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BestsellerWie ein Hase das Leben einer gestressten Großstädterin veränderte

Lesezeit 6 Minuten
Feldhase

Feldhase

Chloe Dalton hat ein kluges Buch über einen Hasen geschrieben, dessen Lektüre nicht nur zur Osterzeit lohnt.

Ob Deko-Artikel oder Backwaren - der Hase muss in der Osterzeit für vieles herhalten. Es gibt also gute Gründe, skeptisch zu sein, wenn Mitte März ein Hasen-Buch erscheint. Zumal der deutsche Titel „Hase und ich“ eher nach einer Sammlung vergnüglicher Beziehungskolumnen klingt als nach einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den Tieren.

Aber tatsächlich hat „Hase und ich“ seinen aktuell 4. Platz auf der Sachbuch-Bestsellerliste verdient. Ganz behutsam und klug erzählt Chloe Dalton darin, wie ein Hase ihr Leben veränderte. Das war lange alles andere als naturverbunden – als Politikberaterin lebte sie in London oder flog um die Welt. Bis die Corona-Pandemie sie ausbremst. Chloe Dalton zieht aufs Land, wo sie früher immer mit ihrer Familie die Ferien verbrachte. Jetzt sitzt sie in einer ausgebauten Scheune mitten im englischen Nirgendwo vor ihrem Laptop in Videokonferenzen.

Das Hasenbaby findet sie bei einem Spaziergang. Es liegt auf dem Weg und ist genauso hilflos wie sie. Denn Chloe Dalton weiß so gut wie nichts über Hasen. Wie die meisten von uns - weshalb Hasen und Kaninchen auch so oft verwechselt werden. Als der kleine Hase auf ihrem Rückweg immer noch genauso daliegt, beschließt sie, ihn bei sich in Sicherheit zu bringen vor Hunden und Greifvögeln. Auch wenn sie zweifelt, ob das wirklich so eine gute Idee ist.

Es zeichnet die Autorin aus, dass sie sich immer wieder hinterfragt. Und ihr Bestes versucht, so respektvoll wie möglich mit dem Tier umzugehen. Sie erliegt nie der Versuchung, es zu vermenschlichen oder zum Kuscheltier zu degradieren. Deswegen nennt sie es auch nicht „Hoppel“, sondern ganz einfach: Hase.

Überwachung per Videokamera

In ihrem Buch nimmt sie uns mit bei ihrem Lernprozess zur Hasen-Spezialistin - der am Ende auch ein Lernprozess zur Spezialistin für sich selbst und ihre Umwelt wird. Erstmal recherchiert sie alles, was sie herausfinden kann, um das kleine Tier überhaupt am Leben zu erhalten. Ein Naturschützer macht ihr da nicht viel Hoffnung: „Sie müssen sich leider mit dem Gedanken abfinden, dass es wahrscheinlich verhungern wird oder durch den Stress stirbt“, prophezeit er.

Aber Hase überlebt, wächst und gedeiht. Und mehr noch: Irgendwann zieht sogar neuer Hasen-Nachwuchs bei Chloe Dalton ein. Denn Hase ist eigentlich eine Häsin. Und obwohl sie längst frei auf den Feldern herumhoppelt, kommt sie immer wieder in das Haus zurück. Und das, obwohl die Biologie Feldhasen als überzeugte Einzelgänger kennt, die sich nicht domestizieren lassen.

Ob die Schattierungen des Hasenfells oder die intensive Körperpflege des Tiers - die Autorin ist eine feine Beobachterin und schwelgt in Details. Sie erlebt die Natur nun völlig neu und schleicht tagsüber nur noch ganz vorsichtig durch ihr Haus - aus Rücksicht auf ihren nachtaktiven Gast. Sogar beim Spazierengehen durch die Felder sorgt sie sich jetzt, womöglich Hasen aufzuschrecken: „Es war total übertrieben. Es war absurd. Aber es war wunderschön.“

Ihre Hasen-Begeisterung geht sogar so weit, dass sie die Tiere mithilfe von Videokameras beobachtet, als sie drei Wochen beruflich in die USA fliegen muss. Plötzlich ist sie gar nicht mehr so sicher, dass sie so schnell wie möglich in ihr altes, schnell durchgetaktetes Leben in London zurückkehren will: „Meine Überzeugungen und Prioritäten waren im Begriff, sich zu verschieben.“ Andere gehen für sowas jahrelang zum Therapeuten.

21/05/2024-Image ©Licensed to Parsons Media. Chloe Dalton Portraits. Picture by Andrew Parsons / Parsons Media

Chloe Dalton

Ihren Kollegen, mit denen sie täglich konferiert, verschweigt sie lieber, wie sehr ihr das Tier ans Herz gewachsen ist: „Ich mutmaßte, dass mir diese Tatsache als unseriös oder überemotional ausgelegt werden könnte.“ Dabei könnte das aufgeheizte Politik-Business nicht weiter von dem komplett in sich ruhenden Hasen entfernt sein: „Ich konnte gar nicht anders, als seine stete Gelassenheit mit der frenetischen Betriebsamkeit zu vergleichen, die mein Leben über Jahre hinweg bestimmt hatte.“

Die Buchhandlungen sind voll mit Büchern, die davon erzählen, wie dauergestresste moderne Menschen in der Natur wieder zu sich selbst gefunden haben: Einfach ein bisschen mit Latzhose und Gummistiefeln im Blumenbeet buddeln – und schon lacht das Lebensglück. Chloe Dalton weiß um diese Klischees. Und deswegen romantisiert sie weder das Landleben, noch verklärt sie ihre Gedanken zu Kalendersprüchen. Es mag alles andere als originell sein, in der Natur Trost und Inspiration zu finden, schreibt sie: „Doch mittlerweile gefällt mir der Gedanke, dass schon Millionen von Menschen vor mir diesen Prozess der Selbstfindung durchgemacht haben.“

„Hase und ich“ ist aber viel mehr als die Geschichte ihrer Selbstfindung. Chloe Dalton wälzt auch alte Bände mit Überlieferungen und Mythologien aus der Bibliothek und liest sich in die Kulturgeschichte des Feldhasen ein. Ganz anders als sie es selbst erlebt, werden Hasen dort als hektisch, launisch oder gar gespenstisch beschrieben. Auch der Glaube, dass Hexen in Hasengestalt ihr Unwesen trieben, war weit verbreitet. Gleichzeitig galt die Hasenpfote als Glücksbringer - und als Heilmittel gegen Rheumatismus.

Unser gesamtes Wertesystem ist aus den Fugen geraten, und den Preis dafür zahlen die Wehrlosen, egal ob Mensch oder Tier
Chloe Dalton

Außerdem landeten Hasen auch sehr gerne auf den Tafeln der wohlhabenden Engländer. In alten Kochbüchern stößt Chloe Dalton auf Rezepte für „Hase mit Bier und Kastanien“ und "Lièvre à la royale” - Hase gefüllt mit Gänsestopfleber, Trüffeln und dem Fleisch der Hasenkeulen. Die Rotweinsauce soll ihr besonders intensives Aroma dem Blut verdanken. „Solche Grausamkeiten in Gegenwart des kleinen Hasen zu lesen, fühlte sich beinahe wie Verrat an.“

Und um die menschlichen Grausamkeiten noch zu toppen, kam vor dem Kochtopf noch die Hetzjagd - gerade in England stolze Tradition, um das Durchhaltevermögen preisgekrönter Jagdhunde zu testen. Schließlich erreichen Feldhasen auf der Flucht Höchstgeschwindigkeiten von bis zu 80 Kilometer pro Stunde. Mittlerweile ist die Hetzjagd verboten. Egal: „Hunderttausende Feldhasen werden in Großbritannien jedes Jahr zur reinen Belustigung erschossen, in ganz Europa geht die Zahl in die Millionen, oft zahlen die Kunden für diesen Spaß große Summen Geld.“

Sollte irgendein Hase das alles überlebt haben, droht er im Spätsommer von schweren Erntemaschinen verletzt oder getötet zu werden. „Wenn Ernteroboter und Drohnen schon so weit entwickelt sind, dass sie die Ernte auf unseren Feldern übernehmen, könnten wir die modernen Technologien dann nicht auch dazu nutzen, Feldhasen, Rehkitze und nistende Vögel aufzuspüren?“, fragt sich Chloe Dalton verzweifelt mit Blick auf die toten und verletzten Tiere, die sie auf einem frisch geernteten Kartoffelacker entdeckt.

Und da kommt dann auch wieder die Politik-Beraterin in ihr durch und sie wird grundsätzlich: „Unser gesamtes Wertesystem ist aus den Fugen geraten, und den Preis dafür zahlen die Wehrlosen, egal ob Mensch oder Tier“, schreibt sie. Dabei wäre es für uns doch eigentlich ein Leichtes, Hasen und anderen Geschöpfen etwas mehr Platz einzuräumen.

„Hase und ich“ ist eine gelungene Mischung aus Hasen-Fakten, Selbstfindung, poetischer Naturbeobachtung, Kulturgeschichte und Umweltpolitik. Ein zutiefst ausgeruhtes Buch zum Abtauchen ins englische Landleben und die Natur - auch die menschliche. Eine lohnende Lektüre, besonders für alle, die glauben, dass Hasen und Kaninchen dasselbe sind.


Chloe Dalton: „Hase und ich“, deutsch von Claudia Amor, Klett-Cotta, 304 Seiten, 22 Euro.