Im Fall eines Angriffs von Russland auf die NATO wäre NRW die zentrale Drehscheibe für die Truppentransporte der Verbündeten. Was bedeutet das?
Zeitenwende in NRW„Wir werden uns wieder an Kampfjets im Tiefflug gewöhnen müssen“

Ein Kampfflugzeug der Luftwaffe vom Typ Eurofighter startet beim Tag der Bundeswehr am Fliegerhorst Holzdorf.
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Das Örtchen Glimbach, das zur Stadt Linnich im Kreis Düren gehört, hat rund 420 Einwohner. Eine Bushaltestelle und ein Briefkasten markieren die Ortsmitte. Auf den ersten Blick ein etwas trister und unspektakulärer Ort. Wäre da nicht diese etwas zu breite Linksabbiegerspur hinter dem Ortsausgang. Von dort gelangt man auf eine Straße, die bergauf führt, bis die Fahrt nach wenigen hundert Metern vor einer streng gesicherten Toreinfahrt endet. „Militärischer Sicherheitsbereich, Vorsicht Schusswaffengebrauch“, steht an dem Metallzaun. Willkommen in „Castle Gate“ – der unterirdischen Bunkeranlage der Nato im Westen von NRW. Von Glimbach aus würde bei einem russischen Angriff der Einsatz der Nato-Truppen koordiniert.
Der unterirdische Komplex wurde 1992 fertiggestellt und war zuvor über Jahre hinweg Schauplatz von Protesten der Friedensbewegung. Daher ist der Standort von „Castle Gate“ öffentlich bekannt – und es kommt keinem Geheimnisverrat gleich, über die Existenz des Bunkers zu berichten. Die Anlage umfasst 14.000 Quadratmeter und ist sechs Etagen tief. Mehr als 1000 Soldaten wären dort gegen biologische, chemische und atomare Waffen geschützt.
NRW ist ein unverzichtbares Transitland für die Verbündeten
„Bis zu dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hat wohl niemand geglaubt, dass wir eine solche Anlage noch benötigen würden“, sagt NRW-Verkehrsminister Oliver Krischer im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. In seiner Jugend hatte der Grünen-Politiker aus Düren in Glimbach noch gegen den Bunkerbau demonstriert.
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Lange her. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war die Frage nach der ständigen Einsatzbereitschaft der Streitkräfte als Kernaufgabe der Landesverteidigung fast zwei Jahrzehnte im politischen Raum nahezu irrelevant. Mit der Zeitenwende haben nicht nur viele Grüne ihre Position in der Sicherheitspolitik neu überdenken müssen.
Krischer ist unter anderem für die Infrastruktur in NRW zuständig. Der kommt im Nato-Verteidigungsfall eine wichtige Bedeutung zu. NRW ist ein unverzichtbares Transitland für die Verbündeten, verbindet die großen Seehäfen Amsterdam und Antwerpen mit der Ostflanke der Nato. Alles, was dort anlandet, muss NRW passieren. Deutschland ist kein Frontstaat, aber die strategische Drehscheibe für die Nato-Planungen. „Das muss angesichts der neuen Lage beim Bau von Straßen, Schienen, Rastplätzen mitgedacht werden“, heißt es bei der Landesregierung. Es gelte, Vorsorge zu treffen für das, was lange undenkbar gewesen sei.

Brigadegeneral Hans-Dieter Müller, Kommandeur Landeskommando NRW
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Drei Jahre nach Beginn des Angriffs auf die Ukraine haben viele Menschen auch in NRW immer noch ein großes Störgefühl dabei, sich mit der Wiederherstellung der Verteidigungsfähigkeit anzufreunden. Hinter den Kulissen läuft die Entwicklung des „Operationsplan Deutschland“ aber auf Hochtouren. Bundeswehr, Bund, Länder, Kommunen, Blaulichtorganisationen und Wirtschaftsvertreter überlegen gemeinsam, was geschehen müsste, wenn Deutschland sich gegen einen Angriff zu verteidigen hätte. Die konkreten Pläne sind streng geheim. Klar ist jedoch: Die Ausgangslage ist denkbar schlecht. Ob ein „Kaltstart“ zum jetzigen Zeitpunkt auch nur ansatzweise funktionieren würde, ist ungewiss. Aus vielfältigen Gründen.
Wer verteidigt NRW im Ernstfall?
Vielleicht der wichtigste: Die Bundeswehr ist marginalisiert, auch in NRW. An Rhein und Ruhr wurde nach dem Ende des Kalten Kriegs Einheit um Einheit geschlossen, die Kasernen wurden verkauft oder dem Verfall überlassen. Mit dem Panzerbataillon 203 in Augustdorf ist gerade noch eine einzige Kampfeinheit in NRW verblieben. Der Verband verfügt allerdings über 44 Kampfpanzer vom Typ „Leopard II“, 14 wurden an die Ukraine abgegeben. Zudem verfügt die Einheit über 22 Schützenpanzer vom Typ „Puma“ (Stückpreis 17 Millionen Euro) dessen hochgezüchtete Elektronik aber als anfällig für Pannen gilt.
Aktuellen Nato-Plänen zufolge soll das Panzerbataillon 203 im Ernstfall nach Litauen verlegt werden. Für die Verteidigung von NRW wäre am Ende das „Heimatschutzregiment 2“ zuständig – ein Verband von schwach bewaffneten Reservisten, der sich noch im Aufbau befindet. Rund 6000 Soldaten sollen sich landesweit um den Schutz der kritischen Infrastruktur kümmern. Das dürfte bei weitem nicht ausreichen.

Nathanael Liminski (CDU), Chef der Staatskanzlei NRW, beim Besuch der polnischen Rüstungsfirma ZMBL in Gliwice im vergangenen Jahr
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Auch in NRW wird die Bundeswehr ohne die Einführung einer wie auch immer ausgestalteten Wehrpflicht wohl kaum verteidigungsfähig werden. „Die Bedrohungslage ist real – wir müssen jetzt Vorsorge treffen“, sagt Hans-Dieter Müller, Brigadegeneral und Kommandeur des Landeskommandos NRW. Dabei ist das Land NRW ein wichtiger Partner für die Bundeswehr. Denn: Für den Bau von Kasernen ist nicht der Bund, sondern die Bauverwaltung der Länder zuständig.
Landesregierung will Kasernen modernisieren und Personal aufstocken
In der schwarz-grünen NRW-Regierung koordiniert der Chef der Staatskanzlei, Nathanael Liminski, die Aktivitäten, die das Land wieder resilienter machen sollen. „Um Tempo zu machen, haben wir in NRW die Taskforce Bundesbau gegründet. Wir erwarten, den Bauumsatz für die Bundeswehr um 300 Prozent zu steigern“, sagt der CDU-Politiker dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. 2027 sollen 326 Millionen Euro ausgegeben werden, 2000 Projekte sind beauftragt worden.
Im Rheinland rücken unter anderem beim Zentrum für Cyber Operations (ZCO) in Rheinbach, beim Militärischen Abschirmdienst in Köln, am Nato-Flugplatz Geilenkirchen und an der Luftwaffenkaserne in Wahn die Baumaschinen an. An den Bundeswehrstandorten in Aachen und Eschweiler werden vier Kasernen saniert. „Wir haben das Personal im Bereich Bundesbau seit 2022 um 30 Prozent aufgestockt“, sagt Liminski. In den kommenden Jahren sollen weitere Stellen geschaffen werden.
Auch bei der Bereitstellung guter Rahmenbedingungen für die Ansiedlung der Rüstungsindustrie in NRW kann das Land die Bundeswehr unterstützen. Rheinmetall errichtet in Weeze am Niederrhein eine Fabrik zum Bau von Mittelrümpfen für das Kampfflugzeug F-35A. „Diese Fabrik ist für NRW ein entscheidender Schritt in der Entwicklung einer hochmodernen militärischen Luft- und Raumfahrtindustrie“, so Liminski.

Zufahrt zur Nato-Bunkeranlage „Castle Gate“ im Kreis Düren.
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Rheinmetall mit Sitz in Düsseldorf konnte dank des Rüstungsbooms den Gewinn nach Steuern im ersten Quartal 2025 auf 108 Millionen verdoppeln. Aber das Land sieht auch Chancen für mittelständische Unternehmen. NRW habe den „Runden Tisch Defence“ zusammengerufen, um über neue Möglichkeiten zu diskutieren. Da viele Zulieferer unter der Krise der Autoindustrie leiden, könnte die Zusammenarbeit mit der Bundeswehr zum neuen Geschäftsmodell werden, heißt es.
„Für viele ist der Schritt vom Zulieferer zum Rüstungsproduzenten kein kleiner“, sagt der Chef der Staatskanzlei. Umso wichtiger sei die politische Botschaft: „Wir wollen diese Industrie – wir brauchen sie.“ Das gelte auch für die Munitionsherstellung. Dank Nordkorea könne Russland dauerhaft rund 10.000 Schuss Munition pro Tag verfeuern. „Die gesamte Jahresproduktion Deutschlands wäre bei dieser Rate in 70 Tagen aufgebraucht.“
Bevölkerung soll eigene Keller statt Großbunker nutzen
Für den Schutz der Landesregierung war in den 1960er Jahren ein sogenannter „Ausweichsitz“ in einem Bunker in der Eifel errichtet worden, in dem hundert Menschen 30 Tage lang einen Atomkrieg hätten überleben können. Die Anlage ist mittlerweile eine Dokumentationsstätte und nicht mehr nutzbar. Derzeit würden die Minister in einem Krisenstab tagen, der auf dem Gelände des Instituts der Feuerwehr in Münster angesiedelt ist.
Eine Neuauflage des Baus von Großbunkern für die Zivilbevölkerung ist derzeit offenbar nicht geplant. Angesichts der kurzen Vorwarnzeiten bei einem Angriff mit Marschflugkörpern sei der Schutz in eigenen Kellern und eine ausreichende Bevorratung für den Notfall sinnvoller, hieß es im NRW-Innenministerium. Auf die Hilfe von Polizei, Feuerwehr und Katastrophenschutz sei bei Stromausfällen Verlass. „Wir haben genügend Treibstofftanks über das Land verteilt, um schnell reagieren zu können“, sagte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU).
Ob das reicht? Was eine dauerhafte Resilienz gegen die neue militärische Situation angeht, sind noch viele Fragen offen. „Viele Leute setzen darauf, dass mit einem Ende des Krieges in der Ukraine die Bedrohung vorbei ist. Sich darauf zu verlassen, dass Putin seine Expansionspläne begräbt, wäre allerdings unverantwortlich“, warnt Liminski. Alle Sicherheitsexperten gingen davon aus, dass Putin die Nato noch in diesem Jahrzehnt „testen“ werde. „Wir müssen uns auf einen Konflikt vorbereiten, damit wir ihn verhindern können.“
Nur, wenn die Abschreckung wieder wirksam sei, können eine Eskalation und ein russischer Angriff auf Nato-Territorium verhindert werden, heißt es in der Düsseldorfer Regierungszentrale. „Wir forcieren in NRW ein neues Mindset, was die Fähigkeit zur Landesverteidigung angeht“, so Liminski. Auch die Bundeswehr werde künftig wieder mehr üben und präsenter sein: „In meiner Kindheit war es noch normal, dass Kampfjets im Tiefflug über die Häuser donnerten und Truppenverlegungen geübt wurden. Wir werden uns auch daran wohl oder übel wieder gewöhnen müssen.“
Zivilschutz und Verletztenversorgung
Hilfsorganisationen wie der Arbeiter Samariter Bund (ASB) haben in den vergangenen fünf Jahren knapp 500.000 Menschen zu „Ersthelfern mit Selbstschutz“ ausgebildet. Die Bundesregierung unterstützte die Seminare laut ASB bislang mit 18 Millionen Euro. Um Deutschland resilient zu machen, müsste die Zahl auf etwa acht Millionen wachsen. Gemeinsam mit dem Bundesinnenministerium, Behörden und anderen Hilfsorganisationen stellt der ASB ein mobiles Versorgungszentrum mit Zelten, Betten und mobilen Küchen bereit, in dem im Krisenfall 5000 Menschen untergebracht werden können.
Die Kliniken der Stadt Köln sowie die Uniklinik planen ebenfalls für den Krisenfall. In Merheim beispielsweise soll im neuen Gebäudekomplex auch eine zweistöckige Tiefgarage entstehen, aus der bei einem Massenanfall an Verletzten kurzfristig eine Pop-up-Intensivstation werden kann.
So profitiert die Wirtschaft der Region von der Zeitenwende
Nicht nur der Rüstungskonzern Rheinmetall schreibt immer neue Rekordzahlen, auch der Kölner Motorenbauer Deutz erweitert sein Geschäft. Der Konzern will sich breiter aufstellen und ins Rüstungsgeschäft einsteigen. „Zuletzt haben wir einen langjährigen Vertriebs- und Servicepartner in Polen übernommen, mit dem wir jetzt erste Militärfahrzeuge mit Deutz-Motoren beliefern“, sagte Vorstandsvorsitzender Sebastian Schulte im Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Zeitenwende heißt auch, dass es die notwendige Ausrüstung braucht. Hier können wir mit unserem Motorensortiment einen Beitrag leisten.“ Mittelfristig will Deutz unter anderem Motoren für radgetriebene Panzer, Mannschaftstransporter und Versorgungsfahrzeuge liefern. Außerdem könnte es Batteriespeicher für die stationäre Versorgung von Lazaretten anbieten.
Köln ist seit jeher ein wichtiger Bundeswehr-Standort, mit Nähe zu Rheinmetall in Düsseldorf und dem Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr in Koblenz. Die Bundeswehr will nun ein neues Bodenkampfsystem für Deutschland und Frankreich in Köln-Mülheim entwickeln. Das Kölner Unternehmen, die MGCS Project Company GmbH, ist ein europäisches Joint-Venture des Waffenherstellers KNDS, Rheinmetall und des französischen Konzerns Thales. 50 Experten sollen das neue Panzer-System entwickeln.