Paul Thomas Anderson hat sich von Kultautor Thomas Pynchon zu einem filmischen Meisterwerk inspirieren lassen, einem Blick in die Zukunft der USA.
Neu im Kino„One Battle After Another“ ist eine wilde Jagd durchs autokratische Amerika

Chase Infiniti in einer Szene aus „One Battle After Another“
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Als Thomas Pynchon Anfang der 1990er „Vineland“ veröffentlichte, traf der Roman allenthalben auf enttäuschte Reaktionen. Fast 20 Jahre hatten Kritikerinnen, Kollegen und Fans auf ein Lebenszeichen des öffentlichkeitsscheuen Autors gewartet, der mit „Gravity's Rainbow“ (dt. „Die Enden der Parabel“) das ultravertrackte Schlüsselwerk des amerikanischen Jahrhunderts veröffentlicht hatte, den kaum ohne Sauerstoffgerät zu bewältigenden Mount Everest der postmodernen Literatur.
„Ich habe das starke Gefühl, dass er 20 Jahre lang nur gekifft und ferngesehen hat“, schrieb David Foster Wallace nach der ersten „Vineland“-Lektüre an seinen Freund Jonathan Franzen. Beide arbeiteten damals fieberhaft an enzyklopädischen Werken, mit denen sie das übermächtige Vorbild zu überwinden versuchten. Jetzt schien es, als hätte Pynchon seinen Gipfelpunkt 1973 hinter sich gelassen, als hätte er nur mehr die Kraft zu dieser lustig-mäandernden Geschichte über abgehalfterte Linksradikale, die sich cartoonartige Fang-mich-Spielchen mit machtbesoffenen Regierungsagenten lieferten.
Zum ersten Mal konnte man an Pynchons Verfolgungswahnfabeln emotional andocken
Das erwies sich bald als doppelte Täuschung. Zum einen legte Pynchon nur sieben Jahre später mit „Mason & Dixon“ das Mammutwerk vor, an dem er wohl die meiste Zeit in den Jahren seines langen Schweigens gearbeitet hatte. Zum anderen hatte man die humanistische Wende übersehen, die der Autor mit „Vineland“ vollzogen hatte: Inmitten seiner Slapstick-Figuren, die sich durch eine labyrinthische, ihre wahren Absichten stets verbergende Wirklichkeit treiben lassen, war plötzlich ein anrührender Vater-Tochter-Konflikt aufgetaucht, zum ersten Mal konnte man an Pynchons närrische Verfolgungswahnfabeln emotional andocken.
So erging es auch Paul Thomas Anderson, der das vermeintliche Nebenwerk von Anfang an ins Herz geschlossen hatte. Der kalifornische Regisseur („There Will Be Blood“, „Der seidene Faden“) spielte 20 Jahre lang mit der Idee, „Vineland“ für die Leinwand zu adaptieren. 2014 nahm er sich stattdessen Pynchons späteren (und noch ein wenig bekiffteren) Detektiv-Roman „Inherent Vice“ zum Vorbild, eine nahezu buchstabengetreue und deshalb reichlich verwirrende Verfilmung mit Joaquin Phoenix in der Rolle des Hippie-Ermittlers Doc Sportello.
Jetzt hat sich Anderson nach langem Zögern endlich an „Vineland“ gewagt, zumindest beinahe. Für „One Battle After Another“ – der Titel ist ein Zitat aus dem Roman – hat sich der Regisseur lediglich bei einigen Grundkonstellationen und -themen der Vorlage bedient. Mit dem Segen des inzwischen 88-jährigen Autors und mit einem Ergebnis, das jede künstlerische Freiheit rechtfertigt.
Statt in den geldgierigen Reagan-Jahren spielt der Film im zerbrechlichen Hier und Jetzt, beziehungsweise einige Zeit davor: In der dynamischen Eröffnungssequenz verfolgen wir einen Überfall der linken Guerillatruppe „French 75“ auf ein Gefängnis der Polizei- und Zollbehörde ICE, inhaftierte Einwanderer werden befreit, die forsche Terroristin Perfidia Beverly Hills (Tejana Taylor) erniedrigt den Befehlshabenden Colonel Steven J. Lockjaw (Sean Penn) sexuell, ihr wenig kompetenter Partner (Leonardo DiCaprio) ist lediglich für die funkensprühende Ablenkung zuständig.
„One Battle After Another“ als atemlose Verfolgungsjagd
16 Jahre später zieht DiCaprios Sprengstoffexperte unter dem falschen Namen Bob Ferguson die gemeinsame Tochter Willa groß – die Newcomerin mit dem pynchonesken Namen Chase Infiniti ist die aufmüpfige Seele des Films. Perfidia hat ihn verlassen und die „French 75“ verraten, Bob hat sich selbst verloren, verbringt seine Tage damit, sich zugedröhnt Gillo Pontecorvos Revolutionsklassiker „Schlacht um Algier“ anzugucken. Bis ihn der Faschist Lockjaw – der vermutet, Willa könnte seine Tochter sein – ausfindig macht.
Der Rest des Films ist im Grunde eine einzige, atemlose Verfolgungsjagd, mit spektakulären Bildern und Actionszenen – dank DiCaprios Star-Power soll Warner Bros rund 140 Millionen Dollar locker gemacht haben – aber mit noch mehr unvergesslichen, so berührenden wie bizarren Charaktermomenten: Regina Halls scheiternde Revolutionärin, Benicio del Toros stoischer Karate-Sensei, DiCaprio, der im verschlissenen Bademantel durch die Handlung stolpert wie Jeff Bridges' Dude in „The Big Lebowski“ oder Arthur Dent in „Per Anhalter durch die Galaxis“.
„One Battle After Another“ ist Andersons unterhaltsamster Film seit „Boogie Nights“
Der Held als Spielball der Geschichte, aber auch als verzweifelter Vater, dessen Nöte den Zuschauenden Tränen in die Augen treiben. „One Battle After Another“ ist Andersons unterhaltsamster Film seit „Boogie Nights“ von 1997, eine unwahrscheinliche Zusammenführung von Buster Keaton und Robert Altman, von Alfred Hitchcocks „Familiengrab“ und Steven Spielbergs „Sugarland Express“, ein Meisterstück und sicherer Oscar-Kandidat. Doch es ist zugleich sein politischster Film, selbst wenn das der Regisseur in jedem Publicity-Interview vehement bestreitet, schließlich gilt es 140 Millionen Dollar wieder einzuspielen, da müssen auch im Mittleren Westen ein paar Menschen ins Kino gehen.
Und es ist auch, trotz des offensichtlicheren „Inherent Vice“, Paul Thomas Andersons Pynchon-haftester Film. Nicht nur wegen kleinkarierter Revolutionäre, Kampf-Nonnen oder einer rechtsextremen Geheimorganisation namens „Christmas Adventurers Club“, sondern wegen seiner alles durchdringenden Atmosphäre von Paranoia, Rassenwahn und Totalitarismus, ganz Amerika ist ein ICE-Gefängnis.
Mitte Oktober erscheint „Shadow Ticket“, Thomas Pynchons erste Veröffentlichung seit 2013, und sie erscheint, genau wie „One Battle After Another“, zur rechten Zeit. In einer frühen Rezension verweist eine Kritikerin des „New Yorker“ auf den schwer zu leugnenden Umstand, dass man in den USA inzwischen selbst in einen Pynchon-Roman zu leben scheint: Der Präsident will Grönland kaufen; eine neue Wunderdroge macht, dass sich die Leute verdünnisieren; ein Multimilliardär, der Raketen und Cybertrucks baut, hat eine Organisation zum Abbau des Regierungsapparats ins Leben gerufen, deren Name („Doge“) sich auf das Meme eines süßen Shiba-Hundes bezieht; Millionen folgen einer mysteriösen Figur namens „Q“ und glauben, dass Politiker und Prominente in Kellern von Pizzaläden Kinder foltern.
Diesem Irrsinn setzt „One Battle After Another“, wie schon so viele Hollywood-Filme vor ihm, die Macht der Familie entgegen. Aber es ist eine Wahlfamilie aus Nicht-Einverstandenen aller Ethnien, und ihr Alltag besteht aus einer permanenten Fluchtbewegung.
„One Battle After Another“ läuft am 25. 9. in den deutschen Kinos an.