Der britische Regisseur Tim Etchells eröffnet mit seiner Zwei-Personen-Komödie „Die Rechnung“ die neue Minispielstätte des Kölner Schauspiels.
Neue Kölner SpielstätteEin 75 Minuten langer Kellnerwitz im Depot 3

Christoph Schüchner (r.) und Frank Genser als Kellner und Gast am Schauspiel Köln.
Copyright: Nurith Wagner-Strauss
„Die Bedeutung eines Wortes“, schreibt Ludwig Wittgenstein in seinen „Philosophischen Untersuchungen“, „ist sein Gebrauch in der Sprache.“ Will sagen: Was alles mit einem Wort gemeint sein kann, lernt man, indem man beobachtet, wie das Wort in verschiedenen sozialen Kontexten und Aktivitäten benutzt wird. „Sprachspiele“, nennt das der österreichische Philosoph.
„Die Rechnung“, Tim Etchells aufs Allernötigste reduzierte Situationskomödie, lässt sich wohl tatsächlich am besten als ein solches Wittgenstein'sches Sprachspiel beschreiben. Nur, dass desto weniger Bedeutung bleibt, je länger Etchells die Standardsituationen und die sie aufrufenden oder auch nur begleitenden Sprachspiele variiert. Zeichen und Bezeichnetes driften auseinander, die Sprechenden scheitern am scheinbar Selbstverständlichsten.
Ein Tisch, ein Glas, eine Flasche Wein – was folgt ist Chaos
Tim Etchells ist Künstlerischer Leiter der britischen Theatergruppe Forced Entertainment, deren oft spartanische und noch öfters hochkomische Produktionen in den 1990er Jahren häufiger in der Studiobühne gastierten. Das waren damals Pflichttermine, hier wurde man nicht nur forciert unterhalten, es gab auch stets etwas Neues über die Logik und Mechanik der Spielsituation zu lernen.
„Die Rechnung“ hatte Etchells ursprünglich zusammen mit den beiden französischen Schauspielern Bertrand Lesca und Nasi Voutas für das Theaterfestival in Avignon konzipiert, die deutsche Fassung lief zuerst auf den Wiener Festwochen, jetzt weiht sie mit ihrer Kölner Premiere die neue Minispielstätte des Schauspiels ein, das Depot 3.
Die Versuchsanordnung auf der schmalen Bühne ist denkbar einfach: ein Tisch, ein Stuhl, ein weißes Tischtuch, darauf Besteck und ein leeres Glas. Ein Gast setzt sich auf den Stuhl, bestellt einen Wein beim Ober, der schon mit der Flasche bereitsteht. Der Ober kippt, der Gast probiert. Alles gut, soll er einschenken. Der Ober gießt. Und gießt und gießt und hört nicht auf. Der Wein schwappt über das Glas, auf das Tischtuch, auf den Boden des imaginären Restaurants. Eine Katastrophe. Glas, Flasche und Decke werden gemeinsam weggeräumt, nun nimmt der gescheiterte Kellner Platz am Tisch und verwandelt sich in den Gast.
Oder ist das etwa schon zu kompliziert? Frank Genser und Christoph Schüchner beginnen den kurzen Abend mit eben dieser Erklärung der Grundsituation, verheddern sich dabei aber gründlich – eigentlich ist schon diese vorgebliche Einführung fürs Publikum eine sprachspielerische Comedy-Routine aus missverstandenen Aussagen in der Tradition von Abbott & Costellos berühmten Baseball-Sketch „Who's on First?“.
Nach einer Viertelstunde beschließen Genser und Schüchner endlich auf den allzu verwirrenden Rollentausch zu verzichten – nur um im Spiel dann doch in die angekündigten Herr-Knecht-Rollen zu verfallen, einer Dynamik des Austausches, die keinen Ausweg findet, Hegel nach dem Ende der Geschichte als Vorwärtsbewegung hin zum Paradies.
Irgendwann, als sie merken, dass sie keinen Schritt weiterkommen, verfällt das dialektische Duo auf die Idee, die Handlung im schnellen Vorlauf 50 Jahre in die Zukunft zu verlegen, wie einen Science-Fiction-Film. Dumm nur, wie ihnen zu spät blüht, dass dann viele derjenigen, die ihnen gerade zugucken, nicht mehr dabei sein werden.
Der Fliege einen Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen
Das Ziel seines Denkens, sagte Wittgenstein, sei der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zu zeigen. In Etchells Sprachspiel-Version landet die befreite Fliege direkt in der Suppe – man könnte „Die Rechnung“ auch als einen auf 75 Minuten breit gewalzten Kellnerwitz bezeichnen. So betrachtet wird die Komik schnell zur Qual und die spartanische Inszenierung zur enervierenden Zumutung.
Aber dann hätte man „Die Rechnung“ ohne Frank Genser und Christoph Schüchner gemacht. Das Publikum lacht nahezu ohne Unterbrechung. Im winzigen Depot 3 – vorher waren hier die Toiletten – kann es zudem den Schauspielern extrem nah auf die Pelle rücken. Die wissen diese Nähe optimal zu nutzen: Neben wunderbaren Sketch- und Slapstick-Nummern – Gensers wilder Tanz mit dem Tischtuch, Schüchners immer noch ein wenig genüsslichere Wiederholung wie sehr er dieses Restaurant, diesen Wein, diesen Ober liebe – sind vor allem die kleinen Gesten ein Quell des Vergnügens, ein verwirrtes Hin- und Her der Augen, eine wegwerfende Handbewegung, ein stotterndes „Ich schenke ein, ich schenke ein, ich schenke ein“.
Eigentlich sind sie beide Knechte, werden nie Herr der Lage, führen Handlungen nur als Zwangshandlungen aus, wiederholen durchaus korrekt auf die jeweilige Situation angewendete Sätze, bis sie zu Floskeln werden und wiederholen darauf diese Floskeln, bis sich jeglicher Sinn verflüchtigt.
Am Ende steht erneut die Frage nach dem Ausweg aus einer ausweglosen Situation. Jemand muss die Rechnung zahlen. Der Ober, der Gast, Schüchner, Genser oder das Publikum? Über die Lösung wollen wir schweigen. Viel wichtiger sind sowieso die Fragen, die dieses Kabinettstückchen aufwirft.
In den besten Momenten seines Stücks – und davon gibt es viele – gelingt Etchells hier genau das, was Wittgenstein mit seiner Philosophie bewerkstelligen wollte: Von einem nicht offenkundigen Unsinn zu einem offenkundigen übergehen.

