Vor 50 Jahren adoptierte die Siegburger Familie Morgenstern ein Kind aus Mumbai – und legte so den Grundstein für den Verein Indienhilfe.
„Ich hatte soviel Glück“Anandi Morgenstern aus Siegburg wurde adoptiert – und hilft heute selber

Anandi Morgenstern wurde 1975 mit sechs Monaten aus Indien adoptiert. 1985 gründeten ihre Eltern Inge und Hermann Morgenstern (hier mit Tochter Gabi) die Indienhilfe Siegburg.
Copyright: Anandi Morgensten
„Ich habe immer gewusst, dass ich Glück habe“, sagt Anandi Morgenstern. Schon im Kindergarten am Michaelsberg in Siegburg, berichtet die Grundschullehrerin, bat sie ihre Freundinnen, ihr zum Kindergeburtstag Geld zu schenken. Geld, das die Siegburger Familie dann in ein Kinderheim ins damalige Bombay (heute Mumbai) schickte. „Davon kauften die Schwestern dort den Kindern ein kleines Geschenk, eine Orange für jeden.“
Das Kinderheim Prem Sadan am Rand eines Slums in der indischen Großstadt war die ersten sechs Monate ihres Lebens auch das Zuhause von Anandi. Von dort adoptierte die Siegburger Familie den winzigen Säugling mit dem aufgeblähten Hungerbauch. Für das Mädchen der Start in ein privilegiertes, glückliches Leben. Aber auch der Grundstein für die Gründung des Vereins Indienhilfe Prem Sadan in Siegburg zehn Jahre später. Am Mittwoch feiert die ehrenamtliche Hilfsorganisation ihr 40-jähriges Bestehen im Stadtmuseum.
Unterlagen über das adoptierte Kind gab es in Indien nicht
Ein kleines Foto eines Säuglings mit dichtem, dunklen Haarschopf – das war alles, was Inge und Hermann Morgenstern zunächst von ihrem dritten Kind zu sehen bekamen. Das Ehepaar hatte sich zur Adoption entschlossen, hatte mit dem Kinderheim im damaligen Bombay Kontakt aufgenommen, das von den Sisters of Mary, einer Glaubenskongregation indischer katholischer Schwestern, geführt wurde. Man schrieb Briefe, drei Empfehlungsschreiben wurden nach Indien geschickt: eines vom Bürgermeister, eins von einem Kinderarzt und eins von Abt Placidus aus der Siegburger Abtei.
Was für ein Kind nach Deutschland kommen würde, das wussten die Morgensterns nicht. Nur, dass es ein Mädchen sein würde. Unterlagen über das Kind hatten die Schwestern nicht. Eine Geburtsurkunde wurde erst später ausgestellt, auf den Nachnamen Morgenstern.

Inge Morgenstern mit ihrer adoptierten Tochter Anandi.
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Ein Dreivierteljahr dauerte es, bis der Siegburger Rechtsanwalt Hermann Morgenstern und seine Frau Inge im Juni 1975 zum Frankfurter Flughafen fahren und das Kind abholen konnten. Vier Stunden warteten sie am Airport, bis sie das Mädchen schließlich in die Arme nehmen konnten.
„Meine Mutter erzählte mir später, ich sei ihr fremd gewesen“, erinnert sich Anandi Morgenstern. Die Hautfarbe so dunkel, der Körper von Hunger gezeichnet, der Geruch so anders. Viel kleiner als erwartet war das Mädchen, die gekaufte Kinderkleidung viel zu groß. Die gelernte Säuglingsschwester brachte das indische Mädchen zunächst zum Arzt für einen Gesundheitscheck und eine Wurmbehandlung. „Und als sie aus der Praxis kam, da hatte sie das Gefühl, ich bin ihr Kind“, sagt die Tochter.
Aufgepäppelt musste das kleine Mädchen werden, das wegen seiner dunklen Hautfarbe auffiel, in Siegburg. Wohl auch deshalb machten die Eltern nie einen Hehl aus ihrer Adoption, erzählten ihr von dem Kinderheim im Armutsviertel, an das sie ausgediente Kinderkleidung schickten, Zahnbürsten kauften, jährlich eine fünfstellige Summe spendeten.
1985 gründete der Siegburger Rechtsanwalt Hermann Morgenstern die Indienhilfe Prem Sadan
1984 dann reiste Hermann Morgenstern, beschäftigt bei Dynamit Nobel in Troisdorf, ins damalige Bombay, um einen Vertrag für den Bau einer Zünderfabrik auszuhandeln. Schon auf dem Weg vom Flughafen in die Innenstadt sah er unglaubliche Armut. Nach dem Termin besuchte er Prem Sadan, traf die leitende Sister Shalini, die die Adoption auf den Weg gebracht hatte und die seitdem in engem Kontakt mit den Morgensterns stand, immer wissen wollte, wie es der kleinen Anandi in der Fremde ging. Er sah den Raum, in dem etwa 80 Babys lagen. Und wusste: Er wollte etwas tun.
Auf dem Rückflug nach Deutschland schmiedete Hermann Morgenstern bereits Pläne für die Gründung der Indienhilfe Siegburg. 1985 hob er mit sechs weiteren Gründungsmitgliedern den Verein aus der Taufe. Heute hat der Verein 30 feste Mitglieder und dauerhafte Spender. Das Anno-Gymnasium und seine Schülerinnen und Schüler gehören zu den eifrigsten Unterstützern.

Mit dem Geld der Indienhilfe werden die Mädchen im Kinderheim unterstützt. Sie sollen ein sicheres Dach über dem Kopf haben und eine Schulbildung bekommen - und auch Spaß haben.
Copyright: Prem Sadan
Im letzten Jahr konnte der Verein knapp 40.000 Euro nach Indien überweisen. Ein Klassenzimmer wurde mit dem Geld aus Siegburg gebaut, Waschräume, ein Brunnen. Heute nimmt Prem Sadan nur noch Mädchen auf, unterrichtet sie, hilft ihnen zu einer Ausbildung. Nicht in die Textilfabriken sollen sie müssen, nicht Zimmermädchen werden, wo die jungen Frauen oft wie Sklavinnen gehalten werden und sexueller Missbrauch häufig ist.

Anandi Morgenstern (50) wurde als Säugling von einer Siegburger Familie adoptiert. Die Grundschullehrerin ist im Verein Indienhilfe Prem Sadan aktiv, den ihre Eltern 1985 gründeten.
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„Die Schwestern wollen die Frauen stärken“, berichtet Anandi Morgenstern, die regelmäßig nach Mumbai reist und das Heim besucht. „Die Schwestern achten darauf, dass die Mädchen unabhängig sind und auf eigenen Füßen stehen können.“ Krankenschwester, Lehrerin, Nonne werden sie häufig. „Die Sisters gehen auch in den Slum, klären die Menschen auf, sprechen über Verhütung, verteilen Medikamente und holen die Kinder in die Schule.“
Schon mit 16 Jahren wusste Anandi Morgenstern, dass sie selber ein Kind adoptieren wollte
Die Unterstützung aus Siegburg sei ungeheuer wichtig, so Morgenstern, die gemeinsam mit ihren Geschwistern aktiv im Verein tätig ist.„ Die Regierung kümmert sich nicht. Armut gibt es offiziell nicht in Indien“, sagt sie. Dabei erlebt sie es bei jedem Besuch aufs Neue: Die vielen obdachlosen Menschen, die auf einem Stück Pappe auf der Straße liegen, Hunderte von bettelnden Kindern.
Zumindest einigen von ihnen könne ihr Verein helfen. Und den Müttern, die dank der Zusammenarbeit des Slum-Krankenhauses und des Kinderheims der Sisters of Mary anonym bleiben können. „Ein großer, dschungelartiger Garten liegt zwischen den Gebäuden – und nach der Geburt geht eine Schwester hindurch und nimmt das Neugeborene durch ein Tor entgegen“, beschreibt es die heute 50-jährige Anandi. So solle die Mutter geschützt werden, der Verstoßung oder Tod drohe, sollte die Geburt bekannt werden.

Schulbildung und Sport für die Mädchen im indischen Heim fördert der Verein aus Siegburg.
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Sie selbst habe Sister Shalini aber doch nach ihrer leiblichen Mutter gefragt und zwei verschiedene Geschichten gehört, die von Missbrauch und Not geprägt waren. Ob sie stimmten? Anandi Morgenstern weiß es nicht. „Es war auch nicht relevant, denn meine Familie war ja die in Siegburg.“
Geprägt hat sie es doch. Das Bewusstsein, Glück gehabt zu haben, ist tief in ihr verwurzelt, ebenso wie der Wunsch, etwas davon zurückzugeben. Mit der Arbeit im Verein, der noch viel mehr Unterstützer benötige. Und mit dem Wunsch, selber ein Kind zu adoptieren. „Das war mir schon mit 16 Jahren klar“, erinnert sich die Lehrerin, die mit ihrem Mann Andreas Grimm in Köln lebt. Ihr mittlerweile 16-jähriger Sohn stammt aus Thailand. Ein Kind aus Indien hätte sie gerne aufgenommen, doch ein Adoptionsabkommen gibt es mit der dortigen Regierung nicht.