Simon Rattle dirigierte das Bayerische Rundfunk-Symphonieorchester in Köln. Und verriet beinahe sein Betriebsgeheimnis.
Kölner PhilharmonieSir Simon ist ein Inspirator, kein General

Sir Simon Rattle in der Kölner Philharmonie
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Sir Simon kann es gut mit seinen Bayern: Da wird gelacht und geblinzelt und der einzelne Orchesterkollege beim Verlassen und Betreten des Podiums freundlich adressiert. Alles Show fürs Publikum? Nein, dieser Eindruck vermittelte sich dem Publikum beim Konzert des Bayerischen Rundfunk-Symphonieorchesters in der Kölner Philharmonie keineswegs. Und er wäre auch falsch – nicht nur, weil der britische Pultstar nach allem, was man weiß, habituell ein freundlicher Charakter ist. Vielmehr kommt die Zuwendung des Dirigenten aus der Formation erkennbar zurück. So etwas kann man nicht schauspielern, und der konzentriert-entspannte Auftritt des deutschen Spitzenorchesters – ohne angstvolle Tremoli in den Streichern – spricht nicht zuletzt für eine gute Arbeitsatmosphäre.
Rattle ist wohl ein Inspirator, aber kein General, der Truppen befehligt. Das hört man sogar zuweilen – etwa wenn das Horn gleich beim Einsatz von Schumanns zweiter Sinfonie kiekst und auch später die Orchestergruppen zumal an Übergängen nicht immer in militärischem Gleich- und Stechschritt funktionieren. Dass solche Unschärfen insgesamt das Hörvergnügen kaum zu stören vermögen – diese Beobachtung langt an das Betriebsgeheimnis von Rattles Dirigat.
Genial-exzentrischer Schumann
Schumanns Zweite also zu Beginn. Sie ist kanonisch, wird oft aufgeführt, man kennt sie halt. Darüber gerät leicht in Vergessenheit, dass es sich dabei um ein genial-exzentrisches, von kompositorischem Fantasie-Input schier überquellendes Werk handelt. Genau dies aber macht Rattle von der ersten bis zur letzten Note erlebbar.
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Interpretiert er das Stück „romantisch“ – und in diesem Sinne romantisch genug? Schwer zu sagen, es hängt immer davon ab, was man unter Romantik versteht. Gemütvoll-weichzeichnende Undeutlichkeit versteht Rattle darunter jedenfalls nicht. Gleich in der langsamen Einleitung lässt er unter der mottoartig die Sinfonie durchziehenden Fanfare der Blechbläser jene kontrastive Kriechbewegung der Streicher gut hörbar werden, die Schumann als herausragenden Erben des Bach'schen Kontrapunkts kenntlich macht. Das könnte statisch klingen, tut es aber nicht. Vielmehr birst die Introduktion geradezu vor inwendiger Energie im Sinne der angespannten Erwartung des Kommenden.
Es ist dieser Drang nach vorne, der auch im Fortgang einen unwiderstehlichen Sog ausübt. Da zünden die Synkopen wie Feuerwerkskörper, brillieren die Gruppen im Zuspiel der Motivbälle, ergeben sich immer wieder intensive kammermusikalische Dialoge. Die Agilität der Geigen im Scherzo ist staunenswert und jetzt auch ungetrübt, die zahlreichen Tempowechsel werden zu präzise laufenden Motoren der Satzentwicklung. Das ist musikalisches Theater auf höchstem Level. Manchmal trickst Rattle auch: Die Partitur sieht etwa für die Coda des ersten Satzes keine Beschleunigung vor, trotzdem lässt er strettamäßig anziehen. So wird die Apotheose des Finales gleichsam vorweggenommen. Rattle verabreicht also keine Magerkost, der – erwartbar starke – Beifall wird gewissermaßen herbeidirigiert.
Aber auch zur Gegenseite hin ist er spektakulärer Effekte nicht abhold: Das Fugato im langsamen Satz kommt nicht pianissimo, sondern im vierfachen pianissimo. Ist das manieriert? Vielleicht, aber es gibt den Streichern die Chance zu beweisen, wie vollendet leise sie spielen können. Die Wirkung ist jedenfalls frappant.
Strawinskys „Feuervogel“ nach der Pause zeitigte kaum einen Bruch, weil der Interpretationsstil der nämliche war: maximale Deutlichkeit und Transparenz mit der Neigung, die Klangregister zu den Extremen hin zu spreizen; großartige Bläsersoli und ein seraphisch-schwereloser Streichersound; erneut die suggestive Atmosphäre im ganz Leisen. Klar, partiturangemessen ging es oft auch gewaltsam-lautstark zu. Aber manchmal konnte man über den flutend-lasziven Klängen auch vergessen, dass da der Komponist des „Sacre du printemps“ gespielt wurde – da klang Strawinsky auf einmal wie Rachmaninow.

