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Asylbewerber in NRW
Motiviert, integriert, qualifiziert, ausreisepflichtig – „kaum nachvollziehbar “

Lesezeit 8 Minuten
Janefrancis Kalu aus Nigeria im Porträt. Sie trägt ihre schwarzen Haare lang und eine schwarze Lederjacke mit braunem T-Shirt.

Die studierte Soziologin Janefrancis Kalu aus Nigeria könnte eine Ausbildung zur Erzieherin beginnen, erhält aber bis heute keine Arbeitserlaubnis. 

Obwohl die deutsche Wirtschaft Fachkräfte sucht, werden gut ausgebildete Asylbewerber abgeschoben. Die NRW-Wirtschaftsministerin sowie Industrie- und Handelskammer schlagen Alarm.

„Fantasiepapier“ nennt Ali AL-Qoshachee die Bescheinigung der Kreis-Ausländerbehörde Bergisch Gladbach, die ihn bis zum 28. Juli vor einer Abschiebung bewahrt. Seit Februar habe er alle zwei, drei Wochen einen solchen Zettel erhalten. Fantasiepapier, den Begriff verwendet er, „weil die Menschen in der Ausländerbehörde keine Ahnung haben, was das bedeutet, immer nur für ein paar Wochen in Deutschland erwünscht zu sein“. Fast jede Nacht träume er davon, abgeholt zu werden. AL-Qoshachee ist ausreisepflichtig, obwohl er hochqualifiziert ist und mehrere Unternehmen ihn anstellen wollen.

Der Asylantrag des 31-Jährigen ist abgelehnt worden – es sei nicht nachvollziehbar, dass AL-Qoshachee im Irak politisch verfolgt werde, heißt es im Ablehnungsbescheid. Auch die Härtefallkommission NRW sah keinen Grund, ihm einen Aufenthaltsstatus zu geben. Dabei ist Ali AL-Qoshachees Deutsch nach drei Jahren in Deutschland fast perfekt. Er ist Informatiker mit Abschluss, der hier bislang nicht anerkannt wurde, anerkannt wurde aber sein Abitur. Er hatte mehrere Ausbildungs- und Arbeitsangebote, ein Ausbildungsvertrag liegt ihm aktuell vor, er könnte zum 1. August seine Lehre zum Außenhandelskaufmann bei Edeka beginnen . „Ich kann die Stelle aber wahrscheinlich nicht antreten, weil ich bis heute keine Arbeitserlaubnis habe“, sagt er.

Ali AL-Qoshachee blickt für ein Porträtfoto in die Kamera

Integriert und ausreisepflichtig: Ali AL-Qoshachee aus dem Irak

AL-Qoshachees Abschiebung könnte am 3. August vollstreckt werden. Für diesen Tag sei eine Sammel-Rückführung in den Irak geplant, sagt er. Müsste er zurück in sein Geburtsland, wäre er einer von vielen Menschen mit abgelehntem Asylbescheid, die Deutschland sehr gut gebrauchen könnte.

Agentur für Arbeit: 400.000 ausländische Fachkräfte pro Jahr benötigt

In zehn Jahren ehrenamtlicher Arbeit für Geflüchtete habe sie noch nicht erlebt, dass „ein Mensch mit diesen Fähigkeiten und diesem Willen zur Integration abgeschoben werden soll“, sagt Stephanie Linke, Ehrenamtlerin vom Flüchtlingshilfe-Verein Mosaik in Köln-Mülheim. Sie habe den Eindruck, dass „Integration mit der Ankündigung der Bundesregierung, strikter abzuschieben, komplett ausgetrocknet werden soll“.

Abgesehen davon, dass das menschenverachtend sei und dem Grundgesetz widerspreche, „bin ich mir sicher, dass wir uns in zehn Jahren fragen werden, was wir da gemacht haben, Menschen, die etwas können und arbeiten wollen, nicht arbeiten zu lassen – sondern einfach abzuschieben“.

Denn der Mangel an geeignetem Personal ist und bleibt eines der Hauptprobleme der Unternehmen in Deutschland. Laut einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sind davon derzeit 84 Prozent der Betriebe betroffen. In NRW werden bis 2035 rund 2,5 Millionen Erwerbstätige in Rente gehen. Bereits heute fehlen vielerorts qualifizierte Arbeitskräfte.

Tausende Pflegekräfte warten auf Anerkennung

Die Zahl der unbesetzten Stellen wird laut IHK-Monitor von aktuell rund 290.000 auf voraussichtlich bis zu 610.000 steigen. Sollte es nicht gelingen, die Engpässe deutlich zu verringern, könnten der nordrhein-westfälische Wirtschaft bis 2035 eine Wertschöpfung in Höhe von rund 40 Milliarden Euro entgehen. Die Bundesagentur für Arbeit schätzt deshalb, dass Deutschland für das kommende Jahrzehnt 400.000 Arbeitskräfte aus dem Ausland pro Jahr benötigt, um seinen Fachkräftebedarf zu decken.

„Eine wichtige Frage für die Sicherung unseres Wohlstands in der Zukunft lautet: Wird es uns gelingen, eine Grundhaltung der Gesellschaft zu erzeugen, die Migration für notwendig und positiv hält?”, sagt Johannes Klapper, Geschäftsführer der Agentur für Arbeit Köln. Branchen wie das Gastgewerbe, viele Handwerksberufe, der Reinigungssektor, Logistik und Transport „wären ohne Geflüchtete und andere Beschäftigte mit Migrationshintergrund längst zusammengebrochen”, so Klapper.

Johannes Klapper, Leiter der Kölner Agentur für Arbeit

Johannes Klapper, Leiter der Kölner Agentur für Arbeit

Allen Personalengpässen zum Trotz warten auch in der Pflege Tausende gut ausgebildete Pflegekräfte aus dem Ausland monatelang auf ihre Anerkennung in Deutschland. „Die Verfahren ziehen sich im Durchschnitt 500 Tage lang hin, während Pflegebedürftige und ihre Familien verzweifelt Unterstützung suchen“, sagt Bernd Meurer, Präsident des Bundesverbands privater Anbieter sozialer Dienste. Derzeit würden rund 11.000 Fachkräfte durch „Regelungswut und Misstrauen“ in den Behörden blockiert. Johannes Klapper von der Agentur für Arbeit spricht von einem „Anerkennungsdschungel“, in dessen Dickicht viele qualifizierte Menschen verloren gingen.

Lueva, Auszubildende, ist nur geduldet

Lueva, 24 Jahre alt, vor fünf Jahren aus Angola nach Deutschland gekommen, weil sie dort um ihr Leben fürchten musste, ist einer dieser Menschen. Während der ersten zwei Jahre, die sie auf die Entscheidung ihres Asylantrags wartete, durfte die junge Frau weder arbeiten noch einen Sprachkurs besuchen. Sie lernte auf eigene Faust deutsch und übernahm für 80 Cent die Stunde kleinere Hilfstätigkeiten in der Erstaufnahmeeinrichtung.

Lueva aus Angola will anonym bleiben. Die hochmotivierte 24-Jährige möchte in Deutschland bleiben, um hier zu arbeiten.

Lueva aus Angola will anonym bleiben. Die hochmotivierte 24-Jährige möchte in Deutschland bleiben, um hier zu arbeiten.

„Ich wolle etwas zurückgeben, weil Deutschland mich aufgenommen hat“, sagt sie. Und sie habe nicht „verrückt werden wollen“, weil sie voller Tatendrang sei, „und dann überhaupt nichts tun durfte“. Erst als Lueva im März 2022 nach Köln verlegt wurde, durfte sie an Integrationsangeboten teilnehmen. Weil ihre Schulabschlüsse in Angola und die Ausbildung zur Topografin hier nicht anerkannt werden, besuchte sie auf der Abendschule das 9. Schuljahr.

„Aber das war Zeitverschwendung, weil ich den Unterrichtsstoff auch für die folgenden Jahre teilweise schon kenne“, sagt sie. Am Berufskolleg im Kölner Stadtteil Ehrenfeld lernt sie jetzt den Beruf der Sozialassistentin, hat bereits Praktika in einem Kindergarten, einem Wohnheim für behinderte Menschen, im Krankenhaus und bei einem Pflegedienst absolviert.

Duldung ist oft unüberwindbares Hindernis bei Arbeitssuche

Über ihre Ausbildung hofft Lueva eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. Denn ihr Asylantrag wurde abgelehnt, sie ist in Deutschland nur geduldet. Ein entscheidender Grund dafür: Von ihrem Heimatland wurde noch nicht bestätigt, dass ihr Pass und die Geburtsurkunde authentisch und nicht gefälscht sind. Vor mehr als zwei Jahren hat sie die nötigen Unterlagen bei der angolanischen Botschaft in Berlin eingereicht, aber trotz mehrfacher Nachfragen noch keine Antwort halten.

Es sei „kaum zu verstehen“, dass „leistungsbereite Menschen wie Lueva derart ausgebremst“ werden, sagt Linda Holzhausen. Die Sozialarbeiterin hat die Angolanerin zwischenzeitlich betreut. Die bloße Duldung, mit der die junge Frau sich derzeit in Deutschland aufhält, sei ein „oft unüberwindbares Hindernis“ bei der Arbeitssuche.

Wie soll man ein Jobangebot mit einem Papier bekommen, das maximal sechs Monate gültig ist und auf dem dick ‚ausreisepflichtig‘ steht?
Linda Holzhausen, Sozialarbeiterin

„Wie soll man ein Jobangebot mit einem Papier bekommen, das maximal sechs Monate gültig ist und auf dem dick ‚ausreisepflichtig‘ steht?“, fragt Holzhausen. „Und zu allem Überfluss steht auch noch drauf, dass die Person keine Erlaubnis zur Erwerbstätigkeit hat, es sei denn, die örtliche Ausländerbehörde stimmt einem Antrag auf Arbeitserlaubnis zu.“ Diese Erlaubnis indes wird erst erteilt, wenn ein konkretes Arbeitsangebot vorliegt. „Das ist den meisten Arbeitgebern doch direkt suspekt und zu kompliziert“, glaubt die Sozialarbeiterin. Das habe sie schon mehrfach erlebt. Sogar bei einem hochqualifizierten Ingenieur aus dem Iran mit Studienabschluss und Berufserfahrung, der Asyl beantragt und während seiner Wartezeit fließend Deutsch gelernt habe. 

Neubaur: Integration „endlich als Chance begreifen“

Die nordrhein-westfälische Wirtschaftsministerin Mona Neubaur (Grüne) wünscht sich deshalb, die Integration von Geflüchteten „endlich als Chance zu begreifen“. Es nicht zu tun, sei„ fahrlässig“, was man sich „schlicht nicht mehr leisten“ könne. Fachkräfte – auch aus dem Ausland – seien der „Schlüssel“ für eine starke und zukunftsfähige Wirtschaft und Industrie. „Ohne sie gelingt uns weder die Energiewende noch die digitale und nachhaltige Transformation“, so Neubaur.

NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur (Grüne)

NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur (Grüne)

„Wer hier mit anpacken will, soll auch eine echte Perspektive bekommen.“ Das schließe ein entschlossenes Vorgehen gegen das Problem der irregulären Migration nicht aus. „Aber ich erwarte von der Bundesregierung auch, dass wir ein System aufbauen, das echte Verlässlichkeit bietet und die nötigen Bleibeperspektiven schafft.“

Wolfgang Trefzger Geschäftsführer der nordrhein-westfälischen Industrie- und Handelskammer (IHK), sieht das ähnlich: „Asylbewerber, die während ihrer Duldung durch hohe Motivation aufgefallen sind, eine Ausbildung erfolgreich abgeschlossen haben und nicht straffällig geworden sind, sollten eine realistische und langfristige Bleibeperspektive erhalten“, sagt er. „Es wäre aus wirtschaftlicher Sicht kaum nachvollziehbar, auf bereits im Land lebende, gut integrierte und qualifizierte Menschen zu verzichten – während parallel intensive Bemühungen unternommen werden, Fachkräfte aus dem Ausland zu gewinnen.“  

Es wäre aus wirtschaftlicher Sicht kaum nachvollziehbar, auf bereits im Land lebende, gut integrierte und qualifizierte Menschen zu verzichten
Wolfgang Trefzger Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer NRW

Vielmehr seien „praxisnahe und verlässliche gesetzliche Regelungen” notwendig, die „sowohl den Betrieben als auch den betroffenen Personen eine klare und langfristige Perspektive bieten”, so Trefzger. „Wer in Nordrhein-Westfalen lebt, seine Leistungsfähigkeit durch Ausbildung oder Beschäftigung nachgewiesen hat und rechtlich keine Hinderungsgründe bestehen, sollte auch dauerhaft bleiben dürfen.“

Karu hat eine Ausbildungsstelle, aber keine Arbeitserlaubnis

Janefrancis Kalu aus Nigeria hat einen Universitätsabschluss in Soziologie, der inzwischen anerkannt ist. Sie hatte einen unterschriftsreifen Arbeitsvertrag als Inklusionshelferin in Köln, wurde aber vor dem ersten Arbeitstag gekündigt, weil sie keine Arbeitserlaubnis hatte und der Arbeitgeber nicht auf unbestimmte Zeit darauf warten wollte. Aktuell hat sie einen Ausbildungsangebot einer Kita, um Erzieherin zu werden, kann ihn aber nicht unterschreiben – sie bräuchte dafür ihre Arbeitserlaubnis.

Janefrancis Karu fühlt sich von der Kölner Ausländerbehörde ausgebremst.

Janefrancis Karu fühlt sich von der Kölner Ausländerbehörde ausgebremst.

Die 35-Jährige flüchtete im März 2022 aus Kiew nach Deutschland. In der Ukraine hatte sie ein befristetes Aufenthaltsrecht und flüchtete vor dem Krieg. Vorübergehender Schutz wie Menschen aus der Ukraine wurde ihr als nigerianische Staatsbürgerin nicht gewährt. Die Entscheidung über ein Aufenthaltsrecht sei bei Kalu zunächst zurückgestellt worden, teilt die Stadt Köln auf Anfrage mit. Zunächst habe überprüft werden müssen, ob ihre Bildungsabschlüsse anerkannt werden können oder ihre Sprachkenntnisse ausreichen. Lange habe sie dafür nicht die notwendigen Dokumente eingereicht.

Kalu, die sehr gut Deutsch spricht, sehr gut qualifiziert und höchst motiviert ist, stellt das anders dar. „Ich versuche seit Monaten täglich, die Ausländerbehörde zu erreichen, bekomme aber keine Rückmeldung”, sagt sie. Sie sei frustriert. „Die Leute denken, ich wolle nicht arbeiten, aber das Gegenteil stimmt. Ich möchte unbedingt arbeiten und nicht von Sozialleistungen leben – das ist auch gegen meine Ehre.“

Sie wolle sich in Deutschland eine Zukunft aufbauen und Teil der Gesellschaft werden. „Aber ich bekomme bislang keine Chance dazu.“ Die Stadt Köln teilt mit, der Antrag Kalus befinde sich „in der Prüfung“. Womöglich dauert die Prüfung so lange, dass sie ihre Ausbildung zur Erzieherin, die im August beginnen soll, nicht antreten kann. „Dann“, sagt Kalu, „hätte ich in Deutschland keine Perspektive.“