Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Kommentar

Wahl zum Bundeskanzler
Scheitern im Scheinwerferlicht

Ein Kommentar von
Lesezeit 5 Minuten
Der designierte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU, M) reagiert im Bundestag bei der Kanzlerwahl.

Der designierte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU, M) reagiert im Bundestag bei der Kanzlerwahl. 

Auch wenn Friedrich Merz doch noch zum Kanzler gewählt wurde, werden andere Bilder in Erinnerung bleiben.

Es ist leicht, Friedrich Merz nicht zu mögen – und zwar völlig unabhängig von seinen politischen Positionen und Äußerungen. Der CDU-Politiker ist kein charismatischer Mensch, er schaut meist ein wenig verkniffen, tritt sehr beherrscht und reserviert auf. Ihn umweht stets mindestens ein Hauch Arroganz. Er ist also niemand, dem die Herzen zufliegen, sobald er einen Raum betritt. Merz weiß das sicher – und versucht gegenzusteuern. Aber wenn er lacht, wirkt auch das oft sehr bemüht.

Als die neue Bundestagspräsidentin Julia Klöckner am Dienstagmorgen verkündete, dass Merz bei der Wahl zum Bundeskanzler im ersten Wahlgang gescheitert war, saß dieser an seinem Platz und machte sich Notizen. Er schaute nicht auf, er fokussierte den Zettel vor sich. Es wird nichts Wichtiges gewesen sein, das er notierte, aber sein Ziel war offensichtlich: Er wollte nicht, dass die Kameras sein Gesicht filmten, die Fotografen den Moment festhielten, in dem sein Scheitern bekannt wurde. Danach verließ er umgehend den Saal. Seine Frau Charlotte und die gemeinsamen Kinder saßen derweil mit versteinerten Mienen auf der Besuchertribüne. Auch sie waren darum bemüht, sich bloß keine Regung im Gesicht ablesen zu lassen.

Aber unsere schnelllebige Medienwelt braucht Bilder, die transportieren, was da gerade Historisches passiert war. Und so machten Fotos in den Online-Auftritten der großen Medien genauso wie bei Social Media die Runde, auf denen Merz äußert verkniffen dreinblickte. Ob sie wirklich nach oder nicht doch schon vor der gescheiterten Wahl aufgenommen worden waren, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Es spielt aber letztlich fast keine Rolle. Ihr Aufgabe ist es, die Stimmung des Tages einzufangen. Und das gelingt ihnen.

Man sieht Merz die Anspannung an

Auf einem Foto des DPA-Fotografen Michael Kappeler stützt sich Merz auf der Lehne des blauen Bürostuhls vor ihm ab, als fehle ihm sonst die Kraft, sich aufrecht zu halten. Sein Blick geht ins Leere. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Andrea Lindholz und der designierte Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) wenden sich ihm zu. Lindholz scheint ihn zu stützen. Man sieht Merz die Anspannung, die er sonst so angestrengt zu verbergen versucht, an. Es ist ein Riss in der Fassade, ein Moment, in dem der Mensch Friedrich Merz durchzublitzen scheint.

Jeder, der sich schon einmal zu einer Wahl aufgestellt hat – und sei sie noch so klein und bedeutungslos – kennt die Anspannung vor Bekanntgabe des Ergebnisses. Man will sich eben nicht blamieren, nicht mal bei der Vorstandswahl im Sportverein, wo niemand sonst den Posten will und alle froh sind, dass sich jemand bereiterklärt hat, den Job zu übernehmen.

Wie groß muss aber dann der Druck sein, wenn es darum geht, das wichtigste Amt im Staat neu zu besetzen? Merz wusste, dass es eng werden könnte. Sein Weg von einer Kindheit im Sauerland bis zu dieser Wahl in Berlin war lang und ist überall ausführlich besprochen worden. Die Rückschläge, sein unbedingter Ehrgeiz, alle Hindernisse zu überwinden und doch noch Kanzler zu werden. Und nun wird sein Name auch dafür in die Geschichtsbücher eingehen, dass er der erste Kandidat für das Amt des Bundeskanzlers ist, der nicht im ersten Wahlgang gewählt wurde.

Alice Weidel war bester Laune

Alice Weidel war bester Laune nach Merz' Scheitern im ersten Wahlgang

Zu scheitern ist schmerzhaft. Und der erste Impuls ist es, sich verkriechen zu wollen. Aber in einer solchen Situation, bei dieser Wahl, waren die Augen der Weltöffentlichkeit auf Merz gerichtet. Es war ein Scheitern im Scheinwerferlicht. Auch in früheren Zeiten waren Abstimmungen und Wahlen Medienereignisse, aber wer die Nachrichten verpasste, verpasste die Aufnahmen des Moments, wer keine Zeitung kaufte, sah die Bilder nicht.

Es gibt ein ausdrucksstarkes Schwarz-Weiß-Foto von Helmut Schmidt, das ihn am 1. Oktober 1982 auf der Regierungsbank im Plenarsaal des Bundestags in Bonn zeigt. Schmidt hat die Augen geschlossen und fasst sich mit der rechten Hand an die Stirn, sein Kopf ist leicht gesenkt. Es ist eine Geste großer Erschöpfung. Das Bild entstand am Tag des konstruktiven Misstrauensvotums gegen ihn, das damit endete, dass Helmut Kohl der sechste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland wurde. Es war das erste und bisher einzige Mal, dass ein konstruktives Misstrauensvotum zu Abwahl eines amtierenden Kanzlers führte. Auch Schmidt war am Morgen danach in allen Zeitungen zu sehen, aber ein paar Tage später waren die Fotos aus der Öffentlichkeit verschwunden. Wer die Titelseiten nicht aufgehoben hatte, hatte keine Chance mehr, die Bilder anzuschauen.

Heute verbreiten sich Fotos in Sekunden in den Sozialen Netzwerken, sie werden geteilt, kommentiert und bearbeitet. Ein weiteres Foto wird diesen Tag überdauern. Es zeigt Alice Weidel, Chefin und Fraktionsvorsitzende der AfD. Weidel lacht gelöst, sie wirkt äußerst fröhlich. Auch das ist ein Bild mit Symbolcharakter. Eine Wahl ist nur dann demokratisch, wenn sie die Möglichkeit des Scheiterns beinhaltet. Doch in diesen aufgewühlten Zeiten, in denen jede Schwäche der anderen Parteien von den Rechtsextremen ausgenutzt wird, um die Demokratie zu schwächen, wird plötzlich selbst eine Wahl zum Werkzeug ihrer Gegner.

Auch wenn es im zweiten Wahlgang am Nachmittag für Merz reichte und er den Tag als Bundeskanzler beschloss, sind diese Fotos bis an sein Lebensende nur ein paar Klicks entfernt und werden gerne genutzt werden, um die Bürde, die von Beginn an seine Regierungszeit belastetet, zu verdeutlichen. Das Netz vergisst nicht.