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GutachtenSteuersenkung hinterlässt riesiges Finanzloch in Leverkusen

7 min
Manfred Busch zeigt Laura Herrmann, Claudia Wiese und Christoph Kühl seine Berechnungen.

Manfred Busch zeigt Laura Herrmann, Claudia Wiese und Christoph Kühl seine Berechnungen.

Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls ein Gutachter, den die Grünen beauftragt hatten.

„Leverkusen hat sich verzockt“ – zu diesem Schluss kommen die Leverkusener Grünen auf Grundlage eines Gutachtens zum Grundsteuerhebesatz, dessen Ergebnisse jetzt vorliegen. Verfasst hat das Gutachten im Auftrag der Grünen der Parteifreund, Wirtschaftswissenschaftler und frühere Kämmerer Manfred Busch. Mittlerweile gibt der 71-Jährige Seminare zum Thema Gemeindefinanzierung. Was er jetzt ausgearbeitet hat, kann er dabei gut gebrauchen: Leverkusen als Negativbeispiel einer misslungenen Gewerbesteuerpolitik.

Claudia Wiese, Fraktionsvorsitzende der Grünen, ist wichtig zu betonen, dass es mit der Veröffentlichung des Gutachtens nicht darum gehen soll, Fehler in der Vergangenheit anzuklagen. „Auch wenn die Grünen sich bei der Abstimmung über die Hebesatzsenkung enthalten haben, gab es auch hier die Grundstimmung: Das ist ein kluger Schritt, Monheim hat ja auch davon profitiert.“ Nach sechs Jahren und in der großen Haushaltskrise sei es jetzt aber an der Zeit, die Auswirkungen genau zu analysieren und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Das Ganze ist komplex – eine Aufschlüsselung in Fragen und Antworten:

Was genau hat Leverkusen mit dem Gewerbesteuersatz gemacht?

2019 hat der Leverkusener Stadtrat beschlossen, den Gewerbesteuerhebesatz von 475 Punkte auf 250 Punkte zu senken. Der durchschnittliche Hebesatz der kreisfreien Städte in NRW liegt bei 484. Das Finanzamt ermittelt anhand der Bilanzen der ansässigen Unternehmen die jeweiligen Grundsteuer-Messbeträge, diese werden mit dem geltenden Hebesatz multipliziert. Daraus ergibt sich die Brutto-Gewerbesteuer, die Unternehmen an die Stadt zu zahlen haben. Die Stadt Leverkusen hat die Hoffnung, dass sich durch die Steuererleichterung mehr Unternehmen hier ansiedeln und die Messbeträge so stark steigen, dass trotz niedrigerem Hebesatz die Einnahmen steigen.

Hat das funktioniert?

Auf den ersten Blick zunächst ja: 2022 und 2023 hat die Stadt deutlich höhere Messbeträge gemeldet, auch mit steigenden Brutto-Einnahmen. 2024 folgte dann der Absturz, bedingt zum einen durch wirtschaftliche Faktoren, aber auch durch eine Überbezahlung im Vorjahr, die 2024 zurückgezahlt werden musste. Noch wesentlich teurer zu Buche schlagen laut Busch allerdings Auswirkungen der Hebesatzsenkung auf die Schlüsselzuweisungen und Umlagen.

Was sind Schlüsselzuweisungen?

Das NRW-Gemeindefinanzierungsgesetz sieht vor, dass die 396 Gemeinden entsprechend ihrer Finanzkraft unterstützt werden. Dafür steht ein Topf von 10,9 Milliarden Euro zur Verfügung. Den Gewerbesteuerhebesatz darf jede Gemeinde für sich selbst festlegen, um den Standort attraktiv zu machen. Das Land allerdings nimmt aus Fairnessgründen zur Berechnung der Finanzkraft der Gemeinde nicht die Netto-Einnahmen, sondern wendet auf den Gewerbesteuermessbetrag einer Gemeinde einen einheitlichen Hebesatz an, der für kreisfreie Städte bei 434 Punkten liegt. Grundlage ist also nicht, was eine Gemeinde tatsächlich an Gewerbesteuereinnahmen in der Kasse hat, sondern der Messbetrag mal 434 Punkte. Dementsprechend werden die Schlüsselzuweisungen verteilt.

Was bedeutet das für Leverkusen?

Ein Rechenbeispiel auf der Basis von Zahlen von 2019: Ein Gewerbesteuer-Messwert von knapp 35 Millionen Euro ergab mit einem Hebesatz von 475 Punkten gut 165 Millionen Euro Brutto-Einnahmen. Der nivellierte Wert (mal 434 Punkte) lag bei 151 Millionen – das ergibt Schlüsselzuweisungen von 98 Millionen Euro. Plus weitere Steuereinnahmen und abzüglich der Umlagen ergeben sich fiskalische Netto-Erträge von 361 Millionen Euro.

Es läuft nicht rund zurzeit: Die größten Einzel-Steuerzahler sitzen immer noch im Chempark. Foto: Ralf Krieger

Einnahmen aus dem Chempark sprudeln nicht mehr wie früher.

Im aktuellen Haushaltsplan der Stadt für 2026 werden optimistische 63,5 Millionen Euro an Messbeträgen in Aussicht gestellt – also fast doppelt so viel wie im vorigen Beispiel. Allerdings entsteht dadurch laut Buschs Berechnung kein besseres Ergebnis – im Gegenteil. Mal 250 Punkte ergeben sich Brutto-Einnahmen von 159 Millionen Euro, schon das ist weniger als 2019 mit höherem Hebesatz. Aber vor allem errechnet das Land daraus einen nivellierten Wert von 276 Millionen – damit fallen die Schlüsselzuweisungen auf null. Rechnerisch ist Leverkusen zu reich, um vom Land unterstützt zu werden. Gleichzeitig steigen die Gewerbesteuer- und die LVR-Umlage. Netto-Ergebnis: 243 Millionen Euro. Ein Minus von 118 Millionen Euro gegenüber 2019 bei verdoppeltem Gewerbesteuermessbetrag. Um mit dem aktuellen Hebesatz an den Punkt zu kommen, an dem Gewerbesteuereinnahmen die wegfallenden Schlüsselzuweisungen und steigenden Abgaben kompensieren, müssten Messbeträge von mehr als 123 Millionen Euro erreicht werden – also noch einmal doppelt so viel wie aktuell von der Kämmerei erhofft wird.

Und das ist bislang niemandem aufgefallen?

„Ich habe im Bericht des Rechnungsprüfungsausschusses für das Jahr 2023 Hinweise gefunden, dass dort die Auswirkungen auf die Schlüsselzuweisungen aufgefallen sind“, sagt Busch. Der wurde Ende 2024 vorgelegt – da war die Haushaltskrise also schon bekannt. Ein Problem ist auch, dass die Schlüsselzuweisungen immer auf Grundlage von Daten aus dem Vorjahr berechnet werden. Daher dauere es mindestens 1,5 Jahre, bis Auswirkungen offensichtlich werden. „Auch durch Sondereffekte aufgrund der Pandemie und des Ukraine-Kriegs ist die Katastrophe zunächst verschleiert worden“, sagt Busch.

Warum hat es denn in Monheim funktioniert und hier nicht?

Zum einen war Monheim die erste Gemeinde, die die Gewerbesteuer so massiv gesenkt hat. Dadurch hatte die Stadt einen noch größeren Markt an umzugswilligen Unternehmen. Außerdem waren die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen – vor Corona und Ukraine-Krise – andere. So hat Monheim seine Einnahmen tatsächlich so stark gesteigert, dass sie zwischenzeitlich nicht auf höhere Hebesätze und Schlüsselzuweisungen angewiesen waren. Mittlerweile funktioniert das aber auch nicht mehr. Und es hätte in Leverkusen durchaus auch funktionieren können: Die Verwaltung hat mit mehreren großen Unternehmen Verhandlungen über eine Umsiedlung geführt, bekannt ist zum Beispiel, dass die Axa-Versicherung in Erwägung gezogen hatte, ihren Hauptsitz nach Leverkusen in das Montanus-Quartier zu verlegen. Wäre es gelungen, zwei bis drei Unternehmen mit Milliardenumsätzen dauerhaft nach Leverkusen zu holen, hätte das Konzept aufgehen können.

Wenn man jetzt den Hebesatz wieder anhebt, besteht aber die Gefahr, dass Unternehmen die Stadt wieder verlassen?

Ja. Busch hat ermittelt, dass der größte Zuwachs seit der Steuersenkung in den Bereichen „Verwaltung und Führung von Unternehmen“ stattgefunden hat – Firmen, die ihren Sitz nach Leverkusen verlegt haben. „Die sind als Erstes wieder weg“, sagt Busch. Allerdings gibt es kaum Zufluchtsmöglichkeiten – außer Monheim haben alle Gemeinde höhere Gewerbesteuerhebesätze. Dennoch müsste man mit einer Abwanderung rechnen. Aber: Wenn Leverkusen den Hebesatz wieder auf die vor 2019 geltenden 475 Punkte heben würde und dadurch der Gewerbesteuermessbetrag um die Hälfte der angestrebten 63,5 Millionen Euro auf 31,7 Millionen Euro fallen würde, stünde am Ende gegenüber der aktuellen Berechnung immer noch ein Plus von 115 Millionen Euro – weil das Land dann wieder Schlüsselzuweisungen in Höhe von fast 110 Millionen Euro zahlen würde.

Also rät der Experte dazu, den Hebesatz wieder anzuheben?

Darauf legt er sich nicht fest, das müsse die Leverkusener Verwaltung und Politik für sich entscheiden und durchrechnen. Es sei ja zum Beispiel auch möglich, behutsam an die Sache ranzugehen und den Satz schrittweise anzuheben. Klar ist für ihn: „Aus dem Haushalt 270 Millionen einzusparen zu wollen, ist Wahnsinn.“ Das sei nicht zu schaffen, ohne die Einnahmen zu erhöhen. Also müssen entweder finanzstarke Unternehmen in die Stadt kommen – oder der Hebesatz muss wieder steigen, vor allem, wegen der Schlüsselzuweisungen.

Wie geht es jetzt weiter?

Die Grünen werden das Gutachten der Finanzverwaltung und Politik zur Verfügung stellen und hoffen, dass man sich dort ernsthaft und ergebnisoffen damit befasst, eine Handlungsempfehlung wollen sie nicht abgeben. „Wir wollen ein kluges Gesamtkonzept“, sagt Grünen-Ratsfrau Laura Herrmann. Man müsse auch bedenken, dass Unternehmen auch eine funktionierende Stadtverwaltung brauchen, die in der Lage ist, Genehmigungen auszustellen und die Digitalisierung voranzutreiben, sonst nützt auch die niedrigste Gewerbesteuer nichts. 


Dr. Manfred Busch

Dr. Manfred Busch, Experte für Gemeindefinanzierung

Zur Person: Dr. Manfred Busch, geboren 1954 in Mülheim an der Ruhr, hat Wirtschaftswissenschaften in Bochum studiert und promoviert. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag (1983 – 1990); Mitglied des Landtages NRW mit Schwerpunkte Haushalt, Finanzen, Energie (1990 – 1998); Parlamentarischer Geschäftsführer (1995 – 1998); Kämmerer der Stadt Wesel (1998 – 2005); Kämmerer der Stadt Bochum (2005 – 2017), Mitglied im Finanzausschuss des Städtetags NRW und auf Bundesebene. Aktuell lehrt er am Institut für Verwaltungswissenschaften in Gelsenkirchen und veröffentlicht Texte Zeitschrift für kommunale Finanzwirtschaft. (stes)