Sie sind Propheten, Könige oder auch Jesus – und glauben fest an sich: Magnus Heier erklärt, was es mit dem Jerusalem-Syndrom auf sich hat.
„Ich bin Jesus“So entstehen das Jerusalem-Syndrom und andere Psychosen

Ein Jesus-Darsteller spricht in Jerusalem vor der Grabeskirche mit zwei Pilgerinnen.
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Auf den Straßen von Jerusalem sieht man Schauspieler, die als König David oder Moses Geld verdienen. Oder sind sie echt? Wobei „echt“ der falsche Begriff ist: Sind sie dem Jerusalem-Syndrom verfallen? Immer wieder fallen in Jerusalem Menschen auf, die – als Abraham, Jesus oder Maria verkleidet – zu glauben scheinen, dass sie es wirklich sind.
In Jerusalem, dem lauten und aggressiven Schmelztiegel gleich dreier Religionen, fallen diese Personen häufiger auf, als sonst auf der Welt. Die erste wissenschaftliche Beschreibung lieferte der Jerusalemer Psychiater Heinz Hermann in den 1930er Jahren. Aber schon im Mittelalter wurden ähnliche Beobachtungen festgehalten.
Die Stadt Jerusalem als akute Belastung
Die moderne Psychiatrie hat eine Diagnose: „akute vorübergehende psychotische Störung“. Die Krankheit beginnt meist nach akuter Belastung. Und das ist in diesem Fall die Stadt Jerusalem selbst: Weil religiöse Menschen in dieser Stadt von einem Übermaß an religiösen Eindrücken geflutet werden. Weil sie dort auf laute Pilger aller Religionen treffen. Und weil schon die Erwartung der „Heiligen Stadt“ ein entsprechender Trigger ist. Über tausend Touristen sollen in den letzten Jahrzehnten mit entsprechenden Symptomen behandelt worden sein – auch in anderen religiösen Pilgerzentren wie Mekka oder Rom, aber eben vor allem in Jerusalem. Die Zahl klingt hoch, das Phänomen ist trotzdem selten.
Wobei diese vorübergehende Psychose selten nur aus den überbordenden Gefühlen einer Pilgerfahrt entsteht. Meist haben die Betroffenen eine seit längerem bestehende Psychose. Die Fahrt nach Jerusalem, das Erleben zahlreicher Orte, die aus der Bibel und den Nachrichten wohlbekannt und mit entsprechenden Emotionen überladen sind – diese „Belastung“ ist meist nur der Trigger, der die Psychose wieder ausbrechen lässt. Es gibt auch Menschen, deren Verhalten zwar vergleichbar scheint, die aber „nur“ unter religiös-paranoiden Ideen leiden – aber nicht unter einer Psychose. Die seltenste Gruppe sind Menschen, die in Jerusalem (oder einem vergleichbaren Ort) scheinbar aus dem Nichts heraus ein Jerusalem-Syndrom entwickeln.
Wahnvorstellungen und Halluzinationen
Eine solche akute Psychose besteht aus Wahnvorstellungen („ich bin Jesus“), aber auch aus Halluzinationen („die Stimmen geben mir Befehle“). Für die Betroffenen ist das Geschehen vollkommen real – egal ob Jerusalem-Syndrom oder eine andere Psychose. Einer meiner Patienten in der Psychiatrie sah den Teufel neben sich stehen – und war fassungslos, dass wir ihn nicht sehen konnten. Beruhigende Worte halfen ihm nicht, der Teufel war für ihn echt. Und er hielt sich selbst für gesund!
Aber ebenso echt war die Wirkung der Medikamente und der nichtmedikamentösen Therapie: schnell und hochwirksam. Beim Jerusalem-Syndrom reicht meist schon die Abreise nach Hause – in der gewohnten Umgebung klingen die Symptome oft von alleine ab. Aber auch für andere Psychosen gilt: Sie sind sehr gut zu behandeln.