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Ungeahnte Einblicke101-jährige Kölnerin übersetzt 250 Briefe eines Weltkriegssoldaten

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Die 101 Jahre alte Margret Küster mit einem von 250 in Sütterlin-Handschrift verfassten Briefen, die der Vater von Ludger Bunten im Zweiten Weltkrieg von der Ostfront geschickt hat.

Die 101 Jahre alte Margret Küster mit einem von 250 in Sütterlin-Handschrift verfassten Briefen, die der Vater von Ludger Bunten im Zweiten Weltkrieg von der Ostfront geschickt hat.

Margret Küster aus Sülz hat innerhalb von zwei Monaten 250 in Sütterlin geschriebene Briefe in Druckschrift übertragen.

Margret Küster kann mit dem Begriff „Cliffhanger“ nichts anfangen. Aber sie weiß sehr gut, wie es sich anfühlt, wenn man auf der letzten Seite angekommen ist, und unbedingt wissen will, wie die Geschichte weiter geht – sich dann aber gedulden muss, weil die Fortsetzung noch auf sich warten lässt.

Nun ist es nicht so, dass Lesestoff-Lieferant Ludger Bunten die alte Dame bewusst auf die Folter spannen wollte und sich deshalb besonders viel Zeit genommen hat, bis er mit neuem Material in der Tasche wieder in der Gustavstraße vor der Tür stand. Der 67-jährige Gesamtschullehrer hatte eher die Sorge, dass Frau Küster sich sonst auch noch nachts an den Küchentisch ihrer Erdgeschosswohnung setzen, den Kugelschreiber zücken und loslegen würde.

101-Jährige übersetzt Feldpost in Sütterlin

Denn eines hat der studierte Politologe in den letzten Wochen gelernt: Unterschätze nicht die Einsatzbereitschaft einer Hundertjährigen – beziehungsweise 101-Jährigen – um in Bezug auf Margret Küster präzise zu sein. Bunten kann noch immer kaum glauben, dass er gerade einer Frau gegenübersitzt, die in der Schule noch zwei unterschiedliche Schreibschriften gelernt hat und sich aufgrund dieser Fähigkeit nun seit Wochen als unermüdliche Dolmetscherin betätigt. Wie es dazu kam, erzählt der Mann, der gebürtig aus Odenburg stammt, aber seit über 30 Jahren in Sülz wohnt, im Wohnzimmer der alten Dame, wo mehrere prall gefüllte Ordner auf dem Sofa liegen.

Aus Anlass des Todes seines Bruders war Bunten vor etwa fünf Jahren in sein Elternhaus in Lindern zurückgekehrt, das ursprünglich mal ein Bauernhof gewesen war. Dort stieß er auf eine umfangreiche Sammlung von Feldpost seines 1905 geborenen Vaters, mit der bislang allerdings niemand etwas anfangen konnte, weil alle Briefe in der alten Sütterlin-Schreibschrift verfasst waren.

Als Person mit großem Geschichtsinteresse wollte Bunten wissen, was sein Vater von der Front berichtet hatte und begab sich auf die Suche nach jemandem, der ihm den schriftlichen Nachlass entschlüsseln konnte. Er probierte es an verschiedenen Stellen – unter anderem beim Haus der Geschichte in Bonn – fragte dann seinen Hausarzt nach betagten Patienten und wandte sich schließlich an Michaela Bassiner, die Leiterin des Seniorennetzwerks der evangelischen Kirchengemeinde Köln-Klettenberg. Sie hatte die Idee, mal einen der Briefe in die Gruppe der alten Damen mitzunehmen, die seit vielen Jahren immer donnerstagnachmittags zum Kaffeekränzchen in der Einhardstraße zusammenkommt.

Einblicke in das Leben des Vaters

Die ersten Reaktionen auf die Frage: „Kann das jemand lesen?“, waren eher entmutigend. Dann gelangte der Brief in die Hände von Margret Küster, der Ältesten aus der Runde, die sogleich anfing, das Geschriebene fließend vorzulesen. Bingo!

Margret Küster beim Übertragen der in Sütterlin geschriebenen Briefe in Druckschrift.

Margret Küster beim Übertragen der in Sütterlin geschriebenen Briefe in Druckschrift.

So kam es, dass Ludger Bunten vor knapp einem Vierteljahr auf die 101-Jährige traf; ein Moment, den man rückblickend als den Beginn einer wunderbaren Freundschaft bezeichnen könnte, die sich für beide Beteiligten als unerwartet fruchtbar erwies.

Nachdem klar war, dass Margret Küster keine Probleme hatte, die Schrift zu entziffern, habe sie, wie sie erzählt, die ersten Briefe mit nach Hause genommen „und die dann ruckzuck übersetzt.“ Bunten nickt lachend, als das Wort „ruckzuck“ fällt; er artikuliert immer wieder seine Begeisterung über die geistige Fitness seiner Dolmetscherin.

Während ihr die Briefe des Soldaten Bunten neue Einblicke in das Kriegsgeschehen vermittelten – „ich kannte bisher niemanden, der an der Ostfront war“ – entdeckte Ludger Bunten durch diese Briefe „Seiten meines Vaters, die ich noch gar nicht kannte“.

In der Zeit von Juli 1939 bis Mai 1945 verschickte der Soldat Hermann Theodor Bunten rund 300 Briefe von der Ostfront in seine Oldenburger Heimat.

In der Zeit von Juli 1939 bis Mai 1945 verschickte der Soldat Hermann Theodor Bunten rund 300 Briefe von der Ostfront in seine Oldenburger Heimat.

Zwischen Front, Hunger und Heimkehr

Hermann Theodor Bunten war 34 Jahre alt, als er im Juli 39 eingezogen wurde. Anfangs sei er noch total überzeugt von der Sache gewesen und selbst später, als sich immer mehr Niederlagen abzeichneten und die Verluste größer und größer wurden, blieb der Glaube, „dass es der Führer schon richten“ werde. Erst ganz am Schluss, sagt sein Sohn, habe man den Briefen deutlich entnehmen können, „dass er nur noch wünschte, dass endlich alles vorbei ist und er nach Hause“ könne.

„Dreimal am Tag Kartoffelsuppe essen“ wolle er dann, habe der Vater an einer Stelle mitgeteilt. Wie er ohnehin oft vom Hunger schrieb. Aber auch davon, dass wieder welche gefallen seien. Er selber hatte vergleichsweise Glück und bekam nur ein Magengeschwür. Als er im Mai 1945 als Obergefreiter heimkehrte – dekoriert unter anderem mit der Ostmedaille für die Teilnahme an der Winterschlacht im Osten (1942) war er außer kleineren Granatsplittern unversehrt. Er heiratete ein Jahr nach Kriegsende und wurde Vater von zwölf Kindern. Allerdings sprach er mit denen nie über das Erlebte. „Er hat die Traumata zeitlebens mit sich rumgeschleppt.“

Die vielen Briefe, die er in den sechs Jahren von der Front schrieb, waren praktisch die einzige Verbindung zur Heimat. Er mache sich Sorgen um das Vieh und den Bauernhof, der damals vom Bruder geleitet wurde. Für Sohn Ludger sind diese Schriftstücke heute ein Ersatz für die Gespräche, „die ich nicht mehr mit meinem Vater führen konnte“. Insofern ist er Margret Küster sehr dankbar für ihre Arbeit.

Sie hat sich da allerdings auch richtig reingefuchst. Mitunter saß sie lange da und rätselte: „Wie kann das Wort heißen, was da mitten im Satz steht?“ Mit viel Fantasie habe sie es aber immer rausgekriegt. Oft habe sie gezwungenermaßen aufhören müssen, weil ihr Arbeitsplatz in der Küche nicht so gut beleuchtet sei. „Dann habe ich alles an die Seite gelegt, bis es wieder hell war.“ Und wenn sie ihre Arbeit erledigt hatte, wartete sie auf den nächsten Montag. Anfang der Woche, wusste sie, würde Ludger Bunten mit neuem Material auf der Matte stehen. Und manchmal auch mit selbst gekochtem Rindergulasch mit Rotkraut oder mit grüner Bohnensuppe.

Inzwischen sind 250 Briefe übersetzt und akkurat in Druckschrift übertragen. „Unglaublich!“, sagt der 67-Jährige und schaut zu Margret Küster, die vor der Bücherwand im Sessel sitzt und ihn so anschaut, als wollte sie sagen: „Wie jetzt? Das wird doch wohl noch nicht alles gewesen sein!“