Der Soziologe Armin Nassehi wirft einen überraschenden Blick auf christliche Feste wie Ostern und erklärt Donald Trumps Selbstinszenierung.
Soziologe Armin Nassehi zu Ostern„Religion ist wild und gefährlich“

Armin Nassehi, hier bei der Frankfurter Buchmesse im Jahr 2019 zu sehen.
Copyright: Foto: imago images/Manfred Segerer
Herr Professor Nassehi, zu Ostern gibt es vier arbeitsfreie Tage: von Karfreitag bis Ostermontag. Ist Ostern heute noch mehr als ein schönes langes Wochenende?
Armin Nassehi: Als religiöser und spiritueller Höhepunkt des christlichen Jahres hat Ostern nur noch für die wenigsten Bedeutung. Für die meisten ist es die erweiterte Abwechslung vom Alltag: die Familie oder Freunde treffen, Hobbys pflegen, sich Ruhe gönnen.
Sie klingen, so wie Sie das schildern, ganz entspannt. Würden Sie sagen: Ostern kann ruhig weg?
Nein, kann es nicht und wird es nicht. Selbstverständlich laufen den Kirchen die Mitglieder weg, und dieser Trend sieht ziemlich unumkehrbar aus. Kirchlichkeit jedenfalls bestimmt das Alltagsleben der Menschen immer weniger. Aber die Gesellschaft scheint nicht auf Religion zu verzichten. Jedenfalls gibt es dafür keinen empirischen Beleg. Selbst in den Weltgegenden, in denen die Säkularisierung besonders weit fortgeschritten ist, kommt es nicht zu einem Verschwinden des Religiösen. Auch nicht bei uns. Wohl aber lösen sich religiöse Formen und Bedürfnisse immer mehr und nachhaltig von klassischen verfassten Formen. Unter diesen Bedingungen schwindet dann zum Beispiel die Bedeutung der Feste im Kirchenjahr. Sie sind dann eher Anlass für ein opulentes Festmahl als für den Besuch des Hochamts.
Was hat das denn noch mit Religion zu tun?
Mit Kirchlichkeit als organisierter Form der Religion erst einmal gar nichts. Aber mit einer aus der Substanz der Religion stammenden Imprägnierung der Gesellschaft, die bei Grenzfragen des Lebens wieder hervortritt: Schuld, Tod, Vergänglichkeit, letztlich mit der Frage der – Achtung, Soziologendeutsch! – Gesamtselektivität der Welt.
Was soll das bedeuten?
Gemeint ist die Frage des Menschen, warum es die Welt überhaupt gibt und was es mit seiner Existenz in dieser Welt auf sich hat. Wie gehe ich mit Krisen um, mit unerwarteten Einschnitten, die mir meine Verletzlichkeit vor Augen führen? Die Antworten darauf sind nicht notwendig religiös, können aber ins Religiöse gehen.
Wobei mir immer noch nicht klar ist, was das Religiöse dann sein soll.
Das lässt sich auch nicht so klar bestimmen. Ich würde sagen: Das Religiöse kommt immer dann ins Spiel, wenn Menschen etwas in symbolischer Form zur Sprache bringen, was sie anders nicht ausdrücken können. Religiöse Kommunikation kann offensiv mit Unbestimmtheit umgehen. Für eine Studie habe ich mich gemeinsam mit Irmhild Saake mit Krankenhausseelsorgern in der Palliativmedizin beschäftigt. Was sie tun, wird ja meistens von den beiden großen Kirchen organisiert. Das Spannende ist: Diese Leute, wenn sie gut sind, wissen ganz genau, wem sie im Krankenhaus mit explizit kirchlichen Ritualen kommen können und wem nicht.
Dann müsste es ja auch religiöse Rede ohne konkrete religiöse Inhalte geben, oder?
Ja, es geht hier – sorry, noch ein gefühlskalter Soziologenbegriff – um die „Bewirtschaftung von Unbestimmtheit“. Das geschieht nicht nur explizit religiös, sondern beinhaltet auch die Möglichkeit, über Krankheit, Leid, Tod und womöglich auch über Gott ins Gespräch zu kommen, ohne explizit von Krankheit, Leid, Tod, Gott zu reden.
So wie Sie das beschreiben, würden Sie vermutlich nicht einstimmen in die kirchenamtliche Warnung, der Rückgang der Kirchenbindung lasse ein Sinndefizit entstehen?
Das ist ja das großdiagnostische Urteil über die Moderne. Es beruht auch auf einer Verklärung der Vergangenheit, so als hätte es für die Gesellschaft früher einen für alle verbindlichen und verbindenden „Gesamtsinn“ des Lebens gegeben. Ich halte das für eine Projektion. Der vermeintlich sinngestiftete Zusammenhalt rührte eher aus einer religiösen Alltagspraxis mit sehr hohen Normerwartungen, moralischen Standards, sozialem Druck: „Du gehörst genau auf den Platz im Leben, auf den Gott dich gesetzt hat. Und wehe, du weichst davon ab!“ Wenn das die Vorgabe ist, dann gibt es eine religiöse Spannung als Frage nach dem eigenen Schicksal und der Heilsgewissheit innerhalb einer religiösen Sinnkonstruktion: Gehöre ich zu den Auserwählten oder nicht? Es gibt diese Spannung aber nicht als offene Frage nach einem Sinn. Zur Diagnose eines Sinnverlusts kommt es erst in einem gesellschaftlichen Kontext, in dem der Sinn selbst zu einem expliziten individuellen Thema geworden ist.
Aber die christliche Sinndeutung bleibt als – sagen wir – ein Grundrauschen dauerhaft präsent?
Gehen Sie durch Köln oder andere Städte! Da stehen doch die Kirchen – und sie sind offenkundig „bewohnt“. Also, da ist noch Leben. Und religiöse Akteure sind doch auch sehr präsent: Sie sitzen in Rundfunk- und Ethikräten, in Ethikräten. Sie nehmen teil am öffentlichen Diskurs und werden vor allem zu den Grenzfragen des Lebens wie selbstverständlich gehört. Jenseits des Institutionellen manifestiert sich das, was Sie Grundrauschen nennen, natürlich auch in der gesamten kulturellen Prägung unserer Gesellschaft. Es gehört zu meinen Steckenpferden als Soziologe, dass man im deutschsprachigen Raum immer noch sehr gut zeigen kann, welche kulturellen Formen eher katholisch oder eher protestantisch imprägniert sind.
Gut, das müssen Sie im „hillije Kölle“ wahrscheinlich niemandem erklären.
Spannend ist dann die Frage, ob die religiöse Prägung für die Menschen zu ihrer Identität gehört. Im Islam gibt es die Tendenz, dass die Religion zum bestimmenden Faktor des gesamten Lebens wird. Im Christentum hat eine behördenähnlich organisierte Kirchlichkeit historisch zu einer viel deutlicheren Trennung der religiösen Sphäre von der nicht-religiösen Sphäre geführt. Die Kirchen haben es jedenfalls perfekt hinbekommen, das prinzipiell Wilde, Unbändige des Religiösen und damit übrigens auch sich selbst zu domestizieren. Deshalb ist das Christentum fast paradoxerweise am ehesten kompatibel mit der säkularen Moderne. Die Kirchen selbst sorgen dafür, die unkontrollierbaren Potenziale des Religiösen in Schach zu halten.
Heißt das umgekehrt: Wenn die Kirchenbindung nachlässt, bricht sich die gezähmte Wildheit wieder Bahn?
Genau das erleben wir ja zur Zeit. Denken Sie an die Evangelikalen, vor allem in den USA, aber auch in Lateinamerika. In Europa spielt dieser christliche Fundamentalismus außerhalb des kirchlich verfassten Rahmens eine geringere Rolle. Aber das wird auch bei uns kommen.
Besorgt Sie das?
Frei flottierende Religiosität in christlichen Sekten, bei Evangelikalen, aber auch in Spielarten des Islam, hat oft einen unguten Drive ins Unbedingte, Unkontrollierbare. Wenn Sie es in der evangelischen oder katholischen Kirche übertreiben, dann schlägt – wie es der Religionswissenschaftler Reinhard Schulze ausdrückt – die „Behörde“ zu. Was sich nach Beschneidung von Freiheit anhört, hat eine ungemein wichtige zivilisatorische Wirkung. Inwiefern? Ich bin einmal gefragt worden, wie ich Zivilisation definieren würde. Meine Antwort war: Zivilisation ist, wenn man nicht alles sagt, was einem gerade in den Kopf kommt. Und im Bereich des Religiösen ist es genau das, was die Kirchen organisieren.
Ist der Populismus eigentlich eine Art Religionsersatz?
Von Ersatz würde ich nicht reden. Aber Sie haben insofern recht, als Populisten Religion gern für identitätspolitische Kämpfe einsetzen. Sie tun ja gern so, als kennten sie den wahren Volkswillen. Wenn „wir“ uns als „christliches Abendland“ verstehen, dann müssen „wir“ uns natürlich gegen Migrationsbewegungen von außen abschotten und klar zu verstehen geben, wer „zu uns“ gehört. Deshalb gehen US-amerikanische Minister am Aschermittwoch mit einem Aschenkreuz auf der Stirn vor die Kamera. Das hat mit Religiosität wenig zu tun. Das ist Religionspolitik.
Aber mal umgekehrt gedacht, von den Anhängern populistischer Parteien und Akteure: Ist die Erwartung klarer, stimmiger, in sich schlüssiger Weltdeutungen samt der Hoffnung auf eine Rettergestalt nicht etwas, was man sonst aus dem religiösen Kontext kennt?
Donald Trump als Messias. Da ist was dran. Es gibt ja inzwischen in den USA eine geradezu messianische Ikonografie um Trump, wo die Leute zusammen beten und man nicht genau weiß, wer nun eigentlich ihr Gott ist. Christlich gesprochen, ist das die pure Blasphemie. Aber in Diktaturen gehört die Vergottung des Führers oder die Sakralisierung des Kollektivs zum festen Formenkanon. Das finden Sie bei den Nazis, das finden Sie ähnlich bei Putin und seinen geschichtsphilosophischen, ethnonational-religiösen Ideologen.
Auch Trump nennt sich einen Gesandten des Herrn, den die göttliche Vorsehung im vorigen Juli vor den Kugeln des Attentäters von Butler/Pennsylvania bewahrt hat.
Ich wehre mich dagegen, diese Vorstellung „religiös“ zu nennen. Sie zehrt von religiösen Formen und von einem Potenzial religiöser Rede, dessen sich religiöse Gestalten im eigentlichen Sinne heute nicht bedienen würden. Sie tragen – im Gegenteil - semantische Bescheidenheit ostentativ vor sich her. Würde der Papst sich hinstellen und sagen: Ich bin der Auserwählte Gottes? Wohl kaum! Benedikt XVI. hat sich in seiner ersten Ansprache 2005 als „demütigen Arbeiter im Weinberg des Herrn“ bezeichnet. Das ist die Fallhöhe. Als Soziologe finde ich es interessant, wie gut die religiöse Zeichensetzung in politischer Absicht funktioniert – eben weil die Form des Religiösen den Menschen vertraut ist und sie erreicht.
Ist das ein Missbrauch der Religion, hier speziell der christlichen Religion? Oder gehört es nicht doch zu ihr? Mit der Vorstellung vom „Gottesgnadentum“ sind die weltlichen Herrscher Europas schließlich jahrhundertelang ganz gut über die Runden gekommen.
Missbrauch ist eine Frage der Perspektive. Mich interessiert das Potenzial. Und wie gesagt: Religion ist prinzipiell wild und gefährlich. Sie weiß etwas über das gesamte Sein, über das Absolute – und leitet daraus absolute Ansprüche ab. An dieser Wildheit kann die Politik partizipieren, zum Beispiel in der Form des religiös imprägnierten Nationalismus, den wir gerade weltweit wieder verstärkt erleben.
Schlussfrage: Was machen Sie selbst eigentlich an Ostern?
Ich bestätige meine Eingangsthese: Ausspannen, Zeit mit der Familie verbringen. Und falls Sie auf eine etwaige religiöse Praxis hinauswollen: Ja, die gibt es – musikalisch. Nachdem ich in der gesamten Fastenzeit, was meine Freunde teils ziemlich schräg finden, fast nur Passionsmusik gehört habe mit der „Johannes-Passion“ von Arvo Pärt als einsamem Höhepunkt, kommt an Ostern Johann Sebastian Bach zum Zug, natürlich mit dem Oster-Oratorium.
Zur Person
Armin Nassehi, geboren 1960 in Tübingen, ist seit 1998 Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er hat in Hagen und Münster studiert, wo er auch promovierte und habilitierte. Zu den Schwerpunkten seiner Arbeit gehören die Kultur- und Religionssoziologie.
Nassehi ist Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und gehört seit 2024 dem Deutschen Ethikrat an. Im Bayerischen Ethikrat hat er seit 2021 stellvertretenden Vorsitz inne. In der Zeit der Corona-Pandemie war Nassehi im Expertenrat der damaligen NRW-Landesregierung unter Ministerpräsident Armin Laschet.
Nassehi schreibt als Gastautor für verschiedene Zeitungen und ist seit 2012 Herausgeber der Kulturzeitschrift „Kursbuch“. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen gehören die Bücher „Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft“ (2021), „Gesellschaftliche Grundbegriffe. Ein Glossar der öffentlichen Rede“ (2023) und „Kritik der großen Geste. Anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken“ (2024). Alle genannten Bücher sind im Münchner Verlag C.H. Beck erschienen. (jf)