Im Kloster Graefenthal in Goch lebt die religiöse Gemeinschaft „Orde der Transformanten“. Auch noch, nachdem die Polizei den „Propheten“ festnahm.
Razzia und FestnahmeSchatten hinter den Mauern eines malerischen Klosters am Niederrhein

Eingang zum Kloster Graefenthal in Goch.
Copyright: Thilo Schmülgen
Hundert Kilometer nördlich von Köln, fünf Kilometer östlich der Niederlande, verbergen jahrhundertealte Mauern einen Ort, der kaum idyllischer wirken könnte. Das ehemalige Zisterzienserinnen-Kloster Graefenthal liegt umrahmt von fünf kleinen Seen abseits der Stadt Goch in Kleve. Ein breites Torhaus aus Backstein und Schiefer empfängt Besucher, dahinter picken freilaufende Hühner zwischen den denkmalgeschützten Gebäuden nach Körnern. Pfauen in blau und weiß hüten auf den Wiesen ihre Küken.
Graefenthal ist ein Ort, der Geschichte greifbar macht und erzählt. Doch sein jüngstes Kapitel ist ein dunkles.
21. Oktober 2020, vier Uhr morgens. Spezialkräfte der Polizei bereiten vor den Klostermauern von Graefenthal den Zugriff vor. Mitglieder des technischen Hilfswerks stellen Flutlichtmasten auf, die das nächtliche Gelände ausleuchten. Dann strömen Polizisten auf das Klostergelände, treten Türen ein, fixieren Bewohner und suchen die Gebäude nach einer 25-jährigen Frau ab, die gegen ihren Willen festgehalten werden soll. Sie finden sie. Und sie nehmen einen Mann fest: B., 58 Jahre, selbst ernannter Prophet der niederländischen Glaubensgemeinschaft „Orde der Transformanten“, soll die junge Frau seit ihrem 13. Lebensjahr missbraucht haben.
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Kurz darauf, um sieben Uhr, klingelt ein Fernsehreporter Michael Urban aus dem Schlaf. Er ist der Vorsitzende des Fördervereins Kloster Graefenthal. Ob Urban schon ein Statement zu der Razzia abgeben könne, fragt der Reporter. Urban versteht kein Wort. Er weiß nichts von einem Einsatz, nichts von einer festgehaltenen jungen Frau, nichts von einem Propheten. An diesem Morgen erfährt Michael Urban, dass die Bewohner des historischen Klosters Graefenthal einer Sekte angehören sollen, deren Mitglieder schon mehrfach in den Fokus polizeilicher Ermittlungen gerieten. Es ist der Morgen, an dem seine Zukunftsträume für das Kloster zerplatzen.
Sechs Hektar Heimatgeschichte
Wenn er als Kind an Graefenthal vorbeiradelte, sagt der 68-Jährige, blickte er auf ein verschlossenes Torhaus. Das Kloster war für ihn ein weißer Fleck auf der Landkarte, ein Mysterium verborgen hinter dicken Backsteinmauern. Das änderte sich erst Anfang der 2000er Jahre, als der alternde Gutsverwalter Graefenthal der Stadt Goch zum Kauf anbot. Michael Urban war damals Mitglied im Stadtrat, der beschloss: Das Kloster muss für die Öffentlichkeit zugänglich werden.

Michael Urban, Vorsitzender des Fördervereines Kloster Graefenthal.
Copyright: Thilo Schmülgen
Urban machte sich selbst zum Experten für die Anlage, er tauchte tief ein in die Geschichte des Klosters. Heute sprudeln Jahreszahlen und Anekdoten nur so aus ihm heraus. Zu jedem Wappen, jedem Bauwerk, jedem päpstlichen Erlass, der im Kloster gefunden wurde, hat er eine Jahreszahl parat. Es scheint, als habe sich die historische Vergangenheit des Klosters in seinen Kopf eingebrannt wie seine eigene Lebensgeschichte.
1248: Gründung des Klosters durch Graf Otto II. von Geldern.
1260: Der Zisterzienserinnen-Orden zieht ein.
1802: Das Kloster wird unter Napoleon zwangssäkularisiert. Zwei Jahre später geht es als Gutshof in Privatbesitz über.
Die Geschichte des Niederrheins, sagt Urban, wurde wesentlich durch Graefenthal mitgeprägt.
Im Jahr 2004 kaufte ein Investor der Stadt das Kloster ab. Ein Jahr später gründete Michael Urban den Förderverein Graefenthal mit. Er rettete ganze Gebäudeteile vor dem Verfall, restaurierte, stellte das Grabmal für Otto II. wieder her.
Im Juni 2012 vermietete der Investor das Klostergelände an eine Gruppe aus den Niederlanden, die das Anwesen später kaufte. Die Gruppe betrieb fortan eine Eventfirma auf dem Gelände: Hochzeiten, Mittelaltermärkte, Weinfeste. Das Klostercafé wurde wiederbelebt. Die Reality-TV-Show „Bachelorette“ filmte 2020 im Kreuzgang ihr Staffelfinale. „Die Veranstaltungen wurden immer größer, besser und bekannter“, sagt Urban. Nirgends in der Region schien die Organisation reibungsloser, waren die Kellnerinnen freundlicher und die Atmosphäre malerischer.
Ein warmer Morgen im Juli. Die Sonne taucht das Gelände in sanftes Sommerlicht, im Café sonnen sich Tagesausflügler. Michael Urban, weiße Haare, weißer Schnauzbart, führt durch das Kloster und erzählt von den Zisterzienserinnen, die 550 Jahre lang hier lebten, und von seinem Herzensprojekt: Am Wegesrand lehnt sich das Dach der alten Scheune auf dunkelbraune Holzstreben. Das Obergeschoss sollte zum Museum mit einem Schwerpunkt für Kinder und Jugendliche werden, ein Ort, an dem sie mit Spielen, Comics und einem Kletterturm die Geschichte ihrer Heimat entdecken könnten. Das pädagogische Konzept ist längst fertig. Die Eventfirma sollte das Personal für den Einlass stellen, der Förderverein die Ausstellung gestalten. Im Oktober 2020 waren die Verträge fertig. Nur die Unterschriften fehlten.

In diesem Gebäude sollte ursprünglich ein Museum entstehen. Nach der Razzia legte der Förderverein die Pläne auf Eis.
Copyright: Thilo Schmülgen
Heute liegen sie unsigniert in Urbans Schublade. Nach dem Polizeieinsatz legte der Förderverein das Museumsprojekt auf Eis und stoppte alle Baumaßnahmen am Kloster.
Der Prophet und seine Gläubigen
15 Seiten umfasst das Urteil des Landgerichts Kleve vom 30. Dezember 2021. Es zeichnet das Bild einer Gemeinschaft, der die Gratwanderung zwischen innerer Abschottung und offenen Klostertoren gelang. Eine Gemeinschaft, in der strenge Regeln Zusammenhalt schafften und die sich einer Person unterordnete: B.
Dem Urteil zufolge gründete B. im Jahr 2003 zusammen mit Freunden in den Niederlanden die Glaubensgemeinschaft „Orde der Transformanten“. Sie mieteten benachbarte Häuser in einem kleinen Ort in den südlichen Niederlanden und zogen dort ein. Ein Jahr später schlossen sich auch die Eltern von Hannah, die eigentlich anders heißt, der Gruppe an. Der „Orde de Transformanten“ zählt eine mittlere zweistellige Zahl an Mitgliedern.
Die Gruppe verband der Glaube. An Gott, vor allem aber an B. Der Niederländer erklärte sich zum gottgesandten Propheten, gesegnet mit übernatürlichen Fähigkeiten, dem die Mitglieder bedingungslos folgen und den sie vor seinen Feinden schützen müssen. Diese Stellung nutzte er aus. Im Urteil steht: „Der Angeklagte machte weibliche Mitglieder glauben, dass sie ihre Persönlichkeit und ihre individuellen Fähigkeiten durch sexuelle Kontakte mit ihm als Propheten fördern könnten.“ Mindestens zehn Anhängerinnen wurden zu B.s „Frauen“ und „Partnerinnen“, darunter auch Hannahs Mutter. Andere ernannte B. zu „Heilfrauen“, die gegenüber männlichen Ordensmitgliedern sexuelle Dienstleistungen erbrachten.
Das Leben im Orden folgt strengen Regeln. Schweinefleisch, Alkohol und Schokolade sind dem Urteilsschreiben zufolge verboten, Frauen tragen ausschließlich Röcke und Kleider. Alle Mitglieder ab 14 Jahren sollen täglich im „Dictum Dei“ lesen, einer „Heiligen Schrift“, die zum großen Teil B. verfasst hat. Ihr Inhalt gilt größtenteils als geheim. Transformanten sollen ihn offenbar nicht an Außenstehende, die sogenannte „Matrix“, weitergeben. Eine „Matrix“ beschreibt meist eine Scheinwelt, eine Art Simulation, in der die Wahrheit verschleiert wird.
Mit zwölf Jahren zog Hannah in das Haus von B. und seiner Ehefrau. Bei ihren Eltern wohnte sie zu dem Zeitpunkt schon lange nicht mehr. B., damals Mitte 40, und seine Ehefrau übernahmen ihre Erziehung. Sie habe eine „alte Seele“, sagte B. zu Hannah. Dem Mädchen sei eine besondere Rolle an seiner Seite vorbestimmt.
Im Urteil steht: „Zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt zwischen Dezember 2007 und März 2008 erklärte der Angeklagte der zu dieser Zeit 13-jährigen Geschädigten in beeindruckender Weise, dass er eine nächtliche Vision von Gott gehabt habe, wonach es nunmehr Zeit für sie wäre, erwachsen zu werden und sich mit ihm zu verbinden. Dabei betonte er seine große Dankbarkeit, dass er geweint habe, dass es aber letztlich die – möglichst schnell zu treffende – Entscheidung der Geschädigten sei, ob sie das Vorrecht der Entjungferung durch ihn annehmen wollte.“ Es kam zum ersten sexuellen Übergriff auf das Mädchen. B. bezeichnete Hannah als seinen „General“ und „Bodyguard“. Sie müsse neben ihm schlafen, um ihn vor Feinden und nächtlichen Dämonen zu schützen.
Das Urteil beschreibt mindestens 18 weitere Straftaten vor Hannahs 14. Geburtstag, bei einem Übergriff war demnach B.s Ehefrau anwesend. Dort steht auch: B. soll zu einer weiteren Minderjährigen „sexuelle Kontakte“ unterhalten haben. Nach ihrem 18. Geburtstag ließ sich Hannah auf „dringendes Anraten anderer Mitglieder“ den Namen von B. auf ihr Handgelenk tätowieren. Sie war fortan eine von B.s Frauen.
Im Jahr 2012 verließ der Orde der Transformanten die Niederlande. Dort war die Gemeinschaft durch Ermittlungen der niederländischen Polizei in den medialen Fokus geraten.

Blick auf das Klostercafé: Hühner und Pfauen laufen auf dem Gelände frei herum
Copyright: Thilo Schmülgen
Die erste Razzia erlebten die Mitglieder bereits wenige Jahre nach der Gründung des Ordens. Am 2. August 2008 wurde ein niederländischer Geschäftsmann vor seiner Wohnung in Rotterdam niedergeschossen. Noch am Tatort machte der schwer verletzte Mann den Orden für den Angriff verantwortlich. Die Polizei durchsuchte die Gebäude der Gemeinschaft, die Staatsanwaltschaft erhob Anklage gegen zwei Mitglieder. Vier Jahre später endete ein Indizienprozess mit Freisprüchen. Die Tat konnte ihnen nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden.
Niederländischen Medienberichten zufolge wurde ein weiteres Ordensmitglied in einem anderen Prozess wegen versuchten Mordes zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Der junge Mann hatte einen Aussteiger niedergestochen.
„Ich halte den Orden für eine äußerst zerstörerische Sekte“, sagt Sjoukje Drenth Bruintjes. Die niederländische Sekten-Ausstiegsberaterin arbeitete mit circa 20 Menschen, die den Orden verließen oder deren Familienangehörige sich der Gruppe anschlossen. „B. ist in meinen Augen ein Hochstapler und Betrüger. Nach dem, was ich in der Ausstiegsberatung hörte, geht es ihm vor allem um drei Dinge: Macht, Geld und Sex.“
Gruppen wie der Orde der Transformanten isolierten neue Mitglieder von ihrem bisherigen Umfeld. Diese legten sich eine neue Identität zu, die nach dem Willen des Anführers geformt sei. „Sie laufen ähnlich, sprechen ähnlich, kleiden sich ähnlich“, sagt Drenth Bruintjes.
Im Vergleich mit Sekten wie Scientology sei der Orde der Transformanten zahlenmäßig klein. „Aber die Gewalt, die von ihm ausgeht, ist in meinen Augen enorm“, so Drenth Bruintjes. Als sie ins niederländische Fernsehen eingeladen wurde, um über den Orden zu sprechen, habe sie Sicherheitspersonal begleitet.
Als die Gemeinschaft ins Kloster Graefenthal zog, übernahm die gerade erwachsene Hannah das Eventmanagement. Sie wurde das Gesicht des Unternehmens, knüpfte Kontakte zu Hochzeitspaaren, Geschäftsleuten in Goch und Besuchern - und verliebte sich.
Heimliche Liebe
Hannah lernte Tobias, der ebenfalls anders heißt, 2016 bei einer Veranstaltung kennen. Die beiden verstanden sich gut, trafen sich zu Spaziergängen, wurden Freunde, wurden ein Liebespaar.
Am Anfang ihrer Beziehung standen Notlügen. Das Tattoo am Handgelenk habe sie sich für ihren Freund stechen lassen, einen Soldaten in den Niederlanden, er komme nur selten nach Graefenthal, sagte ihm Hannah. Später behauptete sie: Wir haben uns getrennt. Für wen der Name tatsächlich stand, erzählt sie nicht. Zu groß war die Angst, Tobias könne sich von ihr abwenden. Gegenüber B. erfand sie immer öfter Ausreden, um die sexuellen Kontakte zu ihm zu reduzieren.
Im Sommer 2019 sprach ein Freund Tobias an: Auf Graefenthal soll eine Sekte wohnen, sagte er. Tobias glaubte ihm erst nicht. Dann begann er, zu recherchieren.
Bei einem Spaziergang stellte er Hannah zur Rede. Ich weiß, für wen dein Tattoo wirklich steht, sagte er. Hannah erzählte ihm alles. Vom Orden der Transformanten, vom „Propheten“ B., von den sexuellen Übergriffen, seit sie ein Kind war, davon, wie sie sich trotz allem nicht von der Gemeinschaft, von ihrer Familie, ihrem Zuhause und ihrer Arbeit lösen könne.
Das Paar führte seine Beziehung heimlich fort, und in Hannah wuchsen Zweifel. An B. und seinen angeblichen Fähigkeiten als Prophet, an dem Glauben. Sie war nicht die Einzige. Ihr Bruder verließ den Orde der Transformanten und tauchte unter. Auch ihre Mutter spielte mit dem Gedanken zu gehen.
Ein Ordensmitglied, dem Hannah von ihren Zweifeln erzählt hatte, drohte, der Gemeinschaft davon zu berichten. Eingeschüchtert kam Hannah ihm zuvor. Im Sommer 2020 beichtete sie B. ihre Beziehung zu Tobias.
Der Orden nahm Hannah Handy und Laptop weg und isolierte sie. Vor Gericht sagte Hannah später: B. habe gedroht, wenn sie ihr Zimmer verlasse, könne er ihr nicht garantieren, dass sie das überlebe.

Blick über den See auf das Klostergelände
Copyright: Thilo Schmülgen
Tobias empfing einen Brief, angeblich von Hannah geschrieben: Sie habe sich für ein Leben mit B. entschieden und sei in die Schweiz gezogen. Ähnliche Nachrichten bekamen ihre Freunde und Bekannten über Whatsapp: Sie habe Fehler gemacht, habe ihre Werte über Bord geworfen und aus den Augen verloren, was wichtig wäre. Nun wolle sie, Hannah, mit ihrem Mann B. einen neuen Weg einschlagen.
Während der Hochzeit eines Freundes auf Graefenthal sah Tobias zufällig Hannah an einem Fenster stehen. Nach Wochen der Isolation fand Hannah einen Weg, Kontakt zu Tobias aufzubauen. Mithilfe des Handys ihrer älteren Zimmernachbarin loggte sie sich in den E-Mail-Account von Tobias ein, schrieb eine Nachricht, speicherte sie als Entwurf, loggte sich wieder aus. Tobias fand die Nachricht, löschte sie, schrieb einen neuen Entwurf und wartete auf eine neue Nachricht von Hannah. Zudem arrangierte er ein Treffen mit einem Ordensmitglied, bat darum, Hannah sehen zu können. Hannah sei krank und erhole sich in der Schweiz, habe der Mann behauptet.
Im September 2020 erstattete Tobias Anzeige. Ein Richter ordnete die Razzia in Graefenthal an: Verdacht der Freiheitsberaubung, Verdacht der Verstöße gegen die sexuelle Selbstbestimmung, Verdacht der Verstöße gegen das Waffengesetz.
Die Polizisten fanden Hannah in ihrem Zimmer. Ich spiele nur, soll sie ihnen zugeflüstert haben. Dann wehrte sie sich schreiend.
Am Abend fuhr Tobias mit Hannah, ihrer Mutter und ihrem Bruder nach Köln. Tobias hatte eine Fluchtwohnung für die Familie organisiert. Alle verließen die Gemeinschaft. Bald darauf entschied sich Hannah, gegen B. auszusagen.
Tobias, Hannah, ihre Mutter und ihr Bruder kehrten erst ein Jahr später für die Gerichtsverhandlung in den Kreis Kleve zurück. Während des Prozesses wurden sie mit hohem Aufwand von der niederländischen Polizei geschützt und an wechselnden Orten untergebracht.
Am 30. Dezember 2021 verurteilte das Landgericht Kleve B. zu fünf Jahren Haft. Der Niederländer sei in mehreren Fällen des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit dem schweren Missbrauch von Schutzbefohlenen schuldig. Bei der Strafzumessung habe die Kammer zugunsten B.s berücksichtigt, dass er „aufgrund seiner besonderen Stellung in der Gemeinschaft überdurchschnittlich hart durch die Trennung von dieser getroffen ist“. In den übrigen Anklagepunkten – darunter der Freiheitsberaubung – sprach das Gericht ihn frei. Hannahs Zimmertür war nie abgeschlossen. Neben ihrer Angst vor den Ordensmitgliedern soll sie gefürchtet haben, im Fall einer Flucht in die Hölle zu kommen.
B. verbüßt die ersten Jahre seiner Haftstrafe in Deutschland, dann schoben die Behörden ihn in die Niederlande ab und belegten ihn mit einem fünfjährigen Einreiseverbot. Heute lebt er in Freiheit. Ein Teil seiner Haftstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Hannah lebt heute geschützt an einem unbekannten Ort.
Ein lukratives Geschäft
Als der Richter am ersten Prozesstag die Anklage gegen B. verlas, saß Michael Urban auf einem Zuschauerplatz. Dort, im Gerichtssaal, sah er B. zum ersten Mal. Eine seltsame Erscheinung sei er gewesen, dieser Prophet. Kein Mann, dem Urban zugetraut hätte, so viele Anhänger um sich zu scharen. Doch das hatte er. Die Bewohner von Graefenthal hätten B. von den Zuschauerplätzen aus zugejubelt, gewunken, Kusshände geworfen.
Nach dem Prozess initiierte Urban ein Treffen mit Camiel Engelen, der Graefenthal als Eigentümer vertritt. Ich glaube nicht, dass diese Straftaten ohne euer Wissen, ohne eure Billigung geschehen konnten, habe Urban gesagt. Und das verurteile ich.
„Ich habe drei Kinder und drei Enkelkinder“, sagt Urban. „Wenn es um Straftaten gegen Kinder geht, bin ich besonders empfindlich.“ Den Kontakt mit den Graefenthalern reduzierte der Förderverein auf das Nötigste. Er widmet sich heute ausschließlich der Erforschung des Archivs. Sein Herzensprojekt hat Urban aufgegeben.
Die Ordensmitglieder leben weiter auf Graefenthal. Über die Eventfirma ADG Management Group veranstaltet die Gruppe Weihnachtsmärkte, Konzerte, Abibälle; sie öffnet jeden Tag das Klostercafé für Besucher. Und die Besucher kommen.

Pfauen und Hühner laufen auf dem Klostergelände frei herum.
Copyright: Thilo Schmülgen
Auch die Stadt Goch führt weiterhin standesamtliche Trauungen auf Graefenthal durch. Auf Anfrage schreibt sie: Man lege weiterhin Wert darauf, „dass dieses historisch für Goch so bedeutsame Gebäude bei Trauungen und auch Gästeführungen der Öffentlichkeit zugänglich ist.“ Dafür bekomme die ADG jedoch kein Geld von der Stadt Goch, betont ein Sprecher.
Juli 2025. Unter dem Tisch im Außenbereich des Klostercafés pickt ein braunes Huhn unbeirrt Körner, als Camiel Engelen Platz nimmt. Auf der Wiese schreit ein blauer Pfau. Engelen, schwarzes zurückgegeltes Haar, grauer Anzug, Ordensmitglied, ist Geschäftsführer der ADG.
Zuerst zeigt sich Engelen offen. Das Geschäft laufe gut, sagt er. Seit die ADG das Kloster übernahm, habe sie die Zahl der jährlichen Besucher mehr als verzehnfacht. 100.000 Gäste kommen demnach pro Jahr, 2025 ist ein Rekordjahr – mehr Besucher als je zuvor.
Bei anderen Fragen weicht er aus. Was für eine Religionsgemeinschaft ist der Orde der Transformanten, Herr Engelen? „Was ist wirkliche Freiheit?“, fragt Engelen zurück. Über den Prozess gegen B. möchte er nicht sprechen. In vielen Punkten, betont er, sei B. freigesprochen worden. Auf Nachfrage erzählt Engelen, B. habe seit der Haftstrafe seine offizielle Position als Prophet nicht mehr inne. Mitglied des Ordens sei er jedoch weiterhin. Fragen dazu, was sich seit der Verurteilung in der Gemeinschaft änderte und wie der Orden damit umgeht, will Engelen nicht beantworten. Auf die Gerichtsverfahren wegen versuchten Mordes in den Niederlanden angesprochen, blockt er ab. Wieder die alte Sache? Nein, danke. Er habe nichts davon, darüber zu reden.
Auf ihrer Webseite bewirbt die ADG die Idylle von Graefenthal. Drohnenvideos zeigen das sommerliche Gelände, in Kursivschrift liest man von der historischen Bedeutung des Ortes. Für das Team, das im Kloster wohne und arbeite, sei Graefenthal ein „Geschenk des Himmels“, schreibt die ADG in der Rubrik „Unter uns“. Die Bewohner würden nach dem Prinzip „Ora et Labora“ leben, „mit Gott als Dreh- und Angelpunkt in ihrem Leben“.
Den Orde der Transformanten erwähnt sie nicht; dafür steht dort zu lesen: „Was im Kloster Graefenthal geschieht, schreibt Geschichte, wie die Erfahrung zeigt.“

