Rund um Kölns zentralsten Platz verelenden Drogenkranke vor aller Augen. Beobachter fordern jetzt schnelle Maßnahmen.
„So schlimm war es noch nie“Situation der offenen Drogenszene spitzt sich zu – Beobachtungen am Kölner Neumarkt

Ein drogenabhängiger Mann schläft sein Rausch vor der Tür eines Mehrfamilienhauses an der Thieboldsgasse aus.
Copyright: Arton Krasniqi
Nach dem Wochenende ist es besonders schlimm. Montags rückt eine Reinigungsfirma an und sammelt Spritzen, Essensreste, Scherben und Lumpen im Eingangsbereich vor dem Sanitätshaus Stortz am Neumarkt auf. Spritzt den Boden mit einem Hochdruckstrahler ab. Spült Bierlachen, Blut, Kot und Urin in den Rinnstein. Reinigt gründlich die Fußmatte und die gläserne Eingangstür. Versprüht Desinfektionsmittel. Erst dann werden die Kunden eingelassen. Die, die noch kommen. Manche trauten sich schon gar nicht mehr zu ihm, sagt Walter Schuch.
Sein Geschäft liegt genau zwischen dem Drogenkonsumraum im Gesundheitsamt und der Substitutionsambulanz in der Lungengasse. Wer wissen möchte, was abends nach Ladenschluss in dem überdachten Eingangsbereich seines Sanitätshauses vor sich geht, dem zeigt Schuch in seinem Büro Videos und Screenshots aus der Überwachungskamera. Manche hätte man lieber nicht gesehen, die Bilder gehen nicht mehr aus dem Kopf.
Köln: Dealer und Drogenkranke prägen das Bild am Neumarkt
Etwa das eines Mannes in Lederjacke. Er sitzt an die gläserne Eingangstür gelehnt, die Hose halb heruntergelassen. Er schiebt sich die Jacke hoch, um sich zu kratzen. Der Blick fällt auf seine nackte Haut, der Rücken ist von oben bis unten mit blutigen Pusteln übersät. „Krätze im fortgeschrittenen Stadium“, sagt Schuch. „Hochansteckend.“
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Am Durchgang vom Haubrich-Hof zur Lungengasse setzt sich ein Mann eine Spritze in den Arm.
Copyright: Arton Krasniqi
Es ist noch nicht lange her, da habe ein Mann auf dem Gehweg neben dem Eingang gelegen. Aus seinem offenen Bein seien Maden gekrochen. „Wir erleben hier am Neumarkt ein Sozialexperiment allerbrutalsten Ausmaßes“, sagt Schuch, der seit 1972 in dem Sanitätshaus arbeitet und Vorstand der Bürgerinitiative Neumarkt ist. „So schlimm wie jetzt war es noch nie.“

Walter Schuch, Geschäftsführer vom Sanitätshaus Stortz, fordert langfristige Lösungen und Ad-Hoc-Maßnahmen, um die desolate Situation rund um den Neumarkt zu verbessern.
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Ein Satz, der gemeinhin schnell gesagt ist. Auffallend aber ist, dass ihn so oder ähnlich nahezu alle sagen, mit denen man dieser Tage über den Neumarkt spricht: der Kölner Polizeipräsident, der Sozialdezernent, Anwohner, Geschäftsleute, Streetworker, Passanten, Wissenschaftler und auch die Drogensüchtigen selbst.
Und noch etwas sagen fast alle, die man fragt: Es muss sich etwas ändern. Nicht in einem Jahr, nicht nach der Oberbürgermeisterwahl in zwei Monaten – jetzt. Sofort. Denn es ist nicht mehr zu übersehen: Die befürchtete Crack- und Fentanyl-Welle ist angekommen in der offenen Drogenszene in Köln, und sie hat den Neumarkt noch einmal tiefer abrutschen lassen, hat ihn in ein „Risikoumfeld“ verwandelt, sagt der Suchtforscher Daniel Deimel, geprägt von Gewalt, Gesundheitsrisiken und Vermüllung.
Wir erleben hier am Neumarkt ein Sozialexperiment allerbrutalsten Ausmaßes
Wie dringend der Handlungsbedarf ist, beweisen Szenen, die der „Kölner Stadt-Anzeiger“ an verschiedenen Tagen im Juli in den Straßen rund um den Neumarkt beobachtet hat.
An einem Samstagnachmittag, es ist heiß, die Sonne brennt, entblößt sich vor dem Rautenstrauch-Joest-Museum ein Mann, der eine Daunenjacke trägt. Er zieht sich die Hose herunter und entleert sich direkt neben den Radweg. Ein Junge, der in diesem Moment mit seinem Vater vorbeifährt, sieht das und verliert darüber fast die Kontrolle über seinen Lenker.

Anwohner Yassir Frayje weckt einen Drogenabhängigen, der sich in Frayjes Vorgarten schlafen gelegt hat.
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Drei Tage später, 15 Uhr in der Thieboldsgasse. Anwohner Yassir Frayje weckt einen Mann, der auf dem Rasen im Vorgarten schläft. „Hey Kollege“, ruft Frayje, „das ist kein Schlafplatz. Bitte steh auf, sonst muss ich die Polizei holen.“ Der Mann erhebt sich langsam, schwankt benommen davon, legt sich fünfzig Meter weiter vor einer Garage auf den Asphalt in die pralle Sonne und schläft weiter. „Letztens“, sagt Frayje, „lag jemand quer vor meiner Eingangstür, ich müsste über ihn drübersteigen, um ins Haus zu kommen.“ Frayje lacht. „Das ist ein Lachen vor Schmerz“, entschuldigt er sich. Er hat eine vierjährige Tochter und will bald wegziehen.

Die offene Drogenszene sammelt sich vor allem auf dem Josef-Haubrich-Platz vor der Zentralbibliothek.
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Sein Nachbar, Issa Abu Daher, berichtet, Drogensüchtige säßen regelmäßig auf dem Mäuerchen vor seinem Haus, rauchten Crack und setzten sich Spritzen. Die meisten reagierten friedlich und verständnisvoll, wenn man sie anspreche, sagt Abu Daher. Aber man wisse ja nie. Zuletzt sei die Zahl der Autoaufbrüche in der Thieboldsgasse gestiegen, die Anwohner vermuten Beschaffungskriminalität. Eine Frau berichtet, zwei Obdachlose hätten ein Zelt in ihrem Garagenhof aufgeschlagen. Als ihr Mann sich nicht anders zu helfen wusste und mit einem Gartenschlauch drohte, hätte einer gerufen: „Spritz mich nass, dann leg ich hier Feuer.“

Die offene Drogenszene sammelt sich vor allem auf dem Josef-Haubrich-Platz vor der Zentralbibliothek.
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Mittwoch vorige Woche, 16 Uhr. Geschrei dringt vom Josef-Haubrich-Hof herüber. Etwa 30 Menschen stehen in Gruppen versammelt und diskutieren lautstark – augenscheinlich alle der Drogenszene zuzurechnen. Zwei Männer schubsen sich. Sitzend an einen Bauzaun gelehnt kocht einer Heroin auf Alufolie auf. Auf einer Bank im Baustellenbereich vor der Zentralbibliothek ziehen ein Mann und eine Frau an Crackpfeifen, eine Gruppe Kinder mit bunten Schwimmnudeln in der Hand und ihre erwachsenen Begleiter ziehen vorüber. Weiter hinten schiebt ein Mann mit auf Kniehöhe heruntergelassenen Jeans einen Rollstuhl.
Im Parkhaus Cäcilienstraße, gleich unter dem Museum, tritt die Verelendung besonders krass zutage. Autos parken nur im vorderen Teil, im hinteren Bereich zeichnen sich getrocknete Urinlachen auf dem Boden ab. Kot liegt vor den Wänden, eine alte Matratze liegt auf dem Boden. Vor allem im engen Treppenhaus ist der Gestank nach Fäkalien so beißend, dass man unwillkürlich die Luft anhält. An einer Wand klebt Blut. Der Parkhausbetreiber hat das untere Deck komplett gesperrt. Notwehr, wenn man so will. „Leider ist die Tiefgarage von Apcoa momentan stark von der Drogenproblematik betroffen und es gibt hygienische Probleme“, informiert das Museum Schnütgen auf seiner Website. „Sicher parken ohne Museumstarif kann man gegenüber bei Contipark in der Tiefgarage Schildergasse“. Das klingt nach Kapitulation.

Blick ins Treppenhaus des Parkhauses Cäcilienstraße am Neumarkt. Die untere Parkebene wurde aus Sicherheits- und hygienischen Gründen geschlossen.
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Nachdem Polizeipräsident Johannes Hermanns in einem Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ vorige Woche den Drogenkonsumraum am Neumarkt in seiner jetzigen Form als gescheitert betrachtet und neue Lösungen vorgeschlagen hatte – unter anderem einen Konsumraum mit deutlich weiterreichenden Hilfsangeboten sowie eine ärztlich verordnete Echtstoff-Abgabe an Schwerstabhängige –, ist der Neumarkt auch wieder vermehrt Gesprächsthema in der Kölner Politik.
Walter Schuch, der Sanitätshaus-Geschäftsführer und Chef der Bürgerinitiative Neumarkt, fordert Ad-Hoc-Maßnahmen: vor allem eine Reduzierung der sichtbaren Drogenszene, und zwar „unter Wahrung rechtlicher und humanitärer Aspekte“, fügt er hinzu. Eine erste kleine Maßnahme wäre doch, schlägt er vor, den Innenhof der Substitutionsambulanz in der Lungengasse als geschützte Aufenthaltsmöglichkeit für die Konsumenten herzurichten statt Autos darin zu parken.
Denn auch in einem dritten Punkt sind sich nahezu alle einig, die man fragt: Den Dealern muss das Handwerk gelegt, aber den Suchtkranken muss dringend geholfen werden. Viele befänden sich am Ende einer langen, schweren Drogenkarriere, man müsse sie behandeln, statt sie auf der Straße sich selbst zu überlassen, sagt Schuch. Die Politik müsse handeln, fordert er. Parteiübergreifend. Aber im Grunde sei die ganze Stadtgesellschaft gefordert. „Alle, die Köln lieben“, findet Schuch, „müssen diese Stadt wieder zu einer Stadt mit Gefühl machen.“