Die Pflege von dementiell veränderten Menschen ist oft ein Balanceakt. Wie viel Autonomie hilft der Gesundheit, ab wann schützt nur noch Freiheitsentzug? In Süssendell bei Stolberg können die Bewohner machen was sie wollen. Auch weglaufen.
Pflege bei DemenzWer nach Süssendell kommt, darf auch wieder gehen

Peter Starke ist 85 Jahre alt und wohnt im Demenzdorf in Süssendell bei Stolberg. Manchmal läuft er mit dem Esel Bruno und den anderen Bewohnern durch den nahen Wald. „Herr Starke geht immer vorneweg“, sagt Alltagshelferin Manuela Aderhold.
Copyright: Thilo Schmülgen
Wenn Peter Starke sich erinnert, dann sieht er ein bisschen so aus, als würde er die Kiste mit den Weihnachtskugeln vom Dachboden holen. Er packt dann jede Kugel vorsichtig aus dem Packpapier aus und freut sich, wenn die Schönen, aber Zerbrechlichen nicht kaputtgegangen sind. Peter Starke freut sich darüber allerdings nicht nur einmal im Jahr. Sondern eigentlich jede dritte Minute. „Ich bin Jahrgang 1940“, sagt er. „In Dresden geboren. Ich habe Kfz-Schlosser gelernt. Ich habe meine Frau in Braunlage kennengelernt. Sie hat da im Tabak- und Süßwarengroßhandel gearbeitet. Ich habe Kinder, zwei Mädchen. 1958 habe ich den Führerschein gemacht. Mein erstes Auto war ein Ford Taunus.“ Starke sitzt auf einer verwitterten Holzbank, der Boden um ihn herum gluckert matschig, wenn man einen Schritt tut, Esel Bruno reibt seine braunen Ohren an Starkes Schulter. „Ich bin Jahrgang 1940. Ich habe Kfz-Schlosser gelernt.“ Starke hebt seinen Blick, bis seine wasserblauen Augen unter der Prinz-Heinrich-Mütze den wolkenverhangenen Herbsthimmel widerspiegeln. Er lächelt.
Der flüchtige Beobachter könnte nun denken, Peter Starke verbringe seinen Lebensabend in der Freiheit der Natur auf dem Bauernhof. Das stimmt aber nicht. Oder zumindest nicht ganz. Denn Peter Starke ist Bewohner des Demenzdorfes in Süssendell bei Stolberg. Eigentlich ist es ein Pflegeheim der Awo. Aber neben den 80 zum Großteil dementiell veränderten Männern und Frauen leben hier eine Autostunde von Köln entfernt auch 13 Schafe auf einem knappen Hektar Weide, eine Ziege, zwei Esel, zwei Hühner. Also stimmt Bauernhof auch ein bisschen. Und auch wer von Freiheit redet, hat einen guten Punkt getroffen. Denn Süssendell ist nach Aussage der Betreiber das deutschlandweit einzige Pflegeheim für Menschen mit Demenz, das seine Bewohner nicht am Abhauen hindert. Wer nach Süssendell kommt, darf auch wieder gehen.
Zwei Drittel der Demenzpatienten werden zu Hause gepflegt
In Deutschland leben rund 1,8 Millionen Menschen mit einer Demenz. Jährlich erkranken etwa 400.000 Menschen über 65 neu. Etwa zwei Drittel von ihnen werden im häuslichen Umfeld von Angehörigen gepflegt, zum Teil mit Unterstützung von ambulanten Pflegediensten. Ist das nicht möglich, springen Heime ein. Dort finden sich Pflegende häufig in einem Balance-Akt wieder. Als machten sie vorsichtige Schritte auf einer Holzplanke, die hin und her wackelt. Auf der einen Seite ist da die Unterstützung der Selbstbestimmung der Betroffenen. Mittagessen morgens um vier Uhr. Sich anziehen wie ein Teenager, obwohl man die 80 schon hinter sich hat. Auf der anderen die Gewährleistung ihrer Sicherheit. Denn manchmal schleift die Autonomie das Risiko an der Hand hinter sich her. Wer hingehen darf, wo er will, der kann ja auch verloren gehen. In Süssendell hat man sich dennoch dazu entschieden, sich auf der Planke so weit Richtung Selbstbestimmung zu lehnen, dass man gerade nicht runterfällt.
Alles zum Thema RWE
- Strukturwandel Konferenz in Bergheim über den Nahverkehr der Zukunft
- Nach der ZUE-Absage So ist der Stand der Pläne für die Unterbringung von Geflüchteten in Frechen
- Hohe Nachfrage von Unternehmen Sieben Fragen und Antworten zum „Innovation Park“ in Bergheim
- Prüfung der Ventile Am Kraftwerk Niederaußem in Bergheim kann es laut werden
- Tagebau-Gutachten RWE muss für Wasser aus dem Rhein bezahlen
- Viktoria Köln Kapitän Greger mit deutlicher Kritik nach Pleite in Essen
- Protest Aktivisten demonstrieren gegen weitere Rodung des Kerpener Sündenwäldchens

Matthias Offergeld hat sein Leben lang gearbeitet. Auch in Süssendell ist er jeden Tag mehrere Stunden im Dienst. Er kehrt bei den Eseln.
Copyright: Thilo Schmülgen
Matthias Offergeld winkt ab, wenn man ihm das Gatter öffnen will. Er bückt sich und klettert durch den Zaun. Vor dem Eselverschlag befindet sich sein Arbeitsplatz. Etwa acht Quadratmeter, die Offergeld von Stroh befreit. Täglich mehrere Stunden. Der 86 Jahre alte Mann arbeitet sich sorgfältig von außen hin zum Kern. Wenn die Esel Bruno oder Shana den Weg des Besens behindern, dann pfeift er kurz und die Tiere machen Platz. Er trägt eine rote Baseballkappe mit dem Schirm im Nacken, sein Blick verfolgt jeden Strich der roten Borsten. Wer ihn nach seinen schönen Weihnachtskugel-Erinnerungen fragt, der bekommt diese: Feierabend und die Kollegen betrachten bei einem Bier gemeinsam ihr Werk. „Mit den Jungs draufgucken“, nennt er das. Wenn der letzte Halm im Eimer ist, wird Offergeld mit zufriedenem Blick seinen Besen wegräumen und sich auch heute nach vielen Jahren im Ruhestand eine Minute der Selbstwirksamkeit gönnen. Sauberkeit, von seinen eigenen Händen geschaffen.

Die 13 Schafe mähen den knapp einen Hektar großen Rasen in Süssendell. Auch eine Ziege ist dabei.
Copyright: Thilo Schmülgen
Arbeit und Sport – das waren sein gesamtes Leben lang die Brunnen, aus denen er Zufriedenheit schöpfte. Beim Rennradfahren, als Dreher bei RWE, beim Tennis oder Fußball, später im Ruhestand beim Versorgen seiner Tiere. „Oft ist er um halb acht ins Bett gegangen und um vier Uhr morgens aufgestanden, um zu arbeiten“, sagt seine Tochter Birgit Mock, die heute zu Besuch ist. Warum soll man ihm in seinen letzten Jahren diesen Lebenssaft abdrehen? Mock wird hier am Gatter stehen bleiben und wohlwollend ihrem Vater beim Kehren zusehen. Bis dieser durch den Matsch schlurft, abwinkt, den Rücken beugt und wieder gut gelaunt durch den Zaun zu ihr hinüber klettert. Mittagessenzeit.
Viele Demenzkranke wohnen in geschlossenen Stationen von psychiatrischen Heimen. Dort ist eine freiheitsentziehende Unterbringung nach Gerichtsbeschluss erlaubt, da von einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefährdung ausgegangen werden muss. Verwahrlosung und Aggressivität wären Argumente, aber auch die fehlende Möglichkeit einzuschätzen, dass man möglicherweise sich oder anderen gefährlich werden kann. „Das wollten wir anders haben“, sagt Klas Bauer, der die Einrichtung in Süssendell leitet. „Wenn mich jemand festhält, werde ich doch erst recht aggressiv“, sagt er. Sein Konzept gründet auf der alten Hoffnung: Lass los, wen du liebst, dann kehrt er zu dir zurück.

Untergebracht sind die 80 Bewohnerinnen und Bewohner in fünf kleinen Häusern mit offener Küche.
Copyright: Thilo Schmülgen
Im Sinne des Kalender-Spruchs klappt das nicht in Süssendell, das muss man ehrlich zugeben. „Im Sommer suchen wir hier fast täglich irgendjemanden“, sagt Pflegeleiterin Marlen Chemnitz. Und von selbst fänden überhaupt die wenigsten zurück. „Früher sind wir zum Teil unabgesprochen und kopflos ins Auto gesprungen und losgefahren, um einen Bewohner zu suchen“, sagt Wohnbereichsleiterin Thalia Becker. Aber im Laufe der Jahre habe sich eine Art Urvertrauen eingestellt. Ein bisschen so wie sich das bei Eltern im Idealfall entwickelt, wenn das Kind allein mit dem Rad zur Schule fährt und irgendwann in späteren Jahren erst um fünf Uhr morgens nach Hause kommt. Da kann man auch nicht jahrelang aufs Neue durchdrehen. Die Sorge erstmal aushalten, ist deshalb auch Klas Bauers Devise. Und auf die Mithilfe der Dorfgemeinschaft in Vicht, Mausbach oder Schevenhütte bauen. Denn schließlich gibt es das Pflegeheim mittlerweile seit fast zehn Jahren. Man kennt sich. Und deshalb ruft meist irgendwann ein Bürger an und meldet, dass ein Senior aus Süssendell da am Gartenzaun steht, oder die Polizei bringt die Spaziergänger zurück.

Klas Bauer leitet das Pflegeheim in Süssendell: „Die Alternative zu unserem Konzept ist eine geschlossene Abteilung. Das missfällt auch vielen. Hier dürfen die Bewohner erstmal machen, was sie wollen.“
Copyright: Thilo Schmülgen
Manchmal machen die Bewohner aber durchaus Strecke. Wie damals, als das Ordnungsamt einen älteren Herrn nach Eschweiler zum Busbahnhof brachte, weil dieser den Wunsch äußerte nach Aachen zur Tochter reisen zu wollen. Ein anderer landete per Anhalter in Hürtgenwald.
Fünf der achtzig Bewohner tragen heute in Absprache mit den Angehörigen einen Tracker. Matthias Offergeld, der Mann am Besen, der durch Zäune klettert, gehört dazu. „Mein Vater lief ja fott“, sagt Birgit Mock. Da war der Tracker ihr Anker. Wenn sie draufguckte, ortete der ihn manchmal lediglich auf der Schafweide. Manchmal aber auch in Vicht, das immerhin gut zwei Kilometer Fußweg entfernt liegt. Als sie ihn dort aufsammelte, stand er an der Straßenecke und war erfreut: „Da bin ich jetzt aber froh, dass du kommst. Kannst du mich mitnehmen? Ich glaube, ich schaffe es nicht mehr nach Hause.“ Die 62 Jahre alte Frau hat sich eigener Aussage zu Folge schwergetan, ihren Vater überhaupt ins Heim zu geben. „Ich hatte ihm versprochen, dass ich ihn bis zum Ende zu Hause lasse“, sagt sie. Seit dem Tod der Mutter fuhr sie also täglich hin und versorgte ihren Vater. Aber irgendwann klingelte mehrmals in der Nacht das Telefon. Am Ende der Leitung war entweder der Vater selbst oder ein Nachbar, bei dem der 86-Jährige um drei Uhr morgens Sturm klingelte. Seit Offergeld seinem täglichen Job im Eselstall nachgeht, sei er ruhiger geworden, sagt Mock. Läuft nicht mehr weg. Und: „Er isst sogar mehr. Frühstückt ordentlich. Marmeladenbrot zum Beispiel.“
Einmal, auch das gehört zur Geschichte in Süssendell, ging die Sache nicht gut aus. 2018, Bauer hatte seinen ersten Tag als Pflegeleiter, verschwand eine Bewohnerin und kehrte nicht mehr lebend zurück. Sie war in den Wald gelaufen und wurde zu spät entdeckt. Alle bedauern den Vorfall natürlich sehr, Bauer sagt aber auch: „Wir sperren eben niemanden ein. Eine Garantie gibt es deshalb nicht. Nicht einmal mit einem Tracker. Denn auch die Technik kann mal ausfallen.“ Das freie Konzept wählten viele Angehörige allerdings auch bewusst. Bauer und seine Mitarbeiter sind überzeugt, dass der selbstbestimmte Weg ein guter ist. Zum Teil könne man die Gabe von Psychopharmaka gezielt reduzieren. Tiere füttern, einer sinnstiftenden Tätigkeit nachgehen, mitkochen, sich im Bewohnerbeirat engagieren – all das wirke in manchen Fällen therapeutisch. „Die Alternative zu unserem Konzept ist häufig eine geschlossene Abteilung. Das missfällt auch vielen. Hier dürfen die Bewohner erstmal machen, was sie wollen.“

Christel Lenertz sitzt im Bewohnerbeirat und kümmert sich in dieser Funktion zum Beispiel um Neulinge. Manchmal spaziert sie in den Wald - allerdings nie allein, das habe sie noch nie gemacht.
Copyright: Thilo Schmülgen
Christel Lenertz zum Beispiel besucht am Wochenende oft ihren Freund, der in der Stadt wohnt. Sie durchstreift auch gerne mal den nahegelegenen Wald – „allerdings nur zusammen mit dem Ehepaar Breuer. Da ist dann ein Mann dabei. Da fühle ich mich halt wohler“, sagt die 78-Jährige, die mal als Textilstopferin gearbeitet hat und im Fernsehen gern Liebesfilme von Utta Danella guckt. Wenn sie die Esel füttern will, darf sie die Esel füttern. Gerade der Umgang mit den Tieren, räume oft Wege zu schon verschollen geglaubten Erinnerungen frei. Plötzlich werden da Kisten mit gut verpackten Kugeln entdeckt, deren Existenz man jahrelang vergessen hatte. „Ich hatte schon Bewohner, die hier saßen und plötzlich sagten: Das riecht nach Bauernhof. Und dann erzählten sie von ihren Urlauben mit den Schwestern, an deren Namen sie sich vorher schon lange nicht mehr erinnern konnten“, sagt Michaela Aderhold, die hier als Alltagsbegleiterin arbeitet.

Mitarbeiterin Michaela Aderhold setzt auf die Kraft der Tiere. „Ich hatte schon Bewohner, die hier saßen und plötzlich sagten: Das riecht nach Bauernhof. Und dann erzählten sie von ihren Urlauben mit den Schwestern, an deren Namen sie sich vorher schon lange nicht mehr erinnern konnten.“
Copyright: Thilo Schmülgen
Wer auf seinem Dachboden allerdings Glitzerkugeln findet, die es genaugenommen gar nicht gibt, der wird hier in Süssendell auch nicht korrigieren. „Wir haben einen Bewohner, der denkt, dass er 17 Jahre alt ist. Jeden Morgen steht er auf und sagt, er müsse sich beeilen, damit er nicht zu spät zur Schule kommt. Er ist aber durchaus glücklich damit und wenn seine Frau ihn besucht, dann denkt er, das sei seine Verlobte. Warum soll ich ihm das nehmen? Das wäre seelisch grausam“, sagt Marlen Chemnitz. Auch Peter Starke ist überzeugt davon, dass seine Mutter, „Jahrgang 1913“ noch am Leben ist. „Natürlich. Ich weiß nur nicht, ob sie mich heute besucht. Aber freuen würde ich mich. Klar!“
Dann steht Starke unvermittelt von seiner Holzbank auf, schlurft zum freigefegten Eselvorplatz, beugt langsam die Knie, presst beide Hände in den Boden und wuchtet den Körper gegen die Schwerkraft. Liegestützen an der frischen Herbstluft. Starke wankt. Aber sieben Stück schafft er noch. Als ein anerkennendes Raunen durch die Zuschauergruppe wabert, lächelt er stolz, als habe er wieder ein intaktes Schmuckstück ausgepackt: „Kennen Sie August den Starken? Der kommt auch aus Dresden. Vielleicht bin ich mit ihm verwandt.“

