Vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Die Erlebnisse aus dem Krieg prägten jedoch auch diejenigen, die ihn gar nicht erlebten. Der Kölner Professor Johannes Ehrenthal erklärt im Interview, wie ein Trauma über Generationen weiterleben kann.
Transgenerationales Trauma„In meiner Familie haben die Männer immer getrunken“

Ein Mädchen aus einem Flüchtlingstreck mit ihrer Puppe im Arm in den Wirren der Nachkriegszeit.
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Herr Professor Ehrenthal, wie sehr prägen unsere Vorfahren unser Denken, Fühlen und Handeln?
Sehr. Schließlich sind wir Menschen soziale Wesen und entwickeln uns in diesen sozialen Gruppen. Erfahrungen und Werte werden an Nachkommen weitergegeben. Wenn Eltern zum Beispiel als Kind den Hungerwinter 1946/47 erlebten, hat Essen für sie vielleicht einen besonders hohen Stellenwert. Dies kann dazu führen, dass es auch ihren Kindern besonders schwerfällt, Lebensmittel wegzuwerfen, ohne selbst Erfahrungen mit Hunger gemacht zu haben.
Als der Zweite Weltkrieg vor 80 Jahren endete, glich Europa in großen Teilen einem Trümmerfeld. Wie hoch schätzen Sie den Anteil an Menschen mit Traumatisierung nach Kriegsende ein?
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Genaue Zahlen haben wir dazu nicht. Heute geht man davon aus, dass etwa 30 bis 40 Prozent der erwachsenen Deutschen im Laufe ihres Lebens ein Traumaereignis erlebt haben. Dieses führt in zehn bis 30 Prozent der Fälle zu einer Traumafolgestörung. Die Forschung zeigt: In Kriegsregionen haben manchmal bis zu 100 Prozent der Menschen ein Traumaereignis erlebt, also eine Situation, die ihr Bild von der Welt und ihr Gefühl der eigenen Sicherheit schwer erschütterten. Insofern wird die Zahl damals nicht nur in anderen Ländern in Europa und der Welt, sondern auch in Deutschland sehr hoch gewesen sein.
Was versteht man unter dem Begriff des Transgenerationalen Traumas?
Er beschreibt die Auswirkungen dieser Traumatisierung auf die Nachkommen. Kinder von Holocaust-Überlebenden leiden zum Beispiel überdurchschnittlich häufig an psychischen Erkrankungen wie einer posttraumatischen Belastungsstörung. Das haben Forschungen aus Israel und Nordamerika gezeigt. Das bedeutet nicht, dass Trauma wie von Wunderhand genetisch weitervererbt werden. Aber wenn Eltern an Traumafolgestörungen leiden, ist das ein Risikofaktor für ihre Kinder. Diese familiäre Belastung kann auch in der Enkelgeneration spürbar sein. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Patienten, der berichtete: In meiner Familie väterlicherseits haben die Männer seit dem Zweiten Weltkrieg immer getrunken. Die Forschung zeigt aber: In der Regel sinkt mit jeder neuen Generation die direkte Belastung durch das Trauma.
„Eltern, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden, neigen manchmal zu einer höheren Reizbarkeit“
Wie gibt man – vielleicht auch unbewusst – eigene Traumata an die Kinder weiter?
Hier spielen zwei Bereiche eine Rolle: Indirekte und direkte Folgen der belastenden Lebenserfahrung. Bei den indirekten Folgen ließe sich zum Beispiel an Auswirkungen auf die Bindungsfähigkeit denken. Gerade in den ersten Lebensjahren ist eine sichere Bindung zu Bezugspersonen für Kinder extrem wichtig. Selbst unter stabilen gesellschaftlichen Verhältnissen entwickeln nur 60 Prozent der Kinder diese sichere Bindung, 40 Prozent sind unsicher gebunden. Bindungsunsicherheit ist damit einerseits ein normaler Aspekt, wie Menschen sind, andererseits manchmal im späteren Leben ein Risikofaktor für den Umgang mit sich und anderen. Auch hier kann Krieg frühe Bindungserfahrungen beeinflussen.
Bei den direkten Folgen geht es oft um Schwierigkeiten, die sich aus eingeschränkten Kapazitäten der Eltern aufgrund eigener Bewältigungsversuche für belastende Erfahrungen ergeben. Eltern, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden, neigen manchmal zu einer höheren Reizbarkeit und Aggressivität, auch wenn sie versuchen, so gut es geht für ihre Kinder da zu sein. Kinder brauchen aber Bezugspersonen, die aushalten, dass sie einfach Kind sind. Manchen traumatisierten Eltern fällt es dazu schwerer, innerlich für ihr Kind da zu sein: Sie ziehen sich zurück, vernachlässigen das Kind dadurch oder reagieren unvorhersehbar, was beim Kind wiederum Ängste auslösen kann oder eine Rollenumkehr, dass sie sich um die Eltern kümmern, obwohl sie selber die Eltern bräuchten. Das ist natürlich tragisch und die meisten betroffenen Eltern machen sich deshalb Vorwürfe.
In Kriegszeiten nimmt auch die sexuelle Gewalt enorm zu. Wie sehr prägen diese Übergriffe auch die Kinder dieser Frauen?
Der Anteil der Menschen, die nach menschengemachten Traumaereignissen wie einer Vergewaltigung eine Traumafolgestörung entwickeln, ist stark erhöht. Die Anerkennung der posttraumatischen Belastungsstörung verdanken wir heute unter anderem der Frauenrechtsbewegung. Vielleicht spielen hier sogar transgenerational die Übergriffe im Zweiten Weltkrieg eine Rolle:
Die Erfahrung von sexualisierter Gewalt kann nämlich einerseits dazu führen, dass sich zum Beispiel eine Mutter aufgrund ihrer Folgestörung distanziert verhält oder besonders ängstlich. Einige Mütter werden aber auch kämpferisch: Was ihnen passierte, soll ihren Kindern niemals passieren. Dazu gehört, dass sie ihren Töchtern und Söhnen helfen, sich auf solche Ereignisse vorzubereiten. Die Kinder sollen sich wehren können und lernen, Nein zu sagen.

Johannes Ehrenthal (43) ist Professor für Klinische Psychologie und empirisch-quantitative Tiefenpsychologie an der Universität Köln
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Eltern geben ihren Kindern also diesbezüglich eine Prägung mit?
Genau. In der Psychologie wird dies mit dem etwas schwierig klingenden Begriff des posttraumatischen Wachstums beschrieben: Jemand schafft es, aus dem schrecklichen Erlebnis eine Haltung zu finden, die nicht nur das Weiterleben ermöglicht, sondern auch die Werte prägt, die er oder sie weitergibt.
Durch die Psychologie – und das Internet – geistert zu transgenerationalem Trauma der Satz: „Schmerz wandert durch die Familien, bis jemand bereit ist, ihn zu fühlen.“
Ich würde es anders beschreiben. Was bei manchen als Schmerz erlebt wird, muss nicht in der nächsten Generation ebenfalls als Leid erlebt werden. Es ist eher eine Welle, ein Impuls, der durch die Generationen geht. Manchmal läuft dieser Impuls einfach aus, manchmal türmt er sich auf.
Was sollten Familienmitglieder bei ihren traumatisierten Angehörigen beachten?
Die Grenzen der anderen Person zu akzeptieren, ist wichtig. Es gibt gute Gründe, wieso manche Betroffene über Jahrzehnte nicht über ein Traumaereignis sprechen wollen – solche Gespräche kann man nicht erzwingen. Wer es trotzdem suchen möchte, sollte zuerst prüfen, was die eigenen Fragen sind. Dann kann man der Person erklären, wieso einen oder eine selbst ein Interesse umtreibt. Vorher sollte man sich Gedanken darüber machen, in welcher Umgebung ein solches Gespräch am leichtesten fallen könnte.
Krieg, Bombardierungen und Gewalt prägen derzeit den Alltag vieler Ukrainerinnen und Ukrainer. Prägt dieser Krieg gerade auch die Psyche von Ukrainern, die noch nicht einmal geboren sind?
Studien aus der Ukraine und mit geflüchteten Ukrainern in Polen, Dänemark und anderen Ländern zeigen sehr hohe Raten von posttraumatischen Belastungsstörungen. Zwischen 50 und 60 Prozent der Teilnehmer sind davon betroffen. Auch die nachfolgenden Generationen werden von den Erfahrungen ihrer Eltern geprägt sein; in welcher Form, hängt stark von den Unterstützungsangeboten für diese Menschen ab. Können die Betroffenen zur Ruhe kommen und die Traumata verarbeiten? Werden sie von einem sozialen Netz aufgefangen? Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen nach dem Traumaereignis sind ein Risikofaktor.
Wie kann man selbst versuchen, Traumata nicht an die eigenen Kinder weiterzugeben?
Zunächst ist es wichtig, dass man sich eigener Lebenserfahrungen und Lebensthemen bewusst ist. Gibt es etwas, das mich stärker beschäftigt oder im Alltag beeinträchtigt als andere Leute? Dabei kann es helfen, mit Familienmitgliedern, Freunden oder anderen Vertrauenspersonen darüber zu sprechen. Sind die Belastung und die Folgen so stark, dass sie Leid erzeugen, ist eine Psychotherapie ratsam. Viele traumabedingte Störungen lassen sich gut behandeln.
Zur Person: Johannes Ehrenthal (43) ist Professor für Klinische Psychologie und empirisch-quantitative Tiefenpsychologie und Leiter der Psychodynamischen Hochschulambulanz an der Universität zu Köln. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die Psychotraumatologie.