Renate Brockerhoff erlitt bei ihrer Geburt eine Hirnschädigung. Wie sie ihr Leben trotz Spastiken meistert, darüber hat sie ein Buch geschrieben.
„Wackeltante“Kölnerin schreibt über ihr Leben mit Behinderung

Renate Brockerhoff, hier in ihrem Garten in Klettenberg, meistert ihr Leben trotz Spastiken.
Copyright: Susanne Hengesbach
„Ich finde, ich habe richtig Glück gehabt“, sagt Renate Brockerhoff, die an einem Tisch im Sülzer Café Laura sitzt. Das ist ein bemerkenswerter Satz aus dem Mund einer Frau, die in dem Moment, als ihr Leben beginnen soll, tot ist. Dass es nach zehn quälenden Minuten schließlich doch gelang, das kleine Herz zum Schlagen zu bringen, findet die heute 62-Jährige rückblickend „sensationell“. Die Folge des Sauerstoffmangels: Brockerhoff kann Bewegungsprozesse nicht gezielt steuern, doch für sie gilt: „Es hätte alles viel schlimmer kommen können!“ Die damals geglückte Reanimation kann man als ersten Schritt im Lebenskampf der Kölnerin betrachten; das wirklich Bewundernswerte jedoch ist Renate Brockerhoffs positive Grundhaltung. „Das ist mein Naturell“, betont sie lächelnd. „Verzweiflung hatte ich nie!“
Irreparable Hirnschädigung wegen Sauerstoffmangels unter der Geburt
Neben dem Tisch steht ihr Rollator. Auf dem Café-Tisch liegt das erst vor kurzem fertig gewordene Buch „Wackeltante“. Brockerhoff hat hier die liebevoll gemeinte Bezeichnung ihrer Großmutter aufgegriffen. Im Latte Macchiato-Glas neben dem Buch steckt das Hilfsmittel, das ebenfalls Titel-Chancen hatte: „Der Strohhalm – mein ständiger Begleiter.“
Brockerhoffs Lebensgeschichte ist eine, bei der man sich an mehreren Stellen die „Was-wäre-wenn“-Frage stellt. Was wäre gewesen, wenn der damals zuständige Arzt nicht darauf beharrt hätte, dass sich die werdende Mutter mit dem Geburtstermin verrechnet habe. So kam es nämlich, dass der Säugling ganze vier Wochen länger in der Gebärmutter heranwuchs und schließlich – viereinhalb Kilo schwer – nicht mehr durch den Geburtskanal passte. Man mag sich nicht ausmalen, wie schmerzhaft der Geburtsprozess für beide Beteiligten war; schon gar nicht, wenn man erfährt, dass bei dem Bemühen, das Baby aus dem Körper der Mutter herauszuzerren, dessen Schlüsselbein brach.
Ob man mit einem Notkaiserschnitt ein gesundes Mädchen hätte auf die Welt holen können – eines, das nicht aufgrund der minutenlangen Unterversorgung mit Sauerstoff eine irreparable Hirnschädigung davontragen würde – auch diese Frage stellt sich Renate Brockerhoff nicht. „Ich kenne es nicht anders“, sagt sie. Dabei lächelt sie und wirkt so entspannt, dass man keine Anzeichen von Spastiken erkennt, die so zuverlässig zu ihrem Leben gehören wie der Strohhalm, den sie benutzt, weil sie mit ihren durch die Spastiken verkrampften Händen ein Gefäß nur schwer greifen kann.
Kölnerin schreibt an damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble
Brockerhoffs Biografie beginnt als tragische Geschichte, aber sie ist viel mehr noch ein Aufruf, nicht den Kopf in den Sand zu stecken. „Sich durchzubeißen“, wie sie sagt. „Sich nicht so schnell abwimmeln zu lassen“, sondern zu kämpfen. Kämpfen hat sie gelernt. Und auch, dass es sich auszahlt. Als sie sich nach ihrem Studium als Dolmetscherin für Englisch und Französisch an der Bundessprachenschule in Hürth bewirbt, will man ihr die Tür nicht mal einen Spalt breit öffnen. Eine Person, die sich wackelnd fortbewegt und noch dazu undeutlich spricht, möchte keiner einstellen.
Ergo schreibt Brockerhoff an Wolfgang Schäuble, „der damals schon zwei Jahre im Rollstuhl saß“. Sie rechnet nicht einmal damit, dass ihr Brief ankommt und schon „erst recht nicht mit einer Antwort“. Tatsächlich setzt sich der damalige Innenminister persönlich für sie ein, so dass sie innerhalb von vier Wochen den Job erhält, den sie bis zum Beginn ihrer Rentenzeit im Jahr 2019 ausübt.
Lebensverändernd wirkt nicht nur ihr Schreiben an den CDU-Politiker, sondern auch die Begegnung mit dem Mann, der sie eines Abends vor dem damaligen Millowitsch-Theater nach der Uhrzeit fragt. Er hatte eine Verabredung im Bauturm-Café – sie noch Zeit bis Vorstellungsbeginn. Also steht sie – zum Glück – noch im Foyer, als der Mann ein zweites Mal auf sie zukommt und sagt: „Ich würde Sie gerne kennenlernen!“
Inzwischen sind die beiden seit fast 30 Jahren verheiratet – leben in der Wohnung, die Brockerhoff, die in Bad Godesberg zur Welt kam, vor 41 Jahren bezog. Manche Alltäglichkeiten fallen ihr schwer. Beim Kartoffelschälen etwa, erklärt sie, müsse sie passen. Aber beim Schreiben schafft sie „150 Anschläge in der Minute“, obwohl sie rechts und links nur jeweils einen Finger benutzen kann.
Als Übersetzerin beherrscht sie drei Sprachen. Und trotzdem, erzählt sie, erlebe sie es häufig, dass dann, wenn sie jemandem eine Frage stelle, ihr Mann und nicht sie die Antwort bekomme. „Wenn man die Mimik nicht beherrscht“, sagt Brockerhoff, gehe das Gegenüber leider oft davon aus, eine geistig behinderte Person vor sich zu haben. Deshalb wäre aus ihrer Sicht so viel gewonnen, wenn Kinder bereits in der Grundschule mehr über Behinderung erführen.
Was Menschen mit Handicap hierzulande widerfährt – darüber könnte Brockerhoff ein zweites Buch schreiben. Die Betonung „hierzulande“ ist in dem Zusammenhang wichtig, weil es in ihren Augen anderswo besser funktioniert. „Die Niederlande sind ein Vorzeigeland. Da werde ich auch nicht so angeglotzt wie hier!“ Noch unbefangener und entspannter funktioniere das Miteinander in Großbritannien.
Apropos funktionieren: „Die Aufzüge in Köln – zum Beispiel am Neumarkt…“, sagt Brockerhoff und lächelt vielsagend. Ein Grollen – selbst wenn berechtigt – würde auch nicht zu ihr passen.
Renate Brockerhoff, „Wackeltante - wie ich auf meinem holprigen Weg vorankam“, gibt es zum Beispiel im Buchladen Sülzburgstraße. Die in einem Din-A-4 Format erschienene, in Leinen gebundene Ausgabe kostet 40,99 Euro.