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Mangel an TherapieplätzenZu viele Menschen mit Anpassungsstörung in Therapie?

Lesezeit 5 Minuten
Die Zahlen der Praxen von Psychotherapeutinnen und -therapeuten hat sich in den letzten 15 Jahren verdoppelt. /.com/TITOVA ILONA

Die Zahlen der Praxen von Psychotherapeutinnen und -therapeuten hat sich in den letzten 15 Jahren verdoppelt. 

Zeit und Kraft braucht es, um in Deutschland an einen Therapieplatz zu kommen – trotz steigender Kapazitäten. Zwei Psychologen haben eine Vermutung.

Wer schon einmal auf der Suche nach einem Therapieplatz war, weiß: Es ist ein schwieriges und belastendes Unterfangen. Die Nachfrage nach kassenfinanzierten Therapieplätzen kann selbst mit langen Wartezeiten kaum bewältigt werden. Viele fordern daher eine Entlastung des Therapiesystems in Deutschland: Mehr psychotherapeutische Praxen müssen her. Auf den ersten Blick scheint das die konsequente Antwort auf die Situation zu sein.

Die Psychologen Marcus Roth und Gisela Steins stellen dies allerdings infrage, denn: Die Anzahl der psychotherapeutischen Einrichtungen haben sich in den vergangenen 15 Jahren verdoppelt. Lag die Zahl der ambulanten Einrichtungen 2006 noch bei 21.500, stieg die Zahl bis 2022 auf 42.800. Dazu gehören auch Praxen von Psychotherapeutinnen und -therapeuten: Die Anzahl der Niederlassungen hat sich in den vergangenen 15 Jahren ebenfalls verdoppelt und stieg von 16.459 auf 37.280.

Die durchschnittliche Verbreitung an psychischen Störungen und Depressionen in der deutschen Bevölkerung ist allerdings im Vergleich dazu nicht gesunken, sondern gleich geblieben. Zwar arbeiten eine Vielzahl der Therapeutinnen und Therapeuten in Teilzeit, doch nach Roth und Steins hätten die Krankheitsfälle mit der Zunahme an Versorgungsangeboten trotzdem zurückgehen müssen. Schließlich würden mehr Menschen therapiert – und sich damit ihr Zustand bessern. In ihrem Aufsatz „Anmerkungen zur Problematik fehlender Psychotherapieplätze“ versuchen sie dafür Erklärungen zu finden.

Angststörung ist die häufigste Diagnose

Die Vermutung: „Möglicherweise bekommen viele Menschen eine Psychotherapie, die eine Therapie nicht unbedingt benötigen“, sagt Marcus Roth. Denn Studien zeigen eine Unstimmigkeit in den gestellten Diagnosen: Rund 28 Prozent der Bevölkerung leiden unter psychischen Störungen, ergab eine Studie des Robert-Koch-Instituts (RKI). Die Angststörung wird darunter mit circa 15 Prozent am häufigsten diagnostiziert. In der Realität wird in den psychotherapeutischen Praxen allerdings überproportional häufig die Diagnose Anpassungsstörung ausgestellt.

Die Anpassungsstörung ist eine psychische oder soziale Reaktion auf ein Lebensereignis wie ein Todesfall, ein Umzug oder eine Trennung, also eine Veränderung in ihrem Leben. Wie sich eine Anpassungsstörung äußert, ist sehr unterschiedlich. Sie wird meist diagnostiziert, wenn die Symptome einer Depression oder Angststörung nicht deutlich genug ausgeprägt sind, um diese zu stellen.

Anpassungsstörung als „Wild Card“

Häufig wird Therapeutinnen und Therapeuten daher vorgeworfen, die Diagnose als „Wild Card“ oder Schlupfloch zu nutzen, wenn kein klares Krankheitsbild vorliegt. Roth sieht darin ein Problem hinsichtlich der begrenzten Therapieplätze: „Die Therapeuten sehen vor sich eine Person, die leidet und der sie helfen möchten. Das Leid der Personen soll auch nicht relativiert werden, aber auf der Warteliste stehen möglicherweise Menschen, die die Therapie dringender brauchen.“

Besonders da nicht klar sei, ob bei einer Anpassungsstörung eine Psychotherapie notwendig oder gar sinnvoll ist. „Es ist belegt, dass sich die Symptome einer Anpassungsstörung auch ohne eine Therapie mit der Zeit verbessern“, sagt Roth. Die Anpassungsstörung tritt innerhalb der ersten drei Monate nach dem belastenden Ereignis auf, bildet sich allerdings in der Regel innerhalb von sechs Monaten zurück. Die Abgrenzung dieser Störung zu einer Lebenskrise gestaltet sich nach Roth und Steins anhand der Auslöser außerdem schwierig. Sie vermuten, dass gerade diese leichten Fälle die Praxen überlasten. „Manche Krisen gehören im Leben leider dazu und müssen nicht zwangsläufig therapiert werden“, sagt Roth.

Größere Belastungen durch multiple Krisen

Das sei allerdings an den Therapeutinnen und Therapeuten, dies einzuschätzen, gegebenenfalls Menschen abzuweisen und Plätze freizumachen. Roth plädiert dafür, dass für diese Fälle mehr niedrigschwellige Angebote bereitgestellt werden.

Lässt sich damit also das Problem der mangelnden Therapieplätze lösen? Die Psychologin und Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, Eva-Lotta Brakemeier, sieht das Problem in der Praxis komplexer. Zum einen sei die allgemeine Belastung von Menschen gestiegen. Die Coronapandemie habe viele Stressfaktoren ausgelöst und auch die anhaltenden multiplen globalen Krisen wie Kriege und die Klimakrise stellen eine größere Belastung für viele Menschen dar, so Brakemeier. Darin sieht sie einen Grund, warum die Krankheitsfälle nicht zurückgehen.

Zwar plädiert sie ebenso für den Ausbau niedrigschwelliger Angebote wie Beratungen für Menschen in einer Krise, hebt aber auch die Bedeutung der Behandlung von Anpassungsstörungen hervor. „Studien weisen darauf hin, dass mit Anpassungsstörungen ein erhöhtes Suizidrisiko einhergeht“, sagt Brakemeier. Eine Therapie könne zudem schwere oder chronische Folgeerkrankungen verhindern.

Auch Roth betont: „Natürlich kann eine Lebenskrise sich zu einer Depression entwickeln, aber dann sind auch Kriterien für eine psychische Störung erfüllt.“

Psychologisierung – ein gesellschaftliches Phänomen?

Roth und seine Kollegin Gisela Steins stellen in Ihrem Aufsatz allerdings noch eine weitere Hypothese auf, warum die Nachfrage nach Therapieplätzen und die Krankheitsfälle nicht abnehmen: eine Psychologisierung der Gesellschaft. Mentale Krankheiten würden immer mehr enttabuisiert.

Das bestätigt auch Brakemeier: „Dadurch melden sich immer mehr Menschen und trauen sich, sich zu öffnen und Hilfe zu suchen.“ Dies sei eine positive und wichtige Entwicklung, so Brakemeier. Auch Roth sieht darin Positives. „Immer mehr Menschen kennen sich mit psychischen Krankheiten aus und erkennen die Merkmale auch bei anderen wieder.“ Dies könne Betroffenen helfen.

Doch kommt es bei dieser Entwicklung auch zu einem negativen Phänomen, so die Vermutung von Roth und Steins: Sie führe zu einer Psychologisierung des Alltags. Eigene Probleme und Charakterzüge werden zunehmend in Störungsbilder eingeordnet – auch durch immer mehr selbst gestellte Diagnosen. „Nicht jedes Lebensproblem ist direkt eine Depression oder eine Störung“, sagt Roth. „Ich sage nicht, dass es keine psychischen Störungen gibt. Ich sage nur, dass es vieles gibt, was im Normalbereich liegt, wo wir kein psychisches Label für brauchen.“ Der übermäßige Gebrauch von Labeln und vermeintlichen Diagnosen mache es wiederum den Menschen, die extrem leiden, schwerer, gehört zu werden, folgert Roth.

An einen Therapieplatz zu gelangen, sei schwer. Es koste viel Kraft für Erkrankte, die vielen Anrufe zu tätigen, um zumindest auf die Warteliste einer Praxis zu gelangen. Für Schwerdepressive eine fast unüberwindbare Hürde, so an Hilfe zu kommen. Dies können eher Menschen leisten, die beispielsweise eine Anpassungsstörung haben, sagt Roth. Somit kommen diese Menschen auch eher an Therapieplätze, und die schweren Fälle bleiben weiter allein mit ihrem Leid.