Hans Werner Wüst begann erst im Alter von 57 Jahren mit dem Laufen. Seitdem hat er nicht mehr aufgehört.
58. Marathon steht anDer Kölner, der mit 75 Jahren um die Welt läuft

Hans Werner Wüst bei einem Regenerationslauf am Sürther Rheinufer.
Copyright: Alexander Schwaiger
Angefangen hat alles, so berichtet Hans Werner Wüst, im Juli 2006 auf einem Parkplatz in Köln-Müngersdorf. Der damals 63 Jahre alte Mick Jagger hatte soeben über zwei Stunden mit seinen Rolling Stones das Stadion gerockt und mit seiner schier endlosen Ausdauer mächtig Eindruck hinterlassen – besonders bei Wüst. Er sei geschockt gewesen. „Es muss sich etwas ändern!“, habe er zu seiner Frau gesagt. Der damals 56-Jährige hatte „nie ernsthaft oder regelmäßig“ Sport betrieben. Bis dahin. Es folgten die Anmeldung im Fitnessstudio und die ersten Laufeinheiten im Frühjahr 2007.
Das Feuer bei Wüst, gebürtiger Zollstocker und ewiger Südstädter, war entfacht: „Schnell habe ich die Umfänge erhöht und verkündet, dass ich im Herbst den Halbmarathon in Köln laufen werde. Aber das war nur die halbe Wahrheit. Ich war fest entschlossen, den Marathon zu laufen. In unter vier Stunden. Was mir am 7. Oktober 2007 dann auch gelungen ist.“ Und Startschuss zu einer beeindruckenden Leidenschaft für die Königsdisziplin des Ausdauersports sein sollte. Denn Hans Werner Wüst hat mit dem Laufen seitdem nicht mehr aufgehört, es hat ihn rund um den Globus geführt.
Der vierte Marathon-Start von Hans Werner Wüst in diesem Jahr
Am 2. November geht der heute 75-Jährige zum zwölften Mal in New York an den Start – zu seinem inzwischen 58. Marathon. In diesem Jahr ist es sein vierter, nach Dubai, Los Angeles und Rio de Janeiro. Am Zuckerhut wurde der Kölner Dritter seiner Altersklasse.
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Wir treffen Hans Werner Wüst an einem Freitagmorgen am Sürther Rheinufer in seinem Büro. Im lichtdurchfluteten Obergeschoss mit großer Fensterfront in Richtung Fluss hängen Bilder seiner Marathons, in der Mitte steht ein schwarzer Flügel. „Wichtig ist mir beim Laufen Ernsthaftigkeit und Regelmäßigkeit. Das gilt nicht nur dafür. Ich habe auch erst mit 37 Jahren mit dem Klavierspielen begonnen und spiele heute Walzer und Mazurken von Frédéric Chopin“, sagt Wüst. Er sei ein Spätstarter: Spät geheiratet, spät eine Tochter bekommen, spät mit dem Klavierspielen und mit dem Laufen angefangen. Die finanzielle Freiheit für seine Marathon-Weltreisen hat sich Wüst erarbeitet, der gelernte Bankkaufmann ist Inhaber einer kleinen Bauträgergesellschaft. An den Renteneintritt denkt er nicht.
Am Rheinufer geht es weiter mit einem gemeinsamen Lauf, „aber nur kurz, zur Regeneration“, stellt Wüst klar. Denn tags darauf steht der 10-Kilometer-Herbstlauf in Porz auf dem Programm und am Sonntag der 30-Kilometer-Dreibrückenlauf in Bonn – den Wüst als einziger Teilnehmer der Altersklasse M75 in 3:17 Stunden absolvierte. Es ist die Generalprobe für New York. Das Trainingsprogramm des Seniors ist auf Marathons im ganzen Jahr ausgelegt, eine längere Ruhepause gibt es nicht. Zur Vorbereitung nutzt Wüst am liebsten organisierte Läufe in der Umgebung, inzwischen kennt er mehr oder weniger jeden Volkslauf im Umkreis von 40 Kilometern, „und die kennen mich“. Insgesamt kommt er auf knapp 2500 Lauf-Kilometer jährlich, „nur noch“, wie er sagt. Früher seien es zirka 5000 gewesen.
Anfang 2024 wurde Wüst von einem Achillessehnenriss gestoppt
Doch fordert die hohe Belastung ihren Tribut: Im Januar 2024 wurde Wüst von einem Achillessehnenriss gestoppt, mit einem Knall bei Kilometer zwei eines Zehn-Kilometerlaufs. Andere Senioren hätten es womöglich als Zeichen fürs Aufhören gedeutet, nicht so der Kölner Marathon-Mann. Wüst beendete den Wettkampf sogar, in Schonhaltung, aber laufend. „Anderen passiert es beim Tanzen oder beim Einsteigen ins Auto, bei mir war es wegen einer Überlastung beim Laufen“, so Wüst. Dank guter medizinischer Versorgung, Glück mit der grundsätzlichen Konstitution und eisernem Willen ging es für Wüst nach nur viereinhalb Monaten weiter – Comeback auf der Halbdistanz. Zum Vergleich: Bei Martin Terrier, Fußballprofi von Bayer 04 Leverkusen, dauerte es neun Monate, bis er nach einer vergleichbaren Verletzung wieder ein Spiel absolvierte. Sein Laufstil habe sich verschlechtert, sagt Wüst, die Wade des verletzten Beins sei nun deutlich dünner. Und er sei langsamer geworden. „Bis vor drei, vier Jahren wurde ich von Jahr zu Jahr langsamer. Jetzt werde ich von Monat zu Monat langsamer“, erklärt Wüst. Aus seiner Sicht ist es einer der Gründe, warum ab der Altersklasse 60 deutlich weniger Starter an Läufen teilnehmen. Das Unvermeidliche zu akzeptieren, sei schwer: „Im Schnitt wird die Zielzeit bei einem Marathon ab der Altersklasse 60 alle fünf Jahre etwa 20 Minuten langsamer.“
Forschungen aus Stanford belegen, dass langfristiges Ausdauertraining im Alter mit besserer Mobilität, geringerer Behinderungsrate und einer längeren aktiven Lebenszeit verbunden ist. Zudem wirkt es antidepressiv und stressmindernd. Allerdings wird gerade älteren Menschen vor einem Marathonstart zu kardiovaskulären Untersuchungen geraten, um Risikofaktoren auszuschließen. Gerade ein zu exzessives Training in Verbindung mit zu kurzen Regenerationszeiten kann das Herz schädigen. Im fortgeschrittenen Alter wird ein langsamer Aufbau über viele Monate empfohlen.
Im ruhigen Tempo, der Kilometerschnitt liegt bei über 6:30 Minuten, geht es rheinabwärts in Richtung Fähre Weiß-Zündorf. Ein Ehepaar, vermutlich jünger als Hans Werner Wüst, ist mit Nordic-Walking-Stöcken unterwegs. Bei einigen anderen Joggern ist ein anerkennender Gesichtsausdruck zu beobachten. Im Training läuft Wüst sonst in der Regel solo. „Ich bin gerne allein und nutze die Zeit zum Nachdenken, zum Reflektieren. Aber auch zum Abschalten. Es gibt so viel Schlimmes in der Welt, gerade aktuell. Das einfach mal auszublenden, ist gut für den Geist“, sagt er. „Manchmal bin ich in einem Schwebezustand.“ Marathons läuft Wüst meistens mit Musik, „es ist erwiesen, dass es die Leistung bis zu drei Prozent steigern kann. Für mich ist Musik eine geistige Droge.“ Für 80 Prozent des Laufs höre er rhythmischen Pop. Für die letzten Kilometer bringen ihm dann rasante Stücke aus der klassischen Klaviermusik den nötigen Schub. „Chopins Revolutionsetüde höre ich dann drei-, viermal hintereinander“, sagt der 75-Jährige mit einem leicht wehmütigen Lächeln, „wenn ich jetzt nur daran denke, werde ich emotional.“
Auf den letzten zwei Kilometern beginnt der Kampf, du läufst mit dem Herzen. Es ist meistens eine regelrechte Schlacht
Wüst unterteilt seinen typischen Marathon in drei Phasen. „Auf den ersten 30 Kilometern läufst du wie eine Gazelle. Bei den folgenden zehn Kilometern kommt der Kopf dazu, du spürst, dass die Kräfte deutlich nachlassen. Auf den letzten zwei Kilometern beginnt der Kampf, du läufst mit dem Herzen. Es ist meistens eine regelrechte Schlacht“, berichtet Wüst. „Auf den letzten 195 Metern nach der 42-Kilometer-Marke habe ich meistens Tränen in den Augen. Der Zieleinlauf ist gleichzeitig Erlösung und ein gewaltiges Glücksgefühl.“ Für ihn gebe es kaum etwas Vergleichbares. Seine Bestzeit liegt bei 3:33:49 Stunden, gelaufen im Alter von 58 Jahren in Berlin. Ein Ergebnis, auf das Wüst sichtbar stolz ist.

Hans Werner Wüst beim Zieleinlauf in Los Angeles 2016
Copyright: Hans Werner Wüst
Fast 20 Jahre später erreicht der durchtrainierte Senior natürlich keine vergleichbaren Sphären mehr. Für New York peilt Wüst eine Zielzeit von knapp 4:40 Stunden an. Wenn er über das Event spricht, leuchten seine Augen. „Es gibt nirgendwo so viele begeisterte Zuschauer“, sagt Wüst. „Etwa bei Kilometer 25 kommt man auf die First Avenue, eine extrem lange Straße, es geht fünf, sechs Kilometer geradeaus, sie nimmt kein Ende. Aber rechts und links stehen, fast wie Rosenmontag bei uns, unfassbar viele Menschen, in vier, fünf oder sechs Reihen. Und die Amerikaner sind sehr laut, sie wissen einfach, wie große Events funktionieren.“ Aufgrund seiner knapp 400 Höhenmeter ist der Marathon ein vergleichsweise langsames Rennen. Doch die Zeit spiele nur eine untergeordnete Rolle, so Wüst: „In New York wird jedem Finisher gratuliert, jeder, der das geschafft hat, ist für die Amerikaner ein Held. Da fragt niemand nach der Zeit.“ Ein Ranking seiner Lieblingsstrecken sei schwer zu erstellen, doch sowohl New York als auch Rio würden ganz oben auf der Liste stehen. „Es ist etwas ganz Besonderes, zusammen mit tausenden anderen Läufern über extra für uns gesperrte Straßen wie die Fifth Avenue, Champs-Élysées, Sunset Boulevard, Copacabana oder Unter den Linden zu laufen“, erinnert sich Wüst.
Auf Käsekuchen kann Hans Werner Wüst nicht verzichten
Nach seiner Marathon-Premiere in Köln habe er tagelang Treppen nur rückwärts hinaufsteigen können. Inzwischen geht es bereits zwei Tage nach einem Lauf deutlich besser, selbst wenn die Regenerationszeit mit dem Alter kontinuierlich länger würde. Neben dem regelmäßigen Training auf der Straße oder im Fitnessstudio, Hans Werner Wüst ist begeisterter „Body Pump“-Anhänger, ist die richtige Ernährung elementar für seinen außerordentlich guten körperlichen Zustand. „Gemüse, Salat, Obst, gerne Joghurt. Eher weniger Fisch und Fleisch“, sagt Wüst, doch er verzichte nicht gezwungenermaßen auf etwas, er versuche, „mit Verstand“ zu essen. Kein Nikotin, wenig Alkohol. Nur zum Käsekuchen von Merzenich könne er nicht Nein sagen. Ohne einen starken Willen ist ein derartiger Leistungssport im Senioren-Alter nicht mehr möglich. „Es geht nur mit Organisation und Disziplin. Als Ergebnis gibt es viel Freude – und man stärkt sein Durchhaltevermögen, auch auf anderen Gebieten“, so Wüst. Manchmal müsse er sich zum Training zwingen, am Ende sei die Zufriedenheit dafür noch größer.
Am Rheinufer geht es nach einem kurzen Stopp an der Weißer Fähre zurück in Richtung Sürth. Hans Werner Wüst gesteht, dass seine Frau und seine Tochter nicht immer begeistert von seiner zeitintensiven Leidenschaft seien – zumal es nicht seine erste ist. Früher hatte er einen Flugschein und war Motorsportler, nahm unter anderem an 24-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring teil. „Man sollte Toleranz von der Familie erhoffen“, sagt Wüst lächelnd, „Anerkennung eher weniger. Der Prophet gilt nichts im eigenen Land.“ Immerhin habe er über die Jahre einige Marathons mit Familienurlauben verbinden können. Die möglichen Reiseziele waren vielfältig: Neben New York, Los Angeles, Dubai und Rio meisterte Wüst die 42,195 Kilometer unter anderem in Paris, London, Chicago, Boston und Shanghai. „In Moskau würde ich gerne laufen, aber die politische Situation macht das leider unmöglich“, so Wüst. Den hiesigen Marathon absolvierte er nur einmal, den Halbmarathon hingegen häufiger. Köln sei für ihn „ohne Einschränkungen“ empfehlenswert für Läufer: „Es gibt tolle Strecken, viele Grünflächen und natürlich den Rhein.“
Auch für 2026 plant Hans Werner Wüst vier Marathon-Starts
Wenn die Gesundheit mitspielt, könne Laufen auch im fortgeschrittenen Alter viel Freude im Alltag bewirken, meint Wüst. „Regelmäßigkeit ist wichtig, das Tempo nicht. Mit Freunden eine gemeinsame Lieblingsstrecke finden oder sich einer Laufgruppe oder einem Verein anschließen“, rät Wüst, „am besten noch für einen Volkslauf anmelden, um ein Ziel vor Augen zu haben. Für mich war es immer so: Eine Idee haben, daraus ein Projekt machen und das Projekt verwirklichen. Das gibt ein temporäres Glückserlebnis.“ Vergessen solle man dabei bitte nicht: „Die Vorbereitung für einen Marathon ist grundsätzlich gesund, der Marathonlauf aber nicht.“
Ein Ende seiner Leidenschaft ist nicht in Sicht, für 2026 plant Wüst erneut mit Starts in Dubai, Los Angeles, Rio und New York. „Ich glaube nicht, dass es einen vorher ausgemachten Abschluss geben wird. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, ist er gekommen.“ Dann werde er die freie Zeit noch mehr mit seiner Familie verbringen.
Bis dahin sagt Wüst klar: „Ich bin jetzt 75 Jahre alt und will weiter Klavierspielen – und Marathon laufen.“ Warum auch nicht? Mick Jagger, inzwischen 82, soll mit den Rolling Stones 2026 auch wieder auf Tournee gehen.



