Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

80 Jahre Befreiung von Nazi-Deutschland„Der Tag der Befreiung war eine Renaissance des Lebens, ein riesengroßes Fest“ – Überlebender (88) aus der Ukraine muss nach Köln fliehen

Lesezeit 9 Minuten
5.5.2025, Köln: Roman Shvartsman, fotografiert in seiner Wohnung in Köln. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren: Roman Shvartsman hat die Schoa und Stalin überlebt, 2023 wurde sein Haus in der Ukraine von einer russischen Bombe zerstört. Er lebt jetzt in Köln. Im Januar sprach er im Bundestag, am 8.5. wird er im El-De-Haus vortragen. Foto: Thilo Schmülgen

Roman Schwarzman (88) wird am 80. Jahrestag der Befreiung von Nazi-Deutschland im Kölner El-De-Haus sprechen. 

Als sich der 88-jährige Roman Schwarzman an den Tag der Befreiung vor 80 Jahren erinnert, holt ihn die Vergangenheit ein. Ein Hausbesuch.

Zweieinhalb Stunden hat Roman Schwarzman in seiner Kölner Wohnung vom Grauen berichtet, von Gemetzel und Entmenschlichung gestern und heute. Vor ihm auf dem Tisch lag ein winziger goldener Adler, der von seinem Bundesverdienstkreuz am Bande abgeblättert ist, ab und an hat er ihn mit dem Finger berührt, behutsam, wie einen zerbrechlichen Freund.

Der 88-Jährige hat sich an die Nazis erinnert, die die Juden in seiner Heimatstadt Berschad in ein Ghetto sperrten und jeden, der fliehen wollte, erschossen. Er hat von seinem Bruder erzählt, der während der Zwangsarbeit von einer Brücke in den Fluss fiel und von der SS erschossen wurde – die Aufseher legten den Unfall als Fluchtversuch aus. „Meine Schwester ist 1943 von einem Soldaten im Lager vergewaltigt worden. Sie wurde schwanger und bekam einen Sohn, Boris, der 1947 wegen Unterernährung gestorben ist.“ Er habe diese Geschichte bislang erst einmal erzählt. Dem ältesten Bruder brachen die Aufseher alle Rippen, weil er ein bisschen Hafer, der für die Pferde bestimmt war, unter seinem Hemd versteckt hatte.

Dass wir über unsere Identität nach dem Krieg nicht sprechen konnten, war eine Realität
Roman Schwarzman (88), Holocaust-Überlebender

Schwarzman hat berichtet, dass er vor Hunger nicht mehr stehen konnte, nicht mehr gehen konnte, als das Lager im März 1944 von der Roten Armee befreit wurde; und dass er in den Jahrzehnten nach dem Krieg über seine Verfolgung schwieg, weil Juden in der Sowjetunion weiter stigmatisiert wurden. „Dass wir nicht über unsere Identität sprechen konnten, war eine Realität.“ Natürlich ging es auch um den Raketenangriff in Odessa, den er im Dezember 2023 nur knapp überlebte und der zur Flucht nach Köln führte. Ein Jahr lebt der Holocaust-Überlebende jetzt als Kriegsflüchtling in Deutschland.

„Putin nennt Demokraten Faschisten, dabei ist er der Faschist, Putin ist der Hitler des 21. Jahrhunderts“

Roman Schwarzman trägt ein gebügeltes Hemd mit hellblauen Streifen und eine karierte Krawatte, er ist frisch frisiert und schaut seinem Gegenüber eindringlich in die Augen. Fürs Foto legt er ein dunkles Sakko an, links ein Orden für die Verdienste um die Ukraine, den Präsident Selenskyj ihm verliehen hat, rechts das Bundesverdienstkreuz am Bande von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Er streckt den Rücken durch und hebt das Kinn.

Roman Schwarzman, Holocaustüberlebender, steht nach seiner Rede im Plenum des Bundestages zwischen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD).

Roman Schwarzman nach seiner Rede im Bundestag mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und der damaligen Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD). Der Bundestag erinnerte im Januar an die Befreiung von Auschwitz vor 80 Jahren.

Als er von seiner Schwester sprach, hatte er kurz gestockt. Als er von Putin sprach, der ihn töten wolle, weil er Ukrainer ist, und von den Nazis, die ihn töten wollten, weil er Jude ist, bebte er vor Zorn. Aber erst, als er vom Tag der Befreiung am 8. Mai 1945 berichtet, kommen diesem tapferen wie resilienten alten Mann, der so oft in seinem Leben dem Teufel begegnet ist, die Tränen. „Wir bekamen Bonbons und kleine Geschenke, es gab jede Menge zu essen, es wurde musiziert und alle haben getanzt. Der Tag der Befreiung war eine Renaissance des Lebens, ein riesengroßes Fest“, sagt Schwarzman. Dann zuckt er, schluchzt, seine Frau Tatiana streicht ihm über die Schulter und flüstert ihm ins Ohr. Eine Pause entsteht, Schwarzmans Körper zittert. „Wir konnten damals nicht mehr davon träumen, jemals wieder frei zu sein“, sagt er dann. „An diesem Tag haben wir die ganze Zeit geweint – vor Freude.“ Die Erinnerung ist fast zu viel.

80 Jahre sind seit der Befreiung von Nazi-Deutschland vergangenen – für Roman Schwarzman ist der Tag in diesem Moment im Mai 2025 wieder da. Seine Frau bringt ihm Taschentücher, es dauert ein bisschen, aber Schwarzman möchte weiter sprechen. „Früher konnte ich den 9. Mai – in Russland und der Ukraine wird nicht am 8. Mai gefeiert, sondern am 9. – auch Tag des Sieges nennen. Aber das geht nicht mehr, weil Putin den Tag instrumentalisiert, um den Sieg gegen die angeblich faschistische Ukraine herbeizurufen“, sagt er. „Putin dreht die Wirklichkeit um 180 Grad, er nennt Demokraten Faschisten, dabei ist er der Faschist, Putin ist der Hitler des 21. Jahrhunderts.“ Der Krieg hat Schwarzman wie Tausende andere Überlebende retraumatisiert. „Aber er wird mich nicht brechen.“

Die Baracke der Schwarzmans lag in Sichtweite des Massengrabs

Roman Schwarzman war fünf, als deutsche und rumänische Truppen 1941 in seine Heimatstadt Berschad vorrückten, das drittjüngste von neun Kindern, seine Mutter Hausfrau, sein Vater Stellmacher. Sie versuchten zu fliehen, stießen aber nach zwei Wochen auf deutsche Panzer und mussten umkehren. Bei der Einnahme von Berschad töteten die Deutschen und die Rumänen Tausende Juden und Ukrainer. Roman kam mit seiner Mutter und seinen Geschwistern ins Ghetto, sein Vater war an der Front, schwer verletzt und gebrochen würde er zurückkommen. 25.000 Juden wurden in dem Lager von den Nazis zusammengepfercht, 16.000 starben allein an einer Typhusepidemie, jede Woche wurden Menschen ermordet. Die Baracke der Schwarzmans lag in Sichtweite einer riesigen Grube – dem Massengrab, in das die Leichen der Verhungerten und Ermordeten geworfen wurden.

Schwarzman trinkt von dem starken Kaffee, den seine Frau gebracht hat, und redet weiter von Putin. „Putin ist dabei, die Geschichte zu wiederholen. Auch wenn er nicht den Massenmord an den Juden wiederholt, sondern jetzt die Ukrainer ermordet, so ist er doch genauso ein Diktator, der die Welt beherrschen möchte, andere Völker angreift und unterdrückt.“

Es ist das, was Schwarzman bei seiner Rede im Bundestag im Januar zur Befreiung von Auschwitz damit meinte, als er sagte, das „Nie wieder“ habe seinen Sinn verloren. „Wir erleben gerade, dass die Geschichte zurückkehrt. Die Diktatur, der Nationalismus, der Imperialismus.“

Ich war im Ghetto, ich habe den Teufel gesehen, und sage: Wir überschätzen ihn sehr. Seine Kraft ist nicht größer als die, die wir ihm selbst beimessen
Roman Schwarzman

Er wird nicht müde, davor zu warnen, vor Putins Drohungen einzuknicken: „Ich war im Ghetto, ich habe den Teufel gesehen, und ich sage: Wir überschätzen ihn sehr. Seine Kraft ist nicht größer als die, die wir ihm selbst beimessen“, hatte er im Bundestag gesagt. „Wenn wir Angst haben und uns von der Angst leiten lassen, erreicht Putin sein Ziel“, sagt er heute. Anders als die vielen, die nie Krieg und Unterdrückung erlebt hätten, „weiß ich sehr genau, was das bedeutet“. Man würde sich an dieser Stelle wünschen, dass die Vorstellungskraft der Menschen nur ein bisschen größer wäre – um aus der Geschichte und den Geschichten wie jenen von Roman Schwarzman zu lernen.

Es kommt nicht von ungefähr, dass dieser Mann Putin unverblümter mit Hitler vergleicht als die meisten Deutschen das tun würden: Wie Hitler und seine Gefolgsleute vor mehr als 80 Jahren Schwarzmans Leben bedrohten und seine Brüder ermordeten, so bedrohen Putins Bomben heute sein Leben. In Deutschland lebt er mit seiner Frau jetzt, weil im Dezember 2023 eine Rakete in Odessa in einer Schule neben dem Hochhaus einschlug, in dem er seit 25 Jahren lebte. „Wir haben nur überlebt, weil wir nach dem Alarm sofort in den Keller geflüchtet sind“, sagt er. „Die Druckwelle war so stark, dass alle Fensterscheiben in unserem Haus zerborsten und die Möbel umgestürzt sind. Im Keller, der kein geeigneter Luftschutzbunker war, gab es eine riesige Staubwolke, die uns eingenebelt hat.“ Der Einschlag brachte auch das Unbewusste zurück.

Dass er sich am Ende seines Lebens im Land der Täter wiederfindet, ficht Roman Schwarzman nicht an. Mit Deutschland, sagt er, habe er längst seinen Frieden gemacht. „Ich bin dem Land sehr dankbar, dass sie so viele Menschen aus der Ukraine aufgenommen haben, auch mich, und ihnen ein würdiges Leben ermöglichen, mit Wohnungen, Bildung, Arbeit, medizinischer Versorgung.“ Deutschland sei der wichtigste Verbündete der Ukraine in Europa – „und das, obwohl Kanzler Scholz herumlaviert hat und der Ukraine schwere Waffen verweigert hat. Das war kindisch und falsch – trotzdem tut Deutschland enorm viel“.

Hohe Auszeichnungen und Treffen mit Präsidenten

Roman Schwarzman hat 2019 für seine Verdienste um die Verständigung das Bundesverdienstkreuz am Bande erhalten – „es gibt nur acht Menschen aus der Ukraine mit dieser Auszeichnung“, sagt er. Er hat 2023 und 2025 im Bundestag gesprochen und mehrfach Bundespräsident Steinmeier getroffen, er nennt ihn „einen guten Freund“. Darüber, wie Steinmeier Putin einschätzte, als er Außenminister war, reden wir nicht.

Schwarzman hat sein Leben nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1990 dem Erinnern an den Holocaust verschrieben und war äußert erfolgreich: Der Mann, der selbst so lange geschwiegen hatte, weil er als Jude nach dem Krieg weiter diffamiert wurde und Repressalien fürchtete, trug maßgeblich dazu bei, dass das Schweigen gebrochen wurde. Er recherchierte mit anderen ehemaligen jüdischen KZ- und Ghetto-Inhaftierten Massenvernichtungslager und -erschießungen, gründete Gedenkstätten und brachte ein Holocaust-Museum in Odessa auf den Weg. 35 Jahre lang sprach er Woche für Woche in Schulen und Universitäten – bis eine russische Rakete ihn zur Flucht nach Deutschland zwang.

Roman Shvartsman, fotografiert in seiner Wohnung in Köln. Er trägt zwei Orden am Revers.

Roman Schwarzman hat sein Leben nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1990 dem Erinnern an den Holocaust verschrieben. Er wurde 2019 für seine Verdienste um die Verständigung mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt.

Also spricht er jetzt in Deutschland: mit Journalisten, in Bildungseinrichtungen, wann und wo immer es ihm möglich ist. Am 8. Mai, 80 Jahre nach der Befreiung von Nazi-Deutschland, wird er gemeinsam mit Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker im El-De-Haus gegen das Vergessen anreden.

Die Erinnerung an den Holocaust verblasst. Man sieht ja gerade, wie viele Menschen eine rechtsextreme Partei wie die AfD wählen
Roman Schwarzman

„Die Erinnerung an den Holocaust verblasst, weil die letzten Zeitzeugen sterben“, sagt Schwarzman. „Die junge Generation interessiert sich nicht mehr dafür – und damit steigt die Gefahr, dass die Geschichte sich wiederholt. Man sieht ja gerade, wie viele Menschen eine rechtsextreme Partei wie die AfD wählen.“ Wenn Deutschland es ernst meine, dass es „eine historische Aufgabe ist, dass der Krieg nicht zurück nach West-Europa kommt“, dann müssten Deutschland und die EU die Ukraine „mit schweren Waffen beliefern – und zwar so, dass die Ukraine Russland zurückdrängen kann“. Wenn nicht – „dann wird es die liberalen Demokratien in Europa nicht mehr lange geben“, sagt Schwarzman. „Dafür muss man kein Prophet sein – Putin verbreitet seine Pläne ja ständig über seine Staatsmedien. Die Menschen, die nie Krieg erlebt haben, können sich das nur nicht vorstellen, leider.“

Ich setze große Hoffnungen in Friedrich Merz, der Taurus-Marschflugkörper zugesichert hat und entschiedener auftritt als Scholz das getan hat
Roman Schwarzman

Roman Schwarzman hat mehr Bilder im Kopf als er möchte. Immer, wenn er seine Geschichte erzählt, holt die Vergangenheit ihn ein. So pessimistisch er ist, wenn er von Trump spricht oder von den Angriffen auf die ukrainischen Städte, so innig beschwört er, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. „Ich setze große Hoffnungen in Friedrich Merz, der Taurus-Marschflugkörper zugesichert hat und entschiedener auftritt als Scholz das getan hat“, sagt er.

Er hofft auch, dass Trump und die USA die Ukraine wieder stärker unterstützen, und sei es auf Kosten eines Rohstoffdeals. Wie groß seine Hoffnung sei, noch einmal in der Ukraine einen Tag der Befreiung zu feiern? Der 88-Jährige steht auf, den Rollator in der Ecke nimmt er nicht zur Hilfe. Er schwankt kurz, und bleibt doch aufrecht stehen.

„Ich habe keinen Zweifel daran“, sagt er. In Deutschland lebe er nur noch kurz. „Wir werden bald den Tag der Befreiung zusammen feiern. Es wird unvergesslich sein.“ Man möchte es glauben.