Die Influencerin stellt sich bewusst veralteten Denkstrukturen in der Gesellschaft in den Weg.
SexualitätWarum Nine aus dem Kölner Umland mit 30 Jahren „Jungfrau“ ist

Unter dem Namen „Nineistlaut“ äußert sich die Influencerin aus dem Raum Köln zum Thema Jungfräulichkeit und sexuelle Entwicklung auf ihren Social Media-Kanälen.
Copyright: Privat
Nine bezeichnet sich selbst als „Jungfrau“. Die 30-Jährige kommt aus dem Raum Köln – woher genau, will sie aus Sicherheitsgründen nicht verraten. „Jungfrau mit 30“ – was wie der Titel eines Romans klingt, ist für Nine Realität. Sie ist aber keineswegs verbittert oder einsam. Ganz im Gegenteil: Auf ihren Social-Media-Kanälen zeigt sie sich fröhlich, laut und voller Energie. Sie möchte mit der Welt über sich selbst reden, über Intimität, Beziehung und gesellschaftliche Normen, die manche Menschen erdrücken. Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat gefragt, was sie antreibt und wie die Menschen auf sie reagieren.
Bitte erzähl uns etwas über dich. Was machst du beruflich?
Nine: Ich bin Nine, 30 Jahre alt und habe Ende letzten Jahres mein Masterstudium in „Öffentlicher Kommunikation“ in Jena abgeschlossen.
Du sprichst auf deinen Social-Media-Kanälen über Intimität, Freundschaft und Liebe. Wie hat sich dein Leben in Bezug auf diese Themen entwickelt? Welche Formen der Intimität hast du selbst erlebt, welche nicht?
Emotionale Intimität ist für mich alles und meine Priorität lag – früher unbewusst, heute bewusst – immer bei tiefen, engen Freundschaften statt beim Dating. Meine Freundschaften sind mir heilig, und ich sehe sie nicht als weniger wert als romantische Beziehungen.
In Sachen Liebe bin ich eher unsicher, ich habe einfach wenig Erfahrung außer meiner ersten großen Liebe mit zwölf und ein paar Crushes danach. Ich hatte aber generell immer sehr hohe Standards, würde ich sagen. Die haben sich in Sachen Sex und Beziehung bisher einfach nicht erfüllt und deswegen gab’s beides auch noch nicht.
In deinen Videos beschreibst du dich selbst als „Jungfrau“. Ein umstrittener Begriff, der unter anderem benutzt wird, um vor allem Frauen einzuteilen und gewissermaßen zu bewerten. Wie siehst du das?
Ich nutze den Begriff ganz bewusst, gerade weil er patriarchal ist. Ich reclaime [Anmerkung der Redaktion: Im Sinne von „zurückfordern“] ihn. Ich weiß, dass Jungfräulichkeit eine Erfindung ist, um Frauen zu kontrollieren. Ich weiß, dass es keinen biologischen Marker gibt, der das festmacht. Aber ich benutze den Begriff, weil er gesellschaftlich immer noch Macht hat, vor allem in der Zuschreibung: „jungfräulich = rein, wertvoll“, „nicht mehr jungfräulich = gebraucht, weniger wert“. Diese sexistischen Konnotationen will ich challengen und für mich nutzen, indem ich sie aufbreche und feministisch neu besetze.

Unter dem Namen „Nineistlaut“ äußert sich die Influencerin zum Thema Jungfräulichkeit und sexuelle Entwicklung auf ihren Social Media-Kanälen.
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Wie ging es dir damit, als dir klar wurde, dass sich dein Leben anders entwickelt als bei Gleichaltrigen?
Ich glaube, so richtig klar wurde mir das mit ungefähr 18 Jahren. Da fingen die anderen an, Beziehungen zu haben, Erfahrungen zu sammeln, über Dinge zu sprechen, zu denen ich keinen Zugang hatte. So einfache Sachen wie: Mit jemandem auf einer Party knutschen. Als es dann mal zu einer Situation kam, konnte ich es einfach nicht. Ich habe mich geschämt. Für mein Tempo. Für mein Gefühl. Für mein Unwissen. Und gleichzeitig habe ich mich gefragt, ob ich falsch bin oder einfach nur anders.
Ich muss nicht einfach zu lieben oder zu berühren sein. Ich bestimme die Spielregeln für meinen Körper und meine Sexualität.
Es war teils eine bewusste, teils eine unbewusste Entscheidung, „spät“ zu sein. Ich konnte nicht anders. Und irgendwann musste ich aufhören, mich dafür zu hassen. Es war wie ein unsichtbares Ausgeschlossensein. Ich habe es oft abgetan, aber innerlich war da immer dieses „Ich kenne das nicht. Und ich weiß nicht, ob ich es je kennen werde.“ Gleichzeitig habe ich die Sex- und Liebesgeschichten meiner Freund:innen aufgesogen und hatte das Gefühl, ich erlebe es durch sie mit.
Was war der Auslöser dafür, dass du dich entschieden hast, öffentlich über deine Intimitätsgeschichte zu sprechen?
Ich bin im Januar 30 Jahre alt geworden und rede seitdem öffentlich darüber, noch keinen Freund und keinen Sex gehabt zu haben. Die Monate vor meinem 30. Geburtstag haben so viel in mir ausgelöst, ganz viel Reflexion darüber, wer ich sein möchte, wofür ich stehen will, und was meine verletzlichste Seite ist, die ich in Stärke umwandeln kann. Und genau da kam ich zu diesem Thema: Jungfrau sein, für immer Single sein und wie ich das nicht mehr verstecken will.
Welche Reaktionen bekommst du auf deine Offenheit – eher Zuspruch oder auch Kritik?
Ich bekomme ganz viel Zuspruch. Herzzerreißende Nachrichten, die mich genau darin bestärken, weiterzumachen. Kritik kommt meistens nur von Männern, die infrage stellen, „wen das überhaupt interessiert“, oder die einfach Frauen im Netz kleinhalten wollen. Die meisten Mädels feiern es, wenn ich es ihnen erzähle und sagen oft, dass sie gerne auch den Mut gehabt hätten, länger zu warten oder auf jemanden, mit dem es schön gewesen wäre.
Bei den Jungs spaltet es sich, du bist entweder eine „Red Flag“ [Anmerkung der Redaktion: Der Begriff soll auf problematische Verhaltensweisen in zwischenmenschlichen Beziehungen hinweisen], weil du ja „gestört“ oder „komisch“ sein musst, oder du wirst uninteressant.
Hattest du jemals Bedenken, private Aspekte öffentlich zu thematisieren? Wo ist für dich die Grenze zwischen persönlichen Einblicken und Privatsphäre?
Dadurch, dass ich mich gerade in einer Bewerbungsphase befinde, hatte ich schon Bedenken, wie sich das auswirken wird. Aber ich denke mir: Der richtige Arbeitgeber findet das cool und erkennt darin sogar meine Stärken.
Ansonsten habe ich jegliche Scham abgelegt, meine ungefilterten, verletzlichen Gedanken und Erfahrungen zu teilen – gerade, weil sie mit so viel Scham behaftet sind. Ich will diese Themen aufbrechen, weil ich mit meiner brutalen Ehrlichkeit etwas verändern will. Und ich denke, nur so kann man das. Denn nur so validiere ich diese Erfahrungen und zeige anderen: Du musst dich nicht schämen. Du bist nicht allein.
Was ich privat halte, sind meine persönlichen Daten aus Sicherheitsgründen. Es gibt einfach zu viele „creepy“ Typen da draußen und das wurde mir bei einem versuchten Übergriff letztens nochmal schmerzhaft bewusst. Ich gehe davon aus, dass er mich über Social Media kannte – seitdem bin ich da deutlich vorsichtiger.
Was war bisher der berührendste Moment in der Interaktion mit deinen Followerinnen und Followern?
Ich bekomme so viele wunderschöne Nachrichten, die mich immer wieder selbst zum Weinen bringen. Zwei sind mir besonders im Herzen geblieben.
Eine Frau schrieb mir, dass sie beim Schauen meiner Doku bei „Tru Doku“ stundenlang geweint hat, weil sie sich zum ersten Mal nicht mehr allein gefühlt hat. Sie ist Mitte 30, hatte noch nie eine Beziehung und hat diesen Teil ihres Lebens lange selbst vor engen Freundinnen versteckt. Durch meine Offenheit hat sie sich getraut, bei einem Date zum ersten Mal ehrlich über ihre Geschichte zu sprechen. Und sie schrieb: „Es tat so gut, einfach ich selbst zu sein.“
Eine andere Nachricht sprach davon, wie viel Mut und Selbstvertrauen es braucht, in dieser übersexualisierten Gesellschaft auf den eigenen Körper zu hören, Grenzen zu setzen und sich als Frau nicht für die Bedürfnisse von Männern verantwortlich zu fühlen. Und dass es das Schönste ist, als Frauen im Kollektiv unsere Wunden zu heilen und uns selbst zu ermächtigen.
Solche Rückmeldungen sind der Grund, warum ich das mache. Weil ich merke: Wenn ich mich zeige, können andere sich auch ein Stück mehr zeigen. Und das verändert etwas.
Welche Erwartungen setzt unsere Gesellschaft an Intimität – und was macht diese so problematisch?
Unsere gesellschaftlichen Vorstellungen von Intimität sind extrem heteronormativ geprägt. Sex soll locker, einfach, natürlich sein. Das erzeugt einen enormen Erwartungsdruck für Menschen, für die Intimität nur unter bestimmten, komplexeren Umständen möglich ist.
Es gibt nicht nur hetero, bi und homo, sondern auch asexuell, demisexuell und graysexuell. Diese Identitäten gab es schon immer, aber es fehlte die Sprache dafür. Und ohne Sprache gibt es keine Realität. Intimität ist eine bewusste Entscheidung. Keine Sache, die man irgendwann „abgehakt“ haben sollte. Sie verläuft nicht nach gesellschaftlicher Norm, sondern danach, was sich für dich und deinen Körper gut anfühlt. Sie darf auch langsam, komplex und sensibel sein.
Du beschreibst deinen Account als „Safe Space für Queers und Late Bloomers“ – was bedeutet das konkret für dich?
Ich möchte einen Raum schaffen für queere Menschen und für Menschen, die spät, langsam oder nie Sexualität erfahren. Also für alle, die sich außerhalb der gesellschaftlichen Norm bewegen. Hier darfst du sein, wie du bist. Ohne dich falsch oder wie ein Einhorn zu fühlen. Wir setzen die Grenzen neu. Ein Raum, in dem du nicht performen musst. In dem du „zu spät“, „zu viel“ oder „zu sensibel“ sein darfst.
Ein Ort, an dem Queerness nicht erklärt oder bewiesen werden muss. Wo Intimität in kleinen Schritten passieren darf. Auch ein Ort für Fragen, Widersprüche, Unsicherheiten. Ein ehrlicher, sicherer Raum. Und ja: Zu Queers gehören auch asexuelle, demisexuelle und graysexuelle Menschen. Diese haben so wenig Repräsentation in Medien, und ich will das ändern. Ich fand das Wort „Spätzünder“ blöd, da muss nichts gezündet werden. „Late Bloomer“ im Englischen romantisiert dagegen diese negativ behaftete Bezeichnung, weil sie eben dafür steht, spät zu blühen. Ein sanfter, teils langsamer Prozess und alle Blumen blühen eben anders und sind dafür aber nicht weniger wert.
Wie hast du selbst gelernt, mit Gefühlen wie Scham, Angst oder Selbstzweifeln umzugehen? Welche Strategien helfen dir?
Ich hatte es irgendwann einfach satt, immer nur zu schauen, was an mir falsch ist und mich zu fragen „Warum bin ich so? Warum bin ich so falsch?“ Ich habe angefangen, mir zuzuhören und mich zu fragen: „Wie bin ich?“ Radikale Selbstakzeptanz und Journaling haben mir geholfen. Ich lerne, mich genau so zu akzeptieren, wie ich bin und die Seiten an mir zu lieben, die ich früher verstecken wollte.
Wie ist dein Selbstbild heute im Vergleich zu früher?
Ich bin viel offener und selbstbewusster geworden, weil ich nicht mehr das Gefühl habe, gegen mich zu kämpfen, sondern mit mir. Ich weiß heute: Ich bin all das wert, was ich für Intimität brauche. Ich muss nicht einfach zu lieben oder zu berühren sein. Ich bestimme die Spielregeln für meinen Körper und meine Sexualität.
Welche Rolle spielt Queerness in deiner eigenen Geschichte und in deiner Community?
Eine sehr große. Ich weiß nicht, ob ich auch auf Frauen stehe, demisexuell bin oder welches Label es genau für meine Sexualität gibt; aber ich weiß: Ich bin nicht klassisch straight.
Es gibt nicht nur hetero, bi und homo, sondern auch asexuell, demisexuell und graysexuell. Diese Identitäten gab es schon immer, aber es fehlte die Sprache dafür. Und ohne Sprache gibt es keine Realität.
Meine Community besteht aus Menschen, die sich in klassischen Labels nicht wiederfinden. Die langsam sind, sensibel, reflektiert. Queerness ist für mich nicht nur Orientierung, sondern auch eine Haltung: gegen Norm, für Tiefe. Und ich glaube, dass nicht nur Queerness eine Rolle spielt, sondern auch Neurodivergenz. Viele in meiner Community gehören dazu, weil sie Intimität anders empfinden. Und das hat nicht immer etwas mit einer Störung oder Trauma zu tun. Es ist einfach eine andere Art, zu fühlen.
Wie sieht ein gesundes, selbstbestimmtes Verhältnis zu Sexualität und Nähe für dich aus?
Ohne Scham. Ohne Druck. Ohne „People Pleasing“ [Anmerkung der Redaktion: Im Sinne von „anderen gefallen wollen“]. Aber immer mit Konsens von Geist und Körper. Wenn Intimität eine aktive Entscheidung ist und nicht einfach nur „passiert“. Wenn du auf deinen Körper hörst, deine Grenzen respektierst und das machst, was sich für dich gut und sicher anfühlt. Dinge außerhalb deiner Komfortzone können sich unsicher anfühlen, aber sie dürfen niemals gefährlich sein. Niemals nach dem Motto „Da muss ich jetzt durch“. Dein Körper, deine Regeln. Du brauchst dich nicht dafür entschuldigen. Du bist deine Sexualität. Und niemand sonst bestimmt darüber.
Was möchtest du Menschen mitgeben, die sich mit ihrer Sexualität oder Intimität fremd oder „zu spät“ fühlen?
Ich will dir sagen: Du bist nicht zu spät. Du bist nicht falsch. Und du bist nicht allein. Viele von uns sind leise in dieser Welt, in der Sexualität so laut und selbstverständlich inszeniert wird. Wir passen nicht in das Tempo oder die Art, die uns vorgelebt werden und das ist okay. Ich weiß, wie sich Scham anfühlt. Dieses „Ich müsste doch längst …“ und gleichzeitig das Gefühl, dass etwas in dir einfach noch nicht so weit ist.
Aber das macht dich nicht weniger liebenswert. Es macht dich nicht kaputt. Vielleicht brauchst du mehr Sicherheit. Vielleicht hast du andere Grenzen oder Bedürfnisse. Vielleicht fühlst du anders, aber du fühlst. Und das zählt. Intimität ist kein Wettbewerb. Sie ist keine Leistung. Kein Statussymbol. Sie ist ein zartes, radikal ehrliches Feld. Und du darfst deinen eigenen Weg dorthin gehen - in deinem Tempo, mit deinen Fragen, deinen Grenzen, deinen Bedürfnissen. Du bist nicht allein damit. Wir sind viele. Und du bist wertvoll, genau jetzt, genau so.
Hast du einen langfristigen Plan für deine Zukunft, was Medien betrifft?
Ich bin wahnsinnig dankbar für meine wachsende Community und die mediale Aufmerksamkeit, die ich für meine Plattform und die Themen bekomme, die mir am Herzen liegen. Ich hoffe, dass ich noch viel lauter sein kann, noch viel mehr sensibilisieren darf und eine Stimme sein kann für all die Menschen, vor allem junge Mädchen und Frauen, die wenig oder keine Erfahrungen haben, die deswegen an sich zweifeln, sich schämen oder sich ausgeschlossen fühlen. Ich wünsche mir, dass unsere Geschichten sichtbarer werden – nicht als Ausnahme, sondern als Teil der Vielfalt.
Langfristig sehe ich mich in Medien, in Gesprächen, auf Bühnen, in Kooperationen, die Haltung zeigen, feministisch, verletzlich, ermutigend. Ich möchte Formate entwickeln, die Intimität anders denken, queere Perspektiven selbstverständlich mit einbeziehen und endlich Raum schaffen für die leisen, späten, komplexen Erfahrungen.
Es ist kein Zufall, dass so viele Menschen sich darin wiederfinden, es war nur lange unsichtbar. Und ich will alles tun, was ich kann, um das zu ändern.
Verrätst du den Lesern, was du neben Social Media noch so in deinem Leben machst?
Gerade bin ich mit Unterbrechungen auf Jobsuche und nutze die Zeit, um meinen Account „nineistlaut“ in Vollzeit zu betreiben. Das hilft mir im Moment sehr mit der Frustration, die die Jobsuche als Berufseinsteigerin mit sich bringt und ich kann die Zeit sinnvoll für mein Herzensprojekt in Vollzeit nutzen. Das ist ja auch Luxus.
Meine Freizeit verbringe ich am liebsten und am meisten mit meinen Tieren und Freunden. Ich gehe mit meinem Tierschutzhund „Cody“ spazieren, reite „Showtime“, das Pferd einer sehr guten Freundin, gehe gerne feiern oder in Bars, esse Waffeln oder Abendessen zusammen mit Freund:innen oder mache einfach irgendwas Schönes mit ihnen. Ich lese außerdem gerne Romantasy, historische Romane oder auch mal ein gutes Sachbuch.