Ist Wellershoff durch seine jugendliche Nazi-Begeisterung belastet? Kann das Eierplätzchen nach ihm benannt werden? Ein Gutachten gibt Antworten.
Dieter WellershoffDas steht im Gutachten zur NS-Vergangenheit des Kölner Autors

Der Kölner Schriftsteller Dieter Wellershoff Schriftsteller (1925-2018)
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Gibt es jetzt Entwarnung in der Causa Dieter Wellershoff? Genauer: Entwarnung anlässlich der Frage, ob der 2018 im Alter von 92 Jahren verstorbene Kölner Schriftsteller vor dem Hintergrund möglicher stärkerer Verstrickung in das NS-Herrschaftssystem eine Ehrung in Gestalt der Benennung eines Platzes in der Nähe seiner langjährigen Wohnung in der Kölner Südstadt (Mainzer Straße) „verdient“ hat? Ja, nach Entwarnung sieht es in der Tat aus. Aber der Reihe nach.
Auf Initiative der zuständigen Bezirksvertretung Innenstadt hatte die Stadtverwaltung im Februar – dies ein Routinevorgang bei anstehenden Straßenbenennungen oder -umbenennungen – beim Kölner NS-Dokumentationszentrum im El-De-Haus ein Gutachten zur Sache in Auftrag gegeben. Diese Expertise, in die auch Recherchen im Berliner Bundesarchiv eingingen, wurde mittlerweile von dem Historiker und Team-Mitglied Jan Neubauer verfasst und der Verwaltung zugeleitet. Wie zu hören ist, soll sie der Bezirksvertretung für ihre Sitzung am 26. August als Grundlage weiterer Beratung zur Verfügung stehen. Das Gutachten liegt dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ vor.
Gerade im Hinblick auf das junge Alter von Dieter Wellershoff im Nationalsozialismus gibt es von Seiten des NS-Dokumentationszentrums keine Bedenken, spätere Verdienste in der Bundesrepublik und in Köln stärker zu bewerten als eine feststellbare Regimenähe bis 1943/44.
Tatsächlich dürfte der resümierende Schlusssatz bei denjenigen für Erleichterung sorgen, die sich seit mehreren Monaten für besagte Straßenbenennung einsetzen: „Gerade im Hinblick auf das junge Alter von Dieter Wellershoff im Nationalsozialismus gibt es von Seiten des NS-Dokumentationszentrums keine Bedenken, spätere Verdienste in der Bundesrepublik und in Köln stärker zu bewerten als eine feststellbare Regimenähe bis 1943/44. Dieter Wellershoff hat sich nach 1945 klar vom NS-Staat distanziert.“
Zur Erinnerung: Im Oktober vergangenen Jahres hatte Wellershoffs Tochter Irene in einer Eingabe an die Bezirksvertretung angeregt, das bislang keinen offiziellen Namen tragende, bei der Südstadt-Bevölkerung indes als „Eierplätzchen“ bekannte Areal als Dieter-Wellershoff-Platz zu „taufen“. Gegen diese Initiative regte sich im Fortgang, wie in dieser Zeitung berichtet, unvermuteter Widerstand, der sich im Wesentlichen aus zwei Quellen speist: Wollen die einen aus Traditionsgründen nicht auf das als solches etablierte „Eierplätzchen“ verzichten, so wurden aus der Bezirksvertretung selbst – genauer: von Mitgliedern der Grünen-Fraktion – Bedenken eben wegen Wellershoffs (angeblich oder tatsächlich) ungeklärter Rolle im Dritten Reich geäußert. Streitdetail am Rande: Der seinerzeit noch den Grünen angehörende Bezirksbürgermeister Andreas Hupke war (und ist) ein engagierter Befürworter der Platzbenennung.
Die Bedenken, die sowohl Wellershoffs Verhalten in der Nazizeit wie seinen späteren Umgang damit betreffen, artikulierte seinerzeit zumal der Fraktionsvorsitzende Martin Herrndorf gegenüber dieser Zeitung. Aus seiner Sicht gab es da ein paar „Punkte“, die er geklärt haben wollte. Wellershoff meldete sich 1943, als 17-Jähriger, freiwillig zur Panzerdivision „Hermann Göring“, deren Angehörige nachweislich während ihres Einsatzes in Italien Kriegsverbrechen begingen. Weiterhin wurde 2009 im Berliner Bundesarchiv, wo die NSDAP-Mitgliederkartei aufbewahrt ist, eine Karte mit Wellershoffs Namen, Geburtsdatum und -ort (Neuss) gefunden. Die Diskussion um nachmals prominente, frühere Wehrmachts- oder gar SS-Angehörige, die nach dem Krieg ihr seinerzeitiges Tun und Lassen beschwiegen oder leugneten – der prominenteste Fall ist wohl Günter Grass –, bezeichnet das Design einer Vergangenheitsbewältigung, in das Wellershoff auf Anhieb gut hineinzupassen scheint (jetzt wohl besser: schien).
Zum ersten Punkt: Wellershoff war – diesbezüglich bestätigt das Gutachten nur längst bekanntes – in der Tat Mitglied der Division „Hermann Göring“, kam aber 1943 gerade nicht nach Italien, sondern wurde für das „Begleitregiment Hermann Göring“ ausgewählt und aus der Grundausbildung in Holland nach Berlin geschickt. Ende Juli 1944 kam der Gefreite nach Kurland an die ostpreußisch-litauische Grenze und somit an die zusammenbrechende Ostfront, wo er im Oktober schwer verwundet wurde. „Einheiten der Division waren“, so das Neubauer-Gutachten, „1943/44 an Kriegsverbrechen etwa in Italien beteiligt, doch fanden sich keine Hinweise darauf, dass Wellershoff dort anwesend war oder in anderer Weise in Verbindung zu diesen konkreten Verbrechenskomplexen stand.“

Blick auf das „Eierplätzchen“ in Köln
Copyright: Michael Bause
Die Frage, warum sich der 17-Jährige überhaupt freiwillig zur Wehrmacht meldete, hat Wellershoff – der sich selbst nie einen Widerstandslorbeer umhängte, sondern seine „Verstrickung in das Kriegsgeschehen“ stets vorbehaltlos eingestand – mehrfach beantwortet: weil er, unter anderem, als ehemaliger Fähnleinführer beim „Jungvolk“ die Rekrutierung durch die SS befürchten musste und der durchaus entgehen wollte. Zur Triftigkeit dieser Darstellung nimmt das Gutachten indes nicht Stellung.
Zum zweiten Punkt. Zur Parteimitgliedskarte ist – auch das Gutachten vermittelt da keine neuen Erkenntnisse – festzustellen, dass ein Aufnahmeantrag mit Unterschrift seitens des Aspiranten bis heute nicht gefunden wurde. Weil es ihn, wie Wellershoff 2009 dem Schreiber dieser Zeilen versicherte, nicht gibt. Angesichts der desaströsen Kriegslage wäre, so der Autor, eine Antragsstellung auch schlicht verrückt gewesen. Und Tochter Irene ist sich sicher: „Wenn er eingetreten wäre, hätte er später darüber geschrieben.“
Die Existenz der Karteikarte erklärte Wellershoff 2009 mit jener „massenhaften Rekrutierung ohne persönliche Beteiligung der Betroffenen“, wie sie in den letzten Kriegsjahren öfters vorgekommen sei. Dieser selbst-entlastenden Darstellung widerspricht das Gutachten allerdings. „Am 28. Oktober 1944 meldete“, so Neubauer, „das Gau Düsseldorf der NSDAP die Mitgliedsanträge der HJ-Jahrgänge 1923-1925 nach, hierunter auch Wellershoff. Offenbar hatte es 1943/44 Probleme bei den Meldungen in Düsseldorf gegeben.“ Der Eingang bei der Reichsleitung wurde erst für Januar 1945 vermerkt, ein Hinweis auf „vermutlich kriegsbedingt verzögerte Bearbeitungsprozesse in der Parteiverwaltung“. Ansonsten gab es, so das Gutachten, „neben dem Hinweis auf Doppelanmeldungen keine besonderen Vermerke – etwa was fehlende Unterschriften angeht“.
Es sei, so Neubauer weiter, „unwahrscheinlich, dass Wellershoff noch ein Mitgliedsausweis oder eine ähnliche Bestätigung seiner Mitgliedschaft ausgehändigt wurde. Als Aufnahmeantragsdatum wurde der ,Führergeburtstag‘ vom 20. April 1944 angegeben. Wellershoffs Mitgliedsnummer lautete 10172531. Das Aufnahmedatum erfolgte rückwirkend zum 20. April 1943.“ Ein solches Verfahren, möglich geworden durch eine Herabsetzung des Parteieintritts-Mindestalters auf 17 Jahre, müsse man auch für Wellershoff unterstellen, „auch wenn er ab September 1943 bei der Wehrmacht war. Selbst wenn er zu diesem Zeitpunkt noch keinen Antrag ausgefüllt hatte – er wurde im November 1943 18 Jahre alt –, war dies über Feldpost oder während des Heimaturlaubs möglich.“
Raum für Diskussionen mag aber in der Tat Wellershoffs späterer Umgang mit seiner Vergangenheit geben
„Insgesamt zeichnen“, so Neubauer, „die Akten das Bild eines jungen Menschen, der sich als HJ-Funktionär, Kriegsfreiwilliger und NSDAP-Mitglied für das Regime engagierte.“ Dies Wellershoff heute vorzuhalten – dem 17-jährigen Sprössling einer Grevenbroicher Honoratiorenfamilie, die ihrerseits dem NS-System keinerlei Widerstand entgegensetzte –, hält das Gutachten für verfehlt, die entsprechende Stelle wurde bereits zitiert.
Raum für Diskussionen mag aber in der Tat Wellershoffs späterer Umgang mit seiner Vergangenheit geben. Hat er unterschrieben, oder hat er nicht? Der Autor selbst bestritt es lebhaft, das Gutachten hält es für äußerst wahrscheinlich. Mehr kann es auch nicht sagen, denn das „corpus delicti“ – kriminaltechnisch gesagt: the smoking gun – fehlt. Wenn nun die allermeisten unterschrieben hätten, ausgerechnet Wellershoff aber aus was für Gründen auch immer nicht? So oder so steht die Frage im Raum, ob er gelogen haben könnte? Hier gibt das Gutachten eine aufschlussreiche und tendenziell verneinende Antwort, die auf das heikle Feld der Identitätskonstitution durch Erinnerung führt:
„Persönliche Erinnerungen, vor allem an Ereignisse, die Jahre bzw. Jahrzehnte zurückliegen, sind geprägt von jeweils gegenwärtigen Selbstbildern. Das betrifft im Hinblick auf die NS-Geschichte insbesondere das Verhältnis der betreffenden Person zum Regime und NS-Staat. So verlagern sich Momente der persönlichen Distanzierung vom Nationalsozialismus aus der unmittelbaren Kriegsendphase 1945 oder der Nachkriegszeit weiter nach vorne – etwa in die Zeit der zunehmenden militärischen Niederlagen ab 1942/43 –, auch wenn dies zeitgenössisch noch nicht der Fall war. Hierbei handelt es sich nicht zwingend um bewusste Wahrheitsverdrehungen, sondern um allmähliche Anpassungsprozesse der eigenen Erinnerung an das gegenwärtige Selbstbild.“
Gewissenhafte Aktenrecherche vermag – eine geschichtswissenschaftliche Binsenweisheit – einer Person die Deutungshoheit über die eigene Biografie zu entwinden. Schwierig wird es, wenn die Akten ihrerseits kein völlig eindeutiges Bild ergeben. Was das basale psychologische Problem anbelangt, so hat ein Wellershoff-Kollege dazu einen berühmten Roman geschrieben, an den sich Literaturfreunde angesichts der aktuellen Diskussion womöglich wiederholt erinnern: Max Frischs „Stiller“. Der beginnt mit dem Satz „Ich bin nicht Stiller“ – obgleich der betreffende Mensch für seine Umwelt zweifellos Stiller ist. Auch in diesem Literaturfall wird das binäre Schema von Lüge und Wahrheit hintergründig gesprengt.
Der Autor dieses Beitrags hat soeben im Kölner Böhlau-Verlag die Monografie „Krise und Utopie. Dieter Wellershoff – Leben und Werk“ (420 Seiten, 39 Euro) vorgelegt.