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Corona, GeflüchteteWarum über 50-Jährige anfälliger für Verschwörungsmythen sind

Lesezeit 5 Minuten
Ein Schild mit der Aufschrift «Ich will keine Impfung» steht am Rande einer Kundgebung von Anhängern von Verschwörungstheorien zur Corona-Krise im Großen Garten auf einer Wiese. (zu dpa «Verdienstausfall für Ungeimpfte - was Arbeitnehmer wissen müssen») +++ dpa-Bildfunk +++

Die Corona-Pandemie hat einen besonders fruchtbaren Boden für Verschwörungserzählungen geboten. 

Menschen der Generation 50plus gleiten eher in Verschwörungsdenken und Filterblasen ab als jüngere Menschen. Woran liegt das?

Paul (45) erzählt von seinem Vater: „Je älter er wird – er ist 76 – , desto mehr sorgt er sich um seine Gesundheit.“ Er besuche fast zwanghaft esoterische Gesundheitsmessen und habe bereits erhebliche Summen in Gesundheitsprodukte investiert. „Aber was wirklich schlimm ist: Durch diese ganze alternativmedizinischen Anbieter hat er sich zunehmend in eine pharmakritische und mittlerweile auch staatskritische Haltung hineinmanövriert. Er schimpft auf die Regierung, geht zu keiner Vorsorgeuntersuchung und ist davon überzeugt, dass Ärzte und Pharmaindustrie unter einer Decke stecken.“

Johann (41) berichtet: „Meine Mutter war eigentlich immer grün. Mit 61 Jahren kam sie in Frührente. Kurz nach Rentenbeginn veränderte sich ihre Welt.“ Plötzlich habe sie Stunden in Onlineforen verbracht, den Familienchat mit Nachrichten geflutet und im Laufe der Flüchtlingskrise zunehmend menschenverachtende Inhalte geteilt. „Ich muss nicht sagen, was während Corona mit ihr passierte. Sie hat sich endgültig radikalisiert.“ Diskussionen nützten nichts. „Wie kann ein Mensch sich nur so ändern?“

Verschwörungsmythen: Erwachsene Kinder suchen Hilfe

Das sind zwei Beispiele von vielen, die Sarah Pohl und Mirijam Wiedemann in „Abgetaucht, radikalisiert, verloren? Die Generation 50+ im Sog der Filterblasen“ beschreiben. Die beiden Autorinnen nehmen damit ein bisher wenig untersuchtes Phänomen ins Visier.

Es hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden. „Früher waren es vor allem besorgte Eltern, die sich wegen ihrer radikalisierenden Kinder Sorgen machten. Seit der Pandemie hat sich das gedreht“, sagt Sarah Pohl, Leiterin der Zentralen Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen Baden-Württemberg (Zebra/BW). „Mittlerweile suchen zahlreiche junge Erwachsene Hilfe, weil sie mit ihren radikalisierten Müttern und Vätern verzweifeln.“

Von den 500 bis 600 Erstberatungen im Jahr drehe sich knapp die Hälfte um Verschwörungstheorien. Bei 90 Prozent davon handele es sich um ältere Menschen, die sich beispielsweise im Querdenker-Milieu, in der Reichsbürgerbewegung oder über eine esoterische Weltanschauung radikalisiert hätten – oft sei das verbunden mit einem tiefen Misstrauen gegenüber dem Staat.

Krisen fördern Radikalisierung

Die Buchautorinnen wollen damit nicht, einer „ganzen Generation kollektiv einen Alu-Hut“ aufsetzen. Sie beziehen sich in ihren Ausführungen auf Menschen, die einem in sich geschlossenen Weltbild anhängen, allgemeingültige Werte infrage stellen und nur reduzierte Kontakte zur Außenwelt pflegen.

Die Gründe für die Radikalisierung seien vielfältig. „Was sich wie ein roter Faden durch die Gespräche zieht, ist das Thema Medienkompetenz“, sagt Pohl. „Gerade in der Generation 50+ fehlt es oft an der Fähigkeit, vertrauenswürdige Quellen von fragwürdigen zu unterscheiden.“ So würden Fake News bei Älteren auch einfach leichter verfangen.

Generell haben Pohl und Wiedemann festgestellt, dass „Krisen und Brüche“ eine Radikalisierung begünstigen. „Der Eintritt ins Rentenalter kann zu Bedeutungsverlust und zu Selbstzweifeln führen, der Tod des Partners oder der Partnerin zur Isolation“, erklärt Pohl. „Verschwörungserzählungen können dann dem Leben einen neuen Sinn geben und das Gefühl von Zugehörigkeit vermitteln.“

Einstieg über Esoterik

Auch das Thema Gesundheit rücke noch stärker in den Fokus. „Esoterik ist oft ein Einstieg ins Verschwörungsdenken. Die Pandemie hat dabei wie ein Brandbeschleuniger gewirkt, Ängste befeuert und das Vertrauen zu offiziellen Institutionen erschüttert.“

Auch die Corona-Pandemie hätte einen besonders fruchtbaren Boden für Verschwörungserzählungen geboten. Einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ergab, dass 36,3 Prozent voll oder zumindest eher zustimmten, dass die Regierung die Bevölkerung in der Coronakrise gezielt in Angst versetzt habe, um massive Grundrechtseinschränkungen durchzusetzen. Das Coronavirus sei eine Biowaffe, die absichtlich entwickelt wurde, um Menschen zu schaden - das traf bei 18,1 Prozent der Probanden auf Zustimmung.

Dass immer mehr ältere Menschen in radikale Filterblasen abdriften, bestätigt auch Tobias Meilicke, Leiter der Berliner Beratungsstelle Veritas, die Angehörige von Verschwörungsgläubigen unterstützt. „Das Verschwörungsdenken bei der Generation 50+ hat eindeutig zugenommen.“ Es würden immer mehr Anfragen von jüngeren Erwachsenen kommen, die sich Sorgen um ihre Eltern machen. „Auffällig sind vor allem die älteren Männer, die mit ihrem Geltungsdrang oft aggressiv ihre rassistischen, sexistischen und staatsfeindlichen Positionen vermitteln.“

Ältere auch Mentoren für Junge

Dabei gehe es zum einen um das Selbstwertgefühl: wie werde ich wahrgenommen? Aber auch um Selbstwirksamkeit. „Man will sich aus einer gefühlten Ohnmacht heraus einen eigenen Auftrag geben“, sagt Meilicke.

Er warnt zudem davor, Extremismus als Jugendproblem abzutun. „Für Jugendliche gibt es zahlreiche Projekte, wie das Präventionsprojekt Streetwork online. Für Ältere gibt es nichts in dieser Richtung.“ Das könne „fatale Folgen“ haben, wie bei der Reichsbürger-Gruppe von Heinrich Prinz Reuß, die vor wenigen Jahren mit Waffengewalt einen Umsturz geplant hatte.

„Die Leute in der Gruppe: alles Ältere“, so Meilicke. „Wir können es uns gesellschaftlich nicht leisten, dieses Thema zu ignorieren. Das wäre demokratiegefährdend.“ Schließlich würden Verschwörungsdenkende in der Regel nicht nur extrem wählen, sie sind oft auch Mentoren und Ideengeber für junge Menschen.

Gezielt Ältere ansprechen

„Hier ist die Gesellschaft in der Pflicht: Aufklärung kann es in den Betrieben über die gewerkschaftliche Bildung geben, oder an kommunalen Orten und der Kirche“, rät Meilicke. Auch im Internet – zum Beispiel bei Facebook – müsse man gezielt Ältere ansprechen, die durch Hatespeech auffallen.

Eine der Ursachen für die Radikalisierung sei der Umstand, dass die Kriegs- und Nachkriegsgeneration es „nicht gelernt hat, über ihre Gefühle und Bedürfnisse zu sprechen.“ Im familiären Miteinander sollten deshalb Jüngere und Ältere gemeinsam üben, über ihre Emotionen und Erfahrungen zu reden – auch über die Dinge, die einen ohnmächtig machen. „So kann Aussöhnung beginnen.“

Auch Sarah Pohl und Mirijam Wiedemann setzen auf Gespräche: „Wir müssen wieder lernen, Fragen zu stellen und zuzuhören, Kontakt zu halten. Und wir dürfen den Menschen nicht mit einer Meinung verwechseln“, sagt Pohl. Auch, wenn sich nicht jeder Konflikt immer lösen lässt.