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Kölner PhilharmonieWarum Kent Naganos „Siegfried“ Stoff für Diskussion bot

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Kent Nagano

Kent Nagano

Durch die konzertante Aufführung gewann die musikalische Interpretation eine eindrucksvolle gestische Präsenz und Kraft.

Respekt hat man so oder so zu zollen: Gegen alle Corona- und sonstigen Widrigkeiten und Unwägbarkeiten, die so einem Projekt immer drohen, ziehen Concerto Köln und Kent Nagano ihre – in konzertanten Aufführungen sämtlicher Teile der „Ring“-Tetralogie gipfelnden – „Wagner-Lesarten“ über die Jahre hinweg durch. Begleitet von intensiver musikhistorischer Aufführungsforschung begann das Ganze auf breiter Basis im romantischen Vor-Wagner-Feld, etwa bei Mendelssohn und Paganini, bevor man sich ganz allmählich dem Zielvorhaben zu näherte.

Und dieses Vorhaben geht jetzt nach „Rheingold“ und „Walküre“ mit dem – soeben in der Kölner Philharmonie triumphal aufgeführten „Siegfried“ – bereits auf die Zielgerade, es fehlt nur noch die „Götterdämmerung“. Sie soll im nächsten Jahr folgen, 150 Jahre, nachdem Wagner den Schlussstrich unter sein Hauptwerk setzte. Klar, dass Concerto Köln selbst in erweiterter Formation so eine Sache nicht stemmen kann – längst wurde das Dresdner Festspielorchester hinzugenommen und das Ganze in die „Wagner Cycles“ der Dresdner Musikfestspiele integriert. 

Ob der „Siegfried“ bei seinen ersten Aufführungen tatsächlich so getönt hat wie jetzt in der Philharmonie? Wir werden es nie erfahren, aber die leidenschaftliche Akribie, die Nagano und seine wissenschaftlichen Mitstreiter in den vergangenen Jahren hinsichtlich der Rekonstruktion authentischer Temperatur, Instrumentation und Klangästhetik, Gesangsstile und Spielweisen an den Tag gelegt haben, lässt einen beträchtlichen Annäherungswert zumindest vermuten.

Ein paar Intonationsschwächen und Homogenitätsprobleme

Selbstredend klang auch „Siegfried“ jetzt signifikant anders, als man es aus Traditionsaufführungen gewohnt ist. Ein gestischer Sprechgesang trat immer wieder an die Stelle des gewohnten Opern-Belcanto. Das Meckern und Keifen, dessen sich Christian Elsner als Mime und Daniel Schmutzhard als (wirklich giftig-bösartiger) Alberich befleißigten, die komisch-grotesken Züge ihrer Tongebung hatten ausweislich der Programmheft-Erläuterungen einen alles andere als komischen Hintergrund: Wagner, der fanatische Antisemit, hat sie – dafür spricht jedenfalls manches – als Judenkarikaturen angelegt. Ganz unproblematisch ist diese aufführungspraktische Herausstellung eines tatsächlich sehr unbequemen Aspekts nicht – die allfällige Distanzierung kann schließlich nicht in Hinweistafeln mitgeliefert werden. Hier gibt es jedenfalls reichlich Stoff für Diskussion.

Im Orchester wird vibratoarm, dafür mit vielen expressiven Portamenti gespielt, während insgesamt die auf 435 Hertz heruntergefahrene Stimmung im vokalen wie instrumentalen Bereich zu einer wahrnehmbaren Entspannung führt. Der Gesamtsound ist nicht „brillant“, sondern eher gedeckt. Das Blech fährt nicht aggressiv einher, während eine genaue kammermusikalische Profilierung der Register den sinfonischen Breitwandklang ersetzt. Da kommt auch die luzide Verflechtung der immer wieder anders exponierten und eingebetteten Leitmotive zu eindringlichster Wirkung. Und an den lyrischen Stellen – etwa anlässlich von Siegfrieds Erreichen des Brünnhildenfelsens – bezaubern die Geigen durch ein anrührendes Cantabile. Nicht alles Raue und Unebene wird man der historischen Rekonstruktion zugutehalten können. Da gab es auch – vor allem in den reinen Instrumentalstellen war das vernehmlich – ein paar Intonationsschwächen und Homogenitätsprobleme.

Das fiel aber aufs Ganze gesehen kaum ins Gewicht – und daran war nicht zuletzt Naganos den dramatischen Gang genau rhythmisierendes, Spannung und Lösung immer wieder exzellent austarierendes Dirigat schuld. Üblicherweise sind konzertante Opernaufführungen nicht sonderlich beliebt – weil zur Oper eben essenziell die Szene gehört. Im besten Fall hingegen – nach Naganos „Walküre“ gehört auch der „Siegfried“ dazu – gewinnt die musikalische Interpretation eine gestische Präsenz und Kraft, die das Fehlen nicht nur vergessen macht, sondern vielmehr in sein Gegenteil verkehrt. Ein Beispiel dafür war die Schlussszene mit Siegfried und Brünnhilde, ein ekstatischer Augenblick der wechselseitigen erotischen Faszination, der zugleich von bohrenden Zweifeln untergraben wird.

Erneut großartig agierte die Sängercrew. Allesamt waren da keine den Rand der Selbsterschöpfung aufsuchende Brüllstimmen am Werk, sondern solche, die gleichsam mit dem vokalen Florett fechten. Und dabei mit einer derart verständlichen Artikulation aufwarteten, dass es der Übertitel kaum bedurft hätte. Und auch an dieser Stelle sind erneut Dirigent und Orchester zu rühmen, die es schafften, jedem Sänger, jeder Sängerin ihren individuellen Sound mitzugeben beziehungsweise diesen zu verstärken. Von Elsner und Schmutzhard war bereits die Rede, schwer übertrefflich in der Anmutung strahlender und zugleich mit Aggression verbindender Jugendlichkeit agierte Thomas Blondelle als Siegfried.

In düsterer Größe imponierte erneut Derek Welton als Wotan, während Hanno Müller-Brachmann (mit Lautsprecher-Tüte) gelungen Fafners plump-komische Aspekte herüberbrachte. Asa Jäger als Brünnhilde war ein Musterbeispiel dafür, dass vokale Fülle und Potenz keineswegs Sprache und gestische Genauigkeit überwältigen muss. Ein Sonderlob gebührt dem Solisten des Tölzer Knabenchores, der nicht nur sehr klangvoll, sondern auch darstellerisch ganz cool – und „wissend“ – den Waldvogel versah.