NRW-Innenminister Herbert Reul fordert Maßnahmen gegen gewaltbereite Kinder und Jugendliche. Wir schildern einige Fälle.
Kinder unter Terrorverdacht„Feuerkrieg Division“ – 13-jähriger Kölner Neo-Nazi wollte „Ungläubige“ töten

Immer mehr Kinder und Jugendliche sind das Ziel von Terrorismus-Razzien. In NRW planten 15 und 16 Jahre alte Jungen in einer Chatgruppe Anschläge auf Polizeistationen, Kirchen oder Synagogen unter anderem in Köln und Düsseldorf.
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Birte M. (Name geändert) ist 13 Jahre alt und steht bereits auf der Gefährderliste des Landeskriminalamts NRW. Für die Staatsschützer gilt die mutmaßliche Dschihadistin als tickende Zeitbombe, offenbar angetrieben von einem unbändigen Hass. Verliert man die deutsche Teenagerin aus dem Blick, könnte sie ihre Mordpläne womöglich umsetzen.
Die Polizei stuft ihren Fall unter dem Begriff „24/7“ ein. 24 Stunden lange Überwachung durch Einsatzkräfte im westfälischen Paderborn, 7 Tage die Woche. Die Vita weist deutliche Anzeichen psychischer Auffälligkeiten auf. Zerrüttete Familienumstände, soziale Apathie und der Hang zu Gewaltexzessen sorgen für eine Mischung, die städtische Behörden, Polizei und Justiz vor enorme Herausforderungen stellt.
Reul: Birte M. kein Einzelfall
Am 4. Juli erst hat das Jugendamt Paderborn nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ den Aufenthalt des Mädchens in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie für weitere zwei Monate verlängern lassen. Allerdings hat die Klinik sich ausbedungen, dass die Kinder- und Jugendhilfe die Kosten für die Betreuung übernimmt und auch den Sicherheitsdienst bezahlt. Zusätzlich hat die Polizei Beamte als Aufpasser in die Abteilung entsandt. Ein immenser Aufwand für einen Teenager mit extremen Gewaltfantasien.
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Zu Details in dem Fall will sich NRW-Innenminister Herbert Reul im Gespräch mit dieser Zeitung nicht äußern. Allerdings macht der CDU-Politiker klar, dass er die Geschehnisse für äußerst brisant hält. „Dieser Vorgang reiht sich in etliche andere ein, bei denen Kinder und Jugendliche sich übers Internet oder soziale Netzwerke radikalisieren. Am Ende wollen sie ein Blutbad anrichten“, betont der Minister. So etwas habe er früher „für unmöglich gehalten“.
Nils, 13 Jahre, ist gewaltbereiter Neonazi
Mehrere Anschlagsversuche von Minderjährigen seien in jüngster Zeit verhindert worden. Im Herbst 2023 plante ein 15-jähriger Gesamtschüler aus dem bergischen Burscheid einen Sprengstoffanschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Leverkusen. Im April 2024 heckten jugendliche Islamisten im Alter zwischen 15 und 16 Jahren in einer Chatgruppe Anschläge auf Polizeistationen, Kirchen oder Synagogen in Köln, Düsseldorf, Dortmund oder Iserlohn aus. Laut der Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf wollten die Anhänger der Terror-Miliz „Islamischer Staat“ (IS) mit so viele „Ungläubige“ wie möglich töten.

Herbert Reul (CDU), Innenminister von Nordrhein-Westfalen, mahnt Handlungsbedarf im Umgang mit minderjährigen Straftätern an.
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Nils (Name geändert) träumte von Bombenanschlägen gegen Asylbewerber und fantasierte offen über ein Dasein als Naziterrorist. In die Chatgruppe „Feuerkrieg Division“ postete der Kölner Teenager im Sommer 2023 Anleitungen zum Bau von Sprengsätzen sowie einer Maschinenpistole. Sein Hass auf Juden und schwarze Menschen kannte offenbar keine Grenzen.
Der Junge, seinerzeit 13 Jahre alt, konnte strafrechtlich nicht belangt werden. Als einzige Option blieb den Behörden, den Neo-Nazi in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtung unterzubringen. Diese Plätze sind jedoch rar. Offenbar ist der Teenager, inzwischen 14 Jahre alt und strafmündig, immer noch ein Beobachtungsfall für den Kölner Staatsschutz.
Wohin mit den jungen Gefährdern?
„Für die Jugendämter ist es weiterhin sehr schwierig, geeignete Unterbringungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche zu finden, die einerseits einer besonders spezialisierten Betreuung bedürfen und für die ein Leben im Elternhaus aus den unterschiedlichsten Gründen nicht möglich ist“, teilte eine Sprecherin der Stadt Köln auf Anfrage mit. „Besonders herausfordernde junge Menschen können oftmals nur in Gruppen aufgefangen werden, die sehr klein sind oder bedürfen gar einer Einzelbetreuung. Hier stehen aufgrund des Fachkräftemangels besonders wenige Plätze zur Verfügung.“
Gewaltbereite Extremisten werden immer jünger – ganz gleich, ob rechtsextremer oder islamistischer Couleur. „Das Internet samt den sozialen Medien dient gerade bei manchen jungen Menschen zunehmend als Radikalisierungsmaschine. Quasi als digitale Echokammer“, befand NRW-Verfassungsschutzchef Jürgen Kayser vor zwei Jahren in einem Interview mit dieser Zeitung.
Aus Frust wird Hass
Meist handele es sich um User mit schwierigen Biografien, etwa Einzelgänger, die in der Schule gemobbt werden oder im Elternhaus Probleme hätten. „Frust wandelt sich dann schnell in Hass auf die gesamte Gesellschaft. Die extremistische Ideologie bietet das Ventil für die eigene Unzufriedenheit mit dem Leben“, resümiert der leitende Verfassungsschützer. Eine Analyse, die nicht nur für politische oder religiöse Fanatiker gilt.
In Remscheid beispielsweise hat ein Elfjähriger im Mai dieses Jahres mit einem Messer auf einen 13-jährigen Jugendlichen eingestochen. In Gera prügelten und würgten ein zwölf und ein 13 Jahre alter Junge einen 14-jährigen Jungen und filmen ihn mit dem Handy. Vor allem aber der Mord an der zwölfjährigen Luise in Freudenberg im März 2023 hat Innenminister Reul nachdenklich gemacht.

Blumen und Kerzen wurden am Fundort des ermordeten Mädchens Luise niedergelegt. Bei der Obduktion der Leiche sind zahlreiche Messerstiche festgestellt worden.
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Eine 12 und eine 13 Jahre alte Klassenkameradin hatten das Mädchen in ein Waldstück gelockt und mit 71 Messerstichen getötet. Da sie noch nicht strafmündig waren, stellte die Polizei die Ermittlungen ein. Zivilrechtlich sind Konsequenzen jedoch möglich. Am Donnerstag (24. Juli) kommt der Fall Luise deshalb doch vor Gericht: Ihre Eltern verklagen die Täterinnen auf mehr als 170.000 Euro Schmerzensgeld.
„Die Täterinnen hatten sich vorher bei Google im Internet erkundigt, ob sie aufgrund ihres Alters straffrei ausgehen. Das muss man sich einmal vorstellen“, sagt Reul. „Es ist eine neue Lage, die wir so früher nicht hatten. Soziale Medien, Internet, der schnelle Klick. Vielleicht sind Kinder und Jugendliche auch früher reifer, entwickeln sich schneller.“
Für den Minister und ehemaligen Lehrer müssen neue Lösungen her. Womöglich auch eine Gesetzesreform, um das strafmündige Alter von 14 auf zwölf oder gar zehn Jahre herabzusetzen. Letzteres gilt weitgehend schon in Großbritannien, in den Niederlanden liegt die Grenze bei zwölf. „Zumindest sollte man ernsthaft nachdenken, wie wir damit umgehen, dass gerade Kinder immer gewalttätiger oder radikaler werden. Wie kann man diese besorgniserregenden Entwicklungen stoppen?“
CDU-Vorschlag: Unter 16 Jahren soziale Netzwerke verbieten
Die Polizei jedenfalls dürfe nicht immer der Ausputzer „für die Gesellschaft sein, für die Probleme, die andere nicht auf die Reihe bekommen“, sagt Reul vorsichtig. Wohl wissend, dass sein grüner Amtskollege Benjamin Limbach aus dem Justizressort strikt gegen eine Absenkung der Strafmündigkeit ist. Der Innenminister spricht das Nein des grünen Koalitionspartners nicht direkt an, sagt aber: „Eine Bunkermentalität nach dem Motto, weiter so, es ändert sich eh nichts, wird den Problemen nicht gerecht.“
Zugleich unterstützt der Landesinnenminister den Vorschlag seines Parteifreundes Daniel Günther. Der CDU-Ministerpräsident in Schleswig-Holstein fordert, Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren den Zugang zu sozialen Netzwerken zu verbieten. „Ich glaube immer mehr, wir brauchen so etwas, um die jungen Leute vor all dem grassierenden Schmutz und den Brandstiftern im Netz zu bewahren.“
Wie aber mit einer islamistischen Gefährderin im Kindesalter umgehen, die offenbar nur im Sinn hat, zu töten? Recherchen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ zeigen die Hilflosigkeit eines Sicherheitsapparates, überfordert und gestresst von den Eskapaden einer gewaltbereiten Jugendlichen.
Birte M. startete Fluchtversuch trotz Fußfessel
Bei einer zeitweiligen Unterbringung in der Jugendpsychiatrie ab dem 15. April dieses Jahres, versuchte Birte M. in der Innenstadt von Paderborn während eines Freigangs zu fliehen und wurde anschließend von der Polizei wieder eingefangen. Am 16. Juni musste das Mädchen aus der Psychiatrie entlassen werden, weil eine längere Zwangsmaßnahme für einen so jungen Menschen rechtlich kaum zu begründen gewesen wäre.
Ein Amtsrichter ordnet daraufhin an, der Schülerin eine elektronische Fußfessel anzulegen. Zugleich wurde eine eng gefasste „Gebotszone“ für Tag und Nacht festgelegt, in der sich der Teenager aufhalten darf. Ein Verein aus der freien Jugendhilfe übernahm die Aufsicht. Das Mädchen wurde mit einer eigens für sie abgestellten Betreuerin in einem Ferienhaus in einer Anlage im Teutoburger Wald untergebracht.
Die zentrale Überwachungsstelle für Fußfesseln, in Hessen angesiedelt, alarmierte die Leitstelle Bielefeld drei Tag später. Birte war kurz nach Mitternacht durch ein geöffnetes Schlafzimmerfenster geklettert. Die Einsatzkräfte orteten sie 400 Meter von dem Ferienpark entfernt. Als Polizisten das Mädchen überwältigten, beschimpfte sie die Beamten wüst und überzog sie mit dschihadistischen Todesdrohungen.
Am 23. Juni floh die Gefährderin nach Informationen unserer Zeitung erneut. Bei der späteren Festnahme wehrte sie sich mit Händen und Füßen, trat eine Glastür ein, ging mit Scherben in der Hand auf die Beamten los. Erneut wurde sie in die geschlossene Jugendpsychiatrie eingewiesen. Im Oktober hat Birte Geburtstag. Dann wird sie 14 Jahre alt und strafmündig. Bis dahin, so die Prognose eines Insiders, „wird sie ein extrem hohes Maß an polizeilichen Überwachungskapazitäten binden“.