heimat überstellt. Allerdings seien darunter auch mehr als 50, die bei einer Explosion ums Leben gekommen seien.

Die Nachrichtenagentur AP interviewte Angehörige von 21 ukrainischen Kriegsgefangenen, die in russischer Haft ums Leben kamen. Autopsien in der Ukraine ergaben, dass fünf von ihnen an Herzversagen starben, darunter waren junge Menschen im Alter von 22, 39 und 43 Jahren. Vier andere starben an Tuberkulose oder einer Lungenentzündung. Fälle wie diese legten nahe, dass Misshandlungen oder nicht behandelte Erkrankungen zum Tod der Männer beigetragen hätten, sagte Gerichtsmedizinerin Padei. „Unter normalen menschlichen Bedingungen wären diese nicht tödlich.“

„Wir glauben, das alles gut werden wird“

Hryhoriew sei in eine feuchte, kalte Einzelzelle verlegt worden, als es ihm immer schlechter gegangen sei, sagte sein ehemaliger Mithäftling Hontscharow. Dort sei er einen Monat später gestorben.

Laut dem russischen Totenschein starb Hryhoriew am 20. Mai 2023, angeblich an einem Schlaganfall. Erst mehr als sechs Monate später erfuhr die Familie über einen anderen ehemaligen Mithäftling, dass Hryhoriew tot sei. Im März 2024 kam dann der Anruf der ukrainischen Polizei: Eine Leiche mit Hryhoriews Namen auf dem Totenschein wurde in die Ukraine überstellt. Der DNA-Test brachte dann die endgültige traurige Gewissheit.

Hryhoriews Leichnam wurde der Familie im Juni 2024 übergeben und wenig später in seinem Heimatort Pyrjatyn beigesetzt. Seine Frau Halyna und die ältere Tochter Jana haben sich in Erinnerung an ihn auch das gleiche Tattoo stechen lassen wie Oxana. Jetzt wache Serhij über sie drei, sagte Halyna. „Wir glauben, das alles gut werden wird.“ (RND)