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KrebsOya Kar kämpft sich in der Früh-Reha in Köln in zurück ins Leben

Lesezeit 7 Minuten
Oya Kar betritt ihr Zimmer in der Reha. Auf dem Bild sieht man groß die Zimmernummer 8.

Nach einer extrem belastenden Krebs-Therapie beginnt Oya Kar in der Früh-Reha ihr neues Leben.

Im Januar 2024 erhielt Oya Kar die Diagnose Knochenmarkkrebs. Nach der Chemo lag sie im künstlichen Koma. In der Reha schöpft sie wieder Hoffnung. 

Oya Kar lag regungslos in einem Krankenhausbett in Köln-Merheim. An ihren Körper waren flimmernde Maschinen angeschlossen. In ihrem Mund verschwand ein Plastikschlauch, ein anderer in der Nase. Dezember 2024. Fast drei Wochen: Künstliches Koma, Intensivstation.

Doch was fast schon nach ihrem Ende aussah, sollte für Kar nur ein Tiefpunkt sein, von dem sie sich in kleinen Schritten wieder zurück ins Leben kämpfte. „Ein Wunder“, sagt sie heute.

Kar ist 60 Jahre alt, inzwischen bewohnt sie ein Zimmer in der neurologischen Rehabilitationsklinik „RehaNova“ neben dem Merheimer Krankenhaus. Von November bis Februar lag sie im Bett, jetzt findet sie sich langsam wieder in ihrem Körper ein. Kar scherzt mit ihren Physio- und Ergotherapeuten beim Training. Trotzdem entschuldigt sie sich noch bei ihnen, wenn sie eine Treppenstufe nicht schafft.

Oya Kar sitzt in einem Liegestuhl auf der Intensivstation. Aus ihrer Nase und ihrem Hals ragen Schläuche, um sie herum leuchten Geräte.

Nach drei Wochen im künstlichen Koma: Oya Kar vier Monate zuvor auf der Intensivstation.

„Alle sagen, ich hätte diese Krankheit nicht verdient. Aber wer hat sie schon verdient?“

Kar kam 1984 aus der Türkei nach Deutschland. Sie arbeitete früher als Lehrerin, besuchte in den Sommerferien ihre Mutter in Hannover und lernte dort ihren Mann kennen. Er brachte einen achtjährigen Sohn mit in die Beziehung. Kar erzählt, wie er sie schon bei einem ihrer ersten Treffen fragte: „Kannst du nicht meine Mama sein?“ 1999 erfuhr Kar, dass sie schwanger war, mit einem Mädchen. Bald waren sie zu viert.

Oya Kar lebt seit Jahrzehnten in Köln-Dünnwald. Auf der Keupstraße war sie bekannt, sagt sie, weil sie zeitweise lokale Geschichten für die türkische Zeitung „Dialog“ schrieb. Um finanziell unabhängig zu sein, suchte sich einen zusätzlichen Job: Zuerst als Aushilfe bei einem Arzt und als er in Ruhestand ging, hinter der Fleischtheke in einem Supermarkt.

Während Kar in der Reha in ihrem Bett sitzt und von ihrem alten Leben erzählt, schaut sie nachdenklich ins Leere. Pause. „Alle haben mir gesagt, ich hätte diese Krankheit nicht verdient. Aber wer hat sie schon verdient?“

Wenige Worte, die ein Leben umkrempeln

Dezember 2023: Kars Hausarzt erhält Ergebnisse von ihrem Bluttest. Ihre Hämoglobinwerte sind niedrig, sie verliert Blut. Irgendwas stimmt nicht. Mitte Januar soll sie zu einem Ultraschall kommen, um ihre Nieren zu untersuchen.

16. Januar 2024: Vormittags Ultraschall und Blutabnahme. Danach startet sie ihre Arbeit hinter der Fleischtheke. Die Kollegen sagen, sie sehe aus wie eine „lebende Leiche“. Kars Arzt ruft sie an diesem Nachmittag noch mehrfach an, erreicht sie aber nicht. Ihre Nieren versagen. Sie soll sofort ins Krankenhaus kommen. Der Arzt telefoniert mit ihrem Mann, der sie sofort von der Arbeit abholt und in die Notaufnahme in Holweide bringt. Dort verbringt sie die Nacht. Am nächsten Morgen wird sie für eine Nierenbiopsie nach Merheim gefahren.

Kar glaubte bis dahin, dass ihre hochdosierten Tabletten für die Schilddrüse die Symptome auslösten: Müdigkeit, Erschöpfung, ständiges Frieren. Doch jetzt wird ihr Knochenmark getestet.

Der 30. Januar 2024 verändert Kars Leben für immer. Sie steht mit ihrer Tochter im Krankenhaus in Holweide. Der Arzt sagt die wenigen Worte, die ein ganzes Leben umkrempeln: „Sie haben Knochenmarkkrebs.“ Fünf bis acht Jahre soll sie noch haben - wenn es gut läuft, denn Kar weiß nicht, wie lange sie schon krank ist.

Künstliches Koma nach Corona-Infektion

Fünf Tage später schluckt Kar die ersten Tabletten, etwa 50 Stück, schätzt sie. Dazu kommen Infusionen und Spritzen. Sie hat die Nachricht noch nicht richtig verarbeitet, da startet schon die Chemotherapie. Ihr Körper wird schwächer, jeden Morgen liegen büschelweise Haare auf ihrem Kissen.

Im Mai gibt sie ihre Stammzellen ab, ab Juli beginnt die noch aggressivere Chemotherapie. Während andere den Sommer genießen, liegt Kar einen Monat lang in der Uniklinik Köln. Ihre Familie besucht sie jeden Tag. Ende Oktober bekommt Kar einen Platz in einer Reha in Wuppertal. Jetzt geht es bergauf, denkt ihre Familie. Doch so geradlinig verläuft die Krankheitsachterbahn nicht. Kar steckt sich mit Corona an.

Am 20. November 2024 dann der endgültige Tiefpunkt. Kar erinnert sich kaum. Als ihre Tochter den Krankenwagen ruft, ist sie nicht mehr ansprechbar. Sie hört nur noch den Satz: „Sie kommt jetzt ins künstliche Koma.“

Stille. Ungefähr drei Wochen.

Keine Kraft, um die Brille aufzusetzen

9. Dezember 2024. „Haben Sie Schmerzen?“. Kar fühlt sich angesprochen. „Nein“, antwortet sie. „Dann öffnen Sie jetzt bitte die Augen!“ Kar spürt einen Schlauch in ihrer Lunge und versucht, trotzdem zu atmen. Weder ihre Füße noch die Hände kann sie bewegen, sie ist wie gelähmt, spricht angestrengt. Kar denkt, dass sie nie wieder laufen kann, dieses Bett nie wieder verlassen wird. Ein Albtraum, sagt sie. 

Jetzt sitzt sie aufrecht, munter und ohne Hilfe auf ihrem Bett in der Reha in Merheim. Sie blickt auf ihr Handy und scheint selbst kaum zu glauben, dass sie das ist auf den Fotos, mit den Schläuchen, verkabelt und dem verängstigten Blick. Die erste Zeit nach dem Koma ist sie so schwach, dass sie nicht einmal ihre Brille aufsetzen kann. 

Oya Kar mit ihrer Gehhilfe in der „RehaNova“

Oya Kar kann heute selbst kaum glauben, dass sie vor wenigen Wochen noch verängstigt und verkabelt im Bett lag.

Am 14. Februar 2025 wechselt sie in Merheim vom Krankenhaus in die Reha. Darüber wird sie später sagen: „Ich fühlte mich wie neu geboren.“ Am 17. Februar beginnt ihre Behandlung. Und vier Tage später schafft Kar es schon, mit einer elektrischen Aufstehhilfe auf ihren Füßen zu stehen. Ein ungewöhnliches Gefühl, nachdem sie vier Monate nur gelegen hat. „Ich habe ein zweites Leben bekommen.“

Früh-Reha: Je früher die Patienten trainieren, desto eher verhindern sie Folgeschäden

Die „RehaNova“ ist eine sogenannte „Frühreha“, also eine Reha, die sich direkt an Krankenhausaufenthalte anschließt. Wenn Patienten lange im Bett liegen, verlieren sie mit der Zeit oft ihre Muskelkraft oder erleiden andere Folgeerkrankungen. Wer lange im Koma lag, muss oft lernen, wieder eigenständig zu atmen oder zu sprechen. Je früher die Patienten mit dem Training beginnen, desto eher verhindern sie bleibende Folgeschäden.

Trotzdem sind Frühreha-Plätze in NRW zur Rarität geworden. Laut einem Gutachten des Forschungsinstitut Iges aus dem Jahr 2012 werden 57 Frühreha-Betten pro einer Million Einwohner benötigt, wenn man nur unter 80-Jährige rehabilitieren wollte; 97 Früh-Reha-Betten, wenn Kranken aller Altersgruppen geholfen werden soll. Die Region Bonn/Rhein-Sieg verfügt jedoch (Stand Herbst 2024) beispielsweise über keine 50 einsatzbereiten Betten. Selbst für jüngere Patienten wird es also eng. Das Gutachten attestierte dem Land NRW die „deutschlandweit niedrigste Versorgungsquote und niedrigste Bettendichte“. Dabei gilt gerade die Neuro-Reha als eine der wichtigsten Behandlungen, um die Gefahr einer dauerhaften Pflegebedürftigkeit zu verringern. 

Laut dem Krankenhausplan NRW sollen einige Behandlungen der Neuro-Frührehas bereits im Akutkrankenhaus geschehen. Im Herbst sorgte der vorläufige Krankenhausplan für Kritik, da maßgeblichen Versorgern die Leistungsgruppe „Neuro-Frühreha“ nicht gewährt worden war. Experten und Verbände befürchteten, dass die Veränderungen zu einer größeren Unterversorgung führen könnten. In einer zweiten Anhörung ließ das Ministerium doch drei weitere Kliniken im Regierungsbezirk Köln als Anbieter von Neuro-Frührehas zu. 

Tetyana Potter ist Oberärztin auf Kars Station. Ihr Team versucht, die Patienten mit unterschiedlichen Diagnosen so gut wie möglich wieder zu einem selbstständigen Leben zu führen: „Schlaganfall, Schädelhirntrauma, Hirnblutung oder Autoimmunerkrankungen“, sagt Potter. Die Patienten kommen mit unterschiedlichen Vorerkrankungen in die Reha.

Bei Kar war es beispielsweise die „Critical Illness Polyneuropathie (CIP)“, also eine Erkrankung des peripheren Nervensystems, die bei ihr als Folgeerkrankung Symptome wie Lähmung und Muskelschwäche auslöste.

Reha-Behandlung: „Man kann sich das wie ein Computerspiel vorstellen“

Die Behandlungen in der Reha werden immer stärker durch digitale Technologien unterstützt. „Man kann sich das wie ein Computerspiel vorstellen“, sagt Kathrin Gerbersheim, ärztliche Direktorin der „RehaNova“ in Merheim. Patienten können zum Beispiel üben, Bilder und Worte auf einem Bildschirm zusammen zu puzzeln.

Die Technik kann auch für Abwechslung vom Krankenbett sorgen: Patienten können sich eine sogenannte „Virtual-Reality-Brille“ aufsetzen, also einen Kasten, der wie eine normale Brille getragen und mit einem Band am Kopf fixiert wird. Die „VR-Brille“ kann beispielsweise simulieren, dass man in einem Wald spazieren würde, statt im Krankenhausbett zu liegen. „Technik wird in der Reha immer vielfältiger und wichtiger“, sagt Gerbershagen. Oya Kar motiviert der ganze Aufwand: „Hier wollen mir so viele Menschen helfen, da kann ich ja nicht aufgeben.“

Oya Kar sitzt im Rollstuhl vor ihrem Bett, auf dem eine Brille liegt

Oya Kar kämpft sich in der Früh-Reha zurück ins Leben.

Am 29. März durfte Kar zum ersten Mal am Wochenende nach Hause. Sie war überfordert, wie schnell das Leben „da draußen“ ist, sagt sie. „Ich habe fast eine Panikattacke bekommen.“ Trotzdem freute sie sich, ihren Hund Shila nach Monaten wiederzusehen, mit ihrer Familie zu essen und in ihrem eigenen Bett zu schlafen.

Die Ärzte in Merheim prophezeiten, ihre Genesung würde wahrscheinlich rund ein Jahr in Anspruch nehmen. Kar war noch keine neun Wochen in der Reha, jetzt soll sie bald entlassen werden, wieder zu Hause wohnen und für ihre Behandlung nur noch tagsüber ein paar Stunden in eine anschließende Tagesklinik gehen. Vor Kar liegt nun ein zweites Leben. „Ich freue mich so sehr darauf, mit meiner Familie zu kochen und vielleicht irgendwann wieder alleine mit dem Hund Gassi zu gehen.“

Aber zuerst möchte sie mit ihrem Rollstuhl ins „Blue Shell“, einen Kölner Klub. Dort spielt ihre Tochter einen Live-Auftritt mit ihrer Band. „Ich habe mich schon erkundigt: Da ist alles barrierefrei, da kann ich hin!“