Der Kölner Autor Dieter Wellershoff wäre am Montag 100 Jahre alt geworden. Es gibt mehrere Veranstaltungen und ein neues Buch versammelt Texte über seine Wahlheimat.
100. Geburtstag von Dieter WellershoffKöln mit anderen Augen sehen

Der Kölner Schriftsteller Dieter Wellershoff
Copyright: Bild: Max Grönert
Wenn ein Mann nachts ziellos durch die Stadt streift, sieht das erstmal nicht nach Arbeit aus. Doch Dieter Wellershoff arbeitete oft nachts. Und er saß dafür nicht nur am Schreibtisch. Sondern spazierte durch die Südstadt und saugte Eindrücke, Geräusche, Gespräche auf. Köln war für ihn ein Ort voller Geschichte und Geschichten. Man muss sie nur erkennen, auch im scheinbar Unspektakulären – und darin war er Meister: „Das Bild einer leeren Telefonzelle in der Nacht, das Flackerlicht einer defekten Straßenbeleuchtung, ein regennasser alter Baumstamm, Schneefall vor der Fassade eines Hauses auf der anderen Straßenseite “ – alles Stoff für seine Texte.
„Die Stadt ist wie ein ungeheures Buch“, schrieb er einmal. Und so heißt auch eine erweiterte Neuausgabe seiner Texte über Köln, die anlässlich seines hundertsten Geburtstags erscheint. Gabriele Ewenz hat sie herausgegeben – und für sie fühlt es sich beim Lesen ein wenig so an, als würde der Autor die Leser und Leserinnen an die Hand nehmen und zusammen mit uns durch die Stadt gehen, sagt die Leiterin des „Literatur-in-Köln-Archivs“ der Stadtbibliothek. Dabei sieht man das, was man vielleicht schon hundertmal gesehen hat, plötzlich mit ganz anderen Augen. „Wellershof hat mal davon gesprochen, die Wahrnehmung des Lebens zu vertiefen. Und darin schulen seine Texte uns tatsächlich.“
Köln wird schöner werden, aber nie fertig.
So erkundet er seine Nachbarschaft „mit dem Staunen eines Ethnologen, der die Verhaltensweisen eines fremden Volksstammes beobachtet“, schreibt er. Zum Beispiel befremden ihn die Nachtschwärmer in seinem Veedel, der Südstadt, die sich dort in völlig überfüllte Kneipen quetschen, wo man kaum sein eigenes Wort versteht. Dieser Gedanke endet mit der schönen Vermutung: „Man kommt her, weil die Kneipe eine Zusammenballung von Möglichkeiten ist. Wo so viele zusammenkommen, besteht begründeter Verdacht, dass jederzeit das Leben beginnen könnte.“ Das Flanieren ist nicht nur seine Art, unterwegs zu sein. Es ist auch seine Art zu denken: Offen für jeden Gedanken und neugierig, wohin er führen könnte.
Wellershoffs Köln-Texte aus verschiedenen Jahrzehnten sind auch eine literarische Zeitreise. Er nimmt uns unter anderem mit in die vollkommen zerstörte Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg. Und schreibt über das pulsierende Leben in den 1980er Jahren in seinem „Biotop“, der Kölner Südstadt. Manchmal kann er es selbst gar nicht glauben, dass er sich an ein und demselben Ort befindet, dass aus Trümmern und Elend neues Leben erwacht ist: „Die Stadt ist immer im Werden, immer im Wandel, und die Erinnerung kann sich nur mühsam dagegen behaupten“, schreibt er: „Aber auch wenn in absehbarer Zeit die letzten Baulücken, die noch an den Krieg erinnern, verschwunden sein werden, bleiben die Bilder unter den Bildern Hall- und Echoraum ihres gegenwärtigen Lebens.“
Einmal holt ihn die Vergangenheit bei einer Fahrradtour am Rhein ein: Das Dröhnen der Züge auf der Hohenzollernbrücke versetzt ihm wieder zurück in die Zeit der Fliegerangriffe, die Köln in Schutt und Asche legten. Es ist ein strahlender Frühlingstag, die Menschen sind unbekümmert, der Gegensatz könnte kaum größer sein: „Wahrscheinlich habe nur ich an meinem abseitigen Platz vernommen, wovon die Brücke gesungen hat.“
Dieter Wellershoff nimmt Dinge wahr, die andere Menschen nicht wahrnehmen. Nicht nur, weil er so ein genauer Beobachter ist. Sondern auch, weil er immer verschiedene Ebenen mitdenkt, die an der Oberfläche verborgen bleiben. Gerade in einer so alten Stadt wie Köln, wo Zeugnisse der Vergangenheit in fast jeder Baugrube auftauchen. „Ist die Stadt ein Film, der immer neue Bilder hervorbringt, immer neue Überblendungen?“, fragt er einmal. Und erweist sich nicht nur als Experte für das Vergangene, sondern auch für die Zukunft, wenn er schreibt: „Köln wird schöner werden, aber nie fertig. Ohne den realistischen Sinn fürs Provisorische wird man auch in den nächsten zehn Jahren nicht in dieser Stadt leben können.“ Sätze für die Ewigkeit.
Das Gestern und die Gegenwart, das Sichtbare und das Verborgene, das Gewichtige und das Alltägliche – all das sind bei ihm keine Gegensätze. Wie alles mit allem verbunden ist, das fühlen die Leser und Leserinnen seiner Texte. Das gilt übrigens auch für das Innen und das Außen: So sehr der Autor es liebte, seine Umgebung und die Menschen darin zu erkunden, so sehr liebte er auch die Abgeschiedenheit seines Arbeitszimmers „Natürlich gibt es das Draußen. Es wartet. Es umgibt mich. Aber ich habe es zum Rand meiner Welt gemacht. Es ist zwei Uhr nachts. Ich sitze an der Schreibmaschine.“ Man muss kein Wellershoff-Fan sein, um an dem Köln-Buch Spaß zu haben. Aber man ist wahrscheinlich einer, nachdem man es gelesen hat.
Dieter Wellershoff (geboren am 3. November 1925 in Neuss, gestorben am 15. Juni 2018 in Köln) war ab 1959 Lektor bei Kiepenheuer & Witsch in Köln, betreute dort u. a. Heinrich Böll und förderte junge Autoren wie Rolf Dieter Brinkmann. Besonderen Erfolg als Autor hatte er 2000 mit dem Bestseller-Roman „Der Liebeswunsch“.
Am Mittwoch, 03. Dezember, stellt Herausgeberin Gabriele Ewenz das Buch „Die Stadt ist wie ein ungeheures Buch – Ansichten von Köln“ (Lilienfeld Verlag, 328 S., 24 Euro) im Interim der Zentralbibliothek (Hohe Straße 68-82) im Gespräch mit Hajo Steinert und Michael Kohtes vor. 8/6 Euro, Karten über KölnTicket.
Am Montag, 03. November, gibt es um 19 Uhr einen Abend für Dieter Wellershoff im Kölner Literaturhaus (Großer Griechenmarkt 39) – unter anderem mit dem ehemaligen KStA-Redakteur Markus Schwering, der im Böhlau-Verlag eine umfassende Biografie über den Autor veröffentlicht hat. Eintritt 13/11 Euro.

„Die Stadt ist wie ein ungeheures Buch“
Copyright: Lilienfeld
