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Geheimtaktik enthülltWie Russland mit Soldaten auf Motorrädern die Ukraine überrascht

Lesezeit 4 Minuten
Soldaten der russischen Streitkräfte nehmen in Rostow am Don neue Motorräder entgegen.

Soldaten der russischen Streitkräfte nehmen in Rostow am Don neue Motorräder entgegen.

Mit Motorrädern versucht Russland die Frontlinien zu durchbrechen. Das bringt zwar taktische Vorteile, aber auch erhebliche Risiken. 

Kein donnernder Panzer, kein schweres Kettenfahrzeug. Stattdessen sind es immer häufiger knatternde Motocross-Bikes, die wie Schatten über Felder huschen und nach Schwachstellen in der ukrainischen Front suchen. „Wir beobachten eine neue Taktik“, sagt ein hochrangiger Nato-Beamter über die russischen Angriffe. Die Russen operierten zunehmend in kleineren Formationen, häufig auf Motorrädern, Quads oder anderen Geländefahrzeugen. „Sie durchstoßen die Frontlinien und erkunden Lücken in der Verteidigung, ehe dann größere Verbände nachrücken und den Vormarsch absichern.“ An einem Angriff auf Pokrowsk sollen mehr als 100 russische Soldaten auf Motorrädern beteiligt gewesen sein.

Motocross-Bikes statt Panzer

Schon seit einiger Zeit deutete sich an, dass die russische Armee verstärkt auf Motorräder setzen könnte. Bereits vor zwei Monaten veröffentlichte das russische Verteidigungsministerium ein Video, das Soldaten einer Fallschirmjägereinheit auf Motorbikes bei einer Übung zeigt. Vorbereitung auf den Motorradkrieg. Nach Angaben des Ministeriums trainieren die Soldaten, Stützpunkte mithilfe von Motocross-Bikes zu erobern. „Die Kämpfer üben Angriffs- und Verteidigungsszenarien in Gruppen, zu zweit oder zu dritt“, erklärte Moskau.

Mittlerweile setzt Russland diese neue Taktik in großem Stil ein. Laut dem Nato-Beamten gibt es dafür zwei Hauptgründe: „Der intensive Einsatz von Drohnen hat das Schlachtfeld extrem transparent gemacht und eine unbemerkte Bewegung russischer Soldaten ist so gut wie unmöglich.“ Geschwindigkeit und Wendigkeit seien daher entscheidend geworden. Das habe zur verstärkten Nutzung von Motorrädern geführt. Mit ihnen können die Russen ukrainische Befestigungen wie Schützengräben und Minenfelder umgehen, die den Vormarsch traditioneller Panzer verlangsamen sollen. Ein zweiter Grund: „Auch die Bestände an Panzern aus Sowjetzeiten sind inzwischen nahezu erschöpft.“

Verzweiflung oder clevere Strategie: Was bringt die neue Kampfstrategie?

Zwar setzen russische Truppen bereits seit über einem Jahr vereinzelt an mehreren Frontabschnitten Motorräder und Quads ein, um ukrainischen Drohnen auszuweichen. Doch Beobachter gehen nun davon aus, dass Russland eine taktische Doktrin für den systematischen Einsatz dieser Fahrzeuge bei Offensiven entwickelt hat, mit einem klaren Schwerpunkt auf geländegängige Fahrzeuge. Mit ihnen sollen die russischen Soldaten unbemerkt hinter die Verteidigungslinie gelangen und die Ukraine von hinten überraschen.

Ich bin sicher, dass die Ukraine irgendwann eine Gegenstrategie entwickeln wird, derzeit sehen wir davon allerdings noch nichts
Hochrangiger Nato-Beamter

Zudem setzt das russische Militär die Fahrzeuge auch zur Evakuierung verwundeter Soldaten ein. Häufig stammen die Fahrzeuge aus chinesischer Produktion. „Ich bin sicher, dass die Ukraine irgendwann eine Gegenstrategie entwickeln wird, derzeit sehen wir davon allerdings noch nichts“, so der Top-Nato-Beamte. Die Ukraine hat nach eigenen Angaben bereits eine eigene Motorradeinheit gegründet. Ob diese aber bereits kämpft, ist unklar.

Ukrainische Militärs bezeichnen die Motorradangriffe als „Banzai-Attacken“. Eine Anspielung auf die verzweifelten Sturmangriffe japanischer Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Heute sind es russische Blitzangriffe, die diesen Namen tragen.

Hohe Verluste auf russischer Seite

Obwohl diese neue Taktik der Russen immer wieder erfolgreich ist und langsame Gebietsgewinne ermöglicht, führt sie zu hohen Verlusten: Viele russische Soldaten werden bei diesen Vorstößen getötet oder verwundet. Etwa, wenn sie auf Minen stoßen oder durch das laute Knattern ihrer Maschinen von Drohnen entdeckt, verfolgt und aus der Luft angegriffen werden. Anders als gepanzerte Fahrzeuge bieten die Motorräder keinen Schutz vor Granatsplittern und Beschuss. Nach Einschätzung der Nato bleiben die russischen Verluste im Krieg gegen die Ukraine weiterhin außergewöhnlich hoch. Berechnungen zufolge gab es in der ersten Jahreshälfte täglich fast 1.300 Tote und Verwundete auf russischer Seite. „Wir haben vermutlich bereits die Schwelle von einer Million Opfer überschritten, davon etwa 250.000 getötete Soldaten.“

Trotz dieser hohen Verluste und Gebietsgewinnen von teils nur 50 Metern am Tag, gehen Analysten des Militärbündnisses davon aus, dass Russland an dieser Strategie festhalten wird. Die Risikobereitschaft sei hoch, insbesondere wegen möglicher Friedensverhandlungen.

Erst in der vergangenen Woche hatte Putin beim Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg behauptet: „Die ganze Ukraine gehört uns.“ Denn das russische und das ukrainische Volk seien ein Volk. „Wir haben eine alte Regel: Wohin ein russischer Soldat einen Fuß setzt, das gehört uns.“ Der ukrainische Außenminister Andrii Sybiha warf Putin daraufhin vor, die Friedensbemühungen von US-Präsident Donald Trump völlig zu missachten.

Russland hat Rüstungsproduktion auf das Maximum hochgefahren

In der Nato sehen Analysten keinerlei Anzeichen, dass Moskau Frieden schließen will. Im Gegenteil: Inzwischen hat Russland seine Rüstungsproduktion auf das Maximum hochgefahren. Monatlich verlassen rund 130 Panzer die Fabriken, doch 90 Prozent sind davon nach Nato-Beobachtungen ältere Modelle, die instandgesetzt und modernisiert wurden. Sie stellen somit den Großteil der russischen Kampfpanzerproduktion dar. Längst verfügt das russische Militär nur noch über eine begrenzte Zahl eingelagerter Panzer, die einsatzbereit gemacht werden können. Von etwa 2.000 Stück in den Lagern seien viele lediglich als Ersatzteillager zu gebrauchen.

Wladimir Putin beharrt auf Russlands Maximalzielen im Kampf gegen die Ukraine. Eine diplomatische Lösung scheint in weiter Ferne.

Wladimir Putin beharrt auf Russlands Maximalzielen im Kampf gegen die Ukraine. Eine diplomatische Lösung scheint in weiter Ferne.

Gleichzeitig steht die russische Wirtschaft unter massivem Druck. Immer häufiger äußern hochrangige russische Beamte Sorgen über eine Abschwächung der Konjunktur, manche sprechen sogar von einer drohenden Rezession. Die westlichen Sanktionen belasten Handel, Technologiezugang und internationale Finanzbeziehungen erheblich. „Russland gibt derzeit rund 32 Prozent seines Haushalts für den Krieg aus und bald könnten es 40 Prozent sein“, so der Nato-Beamte. Während der Rüstungssektor boomt, leidet die zivile Wirtschaft stark, etwa unter Treibstoff- und Arbeitskräftemangel. Der Kreml tausche langfristigen wirtschaftlichen Wohlstand gegen die kurzfristige Finanzierung des Krieges ein, so der Nato-Beamte. Und dennoch zeigt er sich überzeugt: „Russland kann den Krieg mindestens bis 2027 weiter finanzieren.“