Die Pflege von dementen Menschen ist ein Balanceakt. Wie viel Freiheit verträgt die Sicherheit? Olaf Rosendahl von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft umreißt die Herausforderung.
Alzheimer„Auch Erkrankte haben ein Recht auf Sturz“

In Pflegeheimen ist der Umgang mit Demenzerkrankten ein Drahtseilakt: Wie viel autonome Entscheidungsfreiheit kann man den Betroffenen gewähren?
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Herr Rosendahl, es gibt Alzheimerpatienten, die weglaufen wollen. Wie versucht man das in Heimen zu unterbinden?
Unterschiedlich. Manche haben einen Alarm an der Türe. Wenn der läutet, geht ein Pfleger hin und versucht, den Senior abzufangen. Im Idealfall bietet er einen gemeinsamen Spaziergang an oder lädt ihn zum Kaffee ein. In der Realität heißt es leider oft nur Nein! Sie dürfen nicht raus!
Und wenn der Mensch dieses Nein ignoriert?
Viele Heime arbeiten leider mit Psychopharmaka. Solche Patienten werden dann mit Neuroleptika ruhiggestellt. Die schlafen dann viel und spazieren wenig – schon gar keine weiten Strecken. Einige arbeiten mit Pin-Codes, die zwar neben der Tür hinterlegt sind, diesen Zusammenhang verstehen aber viele an Demenz erkrankte Personen nicht mehr und verlassen das Zimmer folglich nicht. Dann gibt es noch geschlossene Abteilungen. Dort sind die Türen dann tatsächlich verriegelt, die Fenster können nur gekippt werden. Um einen Patienten hier unterzubringen, müssen aber hohe Hürden überwunden werden. Es handelt sich schließlich um Freiheitsentzug.
Was wäre für einen Richter ein Grund?
Selbst- und Fremdgefährdung sicherlich. Allerdings kann man von beidem zunächst nicht ausgehen. Niemand kann vorab sagen, ob jemand dazu neigt, sich bei zweistelligen Minusgraden in der Nacht nach Danzig aufzumachen. Niemand kann eingesperrt werden, weil der Angehörige fürchtet, dass dann jemand angegriffen wird. Das lässt sich immer erst beim zweiten Mal argumentieren. Wenn also schon einmal eine Gefährdung vorgefallen ist.
Dann ist es möglicherweise schon zu spät.
Vielleicht. Das ist natürlich ein Drahtseilakt. Ein Betreuungsrichter sagte mal etwas sarkastisch zu mir, man könne sich entscheiden, ob man Angehörige oder Heime wegen fahrlässiger Körperverletzung oder Freiheitsberaubung drankriegt. Aber die Freiheit ist eben ein hohes Gut. Und jeder hat auch das Recht, sich in Gefahr zu bringen. Wenn Sie zum Beispiel beim Autofahren auf Ihr Handy gucken, dann werden Sie hinterher vielleicht bestraft. Aber man nimmt Ihnen nicht vorher das Auto oder das Handy weg, weil man dieses Risiko fürchtet.
Aber kognitiv eingeschränkte Personen können die Folgen ihres Handelns vielleicht nicht mehr einschätzen.
Das stimmt. Aber denken Sie mal an Kinder. Die überblicken vielleicht auch nicht alle Zusammenhänge und Gefahren. Und dennoch müssen wir es aushalten, wenn sie zum Beispiel als Grundschüler allein mit dem Fahrrad zur Schule fahren. Wenn wir vor allem behütet werden, können wir kein Mensch mehr sein. Es gibt also auch für Erkrankte ein Recht auf Sturz – auf das Risiko, das zum Leben gehört. Gleichzeitig besteht die ethische und fachliche Verpflichtung, Schutz und Sicherheit zu gewährleisten, ohne in die Freiheit des Einzelnen einzugreifen. In der Umsetzung erfordert das oft schwierige Entscheidungen und ein sensibles Abwägen.
Es gibt nun Heime, die beispielsweise mit „therapeutischem Gammeln“ werben, also die Autonomie der Bewohner sehr hoch hängen. Ist das eine gute Entwicklung?
Nun, einerseits ist das in einer idealen Welt eine gute Entwicklung. Und die Haltung der Pflegekräfte, die dahinter steht, ist auch begrüßenswert. Besonders dann, wenn all das als sogenannte „Careing Community“, also als Sorgende Gemeinschaft funktioniert. Also zum Beispiel in einem therapeutischen Wohnprojekt, in dem man sich gegenseitig unterstützt und hilft. Wenn dann ein Bewohner eine Lauftendenz hat, geht eben ein Betreuer mit ihm spazieren. Es gibt tolle Beispiele, wo dieses Konzept gut umgesetzt wird. Es kommt aber leider auch vor, dass Heime zu wenig Personal haben und dieses Label nutzen, um sich einfach weniger um die Leute zu kümmern. Als Beispiel: Wenn ein Gepflegter eine Schluckstörung hat und deshalb beim Essen zögerlich ist, dann kann der Pfleger ankreuzen, dass seine Pflege abgelehnt wurde. Gemäß dem Grundsatz, dass jeder autonom entscheiden kann, wird er dann gegebenenfalls nicht weiter gefüttert. Am Ende wäre das dann aber natürlich eher mangelnde Fürsorge.
Einige Alzheimer-Patienten neigen dazu, in alten Zeiten zu leben und beispielsweise nicht anzuerkennen, dass ihre Eltern oder Geschwister schon tot sind. Ist es ethisch vertretbar, sie in diesem Glauben zu lassen?
Der Grundsatz ist, Patienten nicht zu belügen. Dennoch kann es klug und ethisch richtig sein, nicht auf der Wahrheit zu beharren. Wenn ich immer wieder sage: Deine Schwester ist doch schon lange tot, die betroffene Patientin aber sicher ist, sie erst zuletzt gesehen zu haben, dann kann das Irritationen, Angst und sogar Wahnvorstellungen auslösen. Das sollte man also unterlassen. Aber manchmal kann man sich aufeinander zubewegen. Zum Beispiel, indem man Fragen stellt: Deine Schwester, lebt die denn noch? Und mitunter ist die Antwort dann auch: Ach ne, die wäre ja schon 105, ich glaube, die ist schon gestorben.
Olaf Rosendahl ist Geragoge und Sozialbetriebswirt. Er arbeitet als psychosozialer Berater des Alzheimer-Telefons und Projektmitarbeiter der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V., Berlin. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft hat auch Empfehlungen zum Umgang mit Gefährdung bei Demenz erarbeitet.

