Friedrich Merz hat 25 Jahre auf den Tag seiner Wahl zum Kanzler hingearbeitet. Über seine wechselvolle Geschichte von Aufstieg und Abstieg.
Von Merkel ausgebremstMerz hielt sich schon vor 25 Jahren für den besten Kanzlerkandidaten

Mit langem Anlauf: Der CDU-Politiker Friedrich Merz ist fast am Ziel, der zehnte Kanzler der Bundesrepublik zu werden. /
Copyright: IMAGO/dts Nachrichtenagentur
Friedrich Merz dürfte das im Kopf ein paar Mal durchgespielt haben. Wie Bundestagspräsidentin Julia Klöckner das Ergebnis an diesem Dienstag bekannt gibt, wie sich die Abgeordneten zum Applaus erheben und wie er diese Wahl annimmt. Wie es sich anfühlt, wenn er sein Ziel tatsächlich erreicht hat: Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, der zehnte seit Konrad Adenauer. So wie er auch der zehnte CDU-Vorsitzende seit Konrad Adenauer geworden ist. Einen Politikwechsel will er einleiten, die Partei und das Land wieder rechts der Mitte positionieren.
Wenn denn alles glattgeht an diesem 6. Mai 2025, auf den Tag genau sechs Monate nach dem Bruch der Ampel. Es ist der Tag in seinem Leben, auf den der 69-Jährige so lange gewartet hat, - eine wechselvolle Geschichte von Aufstieg und Abstieg, von Überheblichkeit und Empathie, von Rückzug und Rückkehr. Oder in drei Worten: ein Vierteljahrhundert Machtkampf. Für konservative Werte, gegen Angela Merkel, um einen ganz persönlichen Sieg.
Merz hielt sich schon vor 25 Jahren für den natürlichen Kanzlerkandidaten
Man muss noch einmal 25 Jahre zurückgehen, um ermessen zu können, welche Bedeutung dieser Moment für den Sauerländer hat. Er hielt sich schon mit 44 Jahren für den natürlichen Kanzlerkandidaten. Er war gerade Bundestagsfraktionschef von CDU und CSU geworden und bekam mit der ebenfalls neuen 45-jährigen CDU-Bundesvorsitzenden Merkel die Parteispendenaffäre von Altkanzler Helmut Kohl langsam in den Griff. Nicht nur er selbst sah sich als Hoffnungsträger. So reiste er nach München, um sich CSU-Chef Edmund Stoiber vorzustellen.
Alles zum Thema Deutscher Bundestag
- Wahl zum Bundeskanzler Scheitern im Scheinwerferlicht
- Unvereinbarkeitsbeschluss passé? Union brauchte die Linkspartei – Dobrindt verteidigt Gespräch
- Polit-Chaos Nach diesem dramatischen Tag ist Friedrich Merz angeschlagen
- „Ernste Lage“ Gescheiterter erster Wahlgang zum Kanzler – Rhein-Sieg-Abgeordnete zunächst besorgt
- Nach historischer Pleite Friedrich Merz im zweiten Wahlgang zum Kanzler gewählt
- „Besorgt mich sehr“ Reker und Lehmann äußern sich – Kölner Reaktionen zur Merz-Pleite
- Erster Wahlgang gescheitert Töchter von Friedrich Merz fiebern im Bundestag mit
Dessen einstiger Berater Michael Spreng erzählte später, Merz sei in bester Stimmung zurückgefahren und habe Merkel mitgeteilt, Stoiber wolle nicht die nächste Kanzlerkandidatur übernehmen. Der Weg für ihn, Merz, sei damit frei. „Aber Angela - was machst du dann?“, habe er die Frau aus dem Osten gefragt, die viele CDU-Männer für eine Übergangslösung an der Parteispitze hielten. „Mach Dir mal keine Sorgen“, habe die nur geantwortet. Doch Merz musste sich schon bald Sorgen machen. Große Sorgen.
Merkel verdrängte Merz eiskalt
Denn Merkel blieb. Stoiber trat mit ihrer Unterstützung doch an, dafür versprach er, nach der Wahl 2002 ihre Übernahme des Fraktionsvorsitzes zu unterstützen. Der bayrische Ministerpräsident verlor die Wahl und die vermeintliche Übergangslösung stieg auf. Merkel verdrängte Merz eiskalt von der Fraktionsführung und wurde 2005 die erste deutsche Kanzlerin.
2007 kündigte Merz aus Frust über die Große Koalition unter Merkel seinen Rückzug aus der Politik an. Der als glänzender Redner gefeierte Finanz- und Steuerexperte hatte neben ihr nicht reüssieren können. Nicht mit seinem legendären Bierdeckel, auf den er ein Steuerkonzept mit drei Stufen kritzelte und die Wirtschaft begeisterte. Erst recht nicht mit seiner Idee einer „deutschen Leitkultur“, die dem damaligen Zeitgeist widersprach.
Merz schimpfte über das „grottenschlechte“ Erscheinungsbild ihrer Regierung
Dreimal gewann Merkel noch die Wählerinnen und Wähler der politischen Mitte. Vergeblich kritisierte Merz sie intern wie extern. Vor allem dafür, dass sie eine zu liberale Politik mache und die Konservativen nichts mehr zu melden hätten. Noch 2019 schimpfte er über das „grottenschlechte“ Erscheinungsbild ihrer Regierung.
Andere hätten vielleicht irgendwann Ruhe gegeben. Nicht Merz. Er hat es ausgehalten, dass er nach Merkels Rückzug vom Parteivorsitz 2018 mit einer Kampfkandidatur gegen Annegret Kramp-Karrenbauer scheiterte. Schweißperlen hatte er, der große Redner, beim Parteitag in Hamburg auf der Stirn, als er seine Forderung nach einem Strategiewechsel vom Manuskript ablas - und seine Chance vertat. „Ich hätte natürlich heute gern gewonnen“, sagte er damals und riss sich eisern zusammen, um mit einem Lächeln „für eine spannende Zeit“ zu danken.
Drei Kampfkandidaturen um den CDU-Vorsitz
Aber diesmal zog er sich nicht zurück, und Kramp-Karrenbauer scheiterte alsbald an dem Umgang der Thüringer CDU mit der AfD. Der Vorsitz wurde wieder frei. Merz trat wieder an - verlor jedoch erneut, diesmal gegen Armin Laschet, der wiederum als Kanzlerkandidat die Bundestagswahl verlor. Und dann, als Merkel 2021 - selbstbestimmt - als Kanzlerin und Abgeordnete abgetreten und er selbst nach zwölf Jahren wieder ins Parlament eingezogen war, kam seine Zeit. Er gewann seine dritte Kampfkandidatur um den Vorsitz und wurde 2024 das, was er 24 Jahre sicher geglaubt hatte: Kanzlerkandidat.
Alle Unkenrufe, ihm werde seine lukrative Karriere in der Wirtschaft, einschließlich der Tätigkeit für den weltweit größten Vermögensverwalter BlackRock, zum Verhängnis, verhallten im Nirgendwo. Die Union siegte bei der Bundestagswahl. Der Wind hatte sich gedreht.
Unmut wird zum Konjunkturprogramm
Plötzlich können viele Menschen mit einer gewachsenen freiheitlichen „deutschen Leitkultur“, der sich Merz zufolge dauerhaft hierzulande lebende Migranten anpassen müssten, etwas anfangen. Seit der Zuwanderung von etwa einer Million Menschen aus Syrien und einer Million aus der Ukraine beklagen viele, der Staat kümmere sich mehr um Migranten und Bürgergeldempfänger als um fleißige Steuerzahler, die das System finanzierten. Der Unmut wurde zum Konjunkturprogramm für die AfD, die am vorigen Freitag vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestuft wurde.
Merz hat vor einigen Jahren behauptet, er könnte in der Regierung - anders als Merkel - die AfD halbieren. Von seinem Tabubruch Ende Januar, als er eine gemeinsame Abstimmung mit der AfD über die Migrationspolitik im Bundestag in Kauf nahm, konnte die Union offensichtlich nicht profitieren. Merkel kritisierte Merz für sein Vorgehen scharf.
Aber auch auf der anderen Seite konnte er damit nicht punkten. Denn er enttäuschte nach der Wahl die Erwartungen seiner Anhänger am rechten Rand nicht nur durch einen milderen Ton in der Migrationspolitik während der Koalitionsverhandlungen mit der SPD, sondern auch durch die Lockerung der Schuldenbremse. Politikwechsel?
Merz macht Spahn zum Fraktionschef
Bei einem vertraulichen Treffen von Unternehmern im Süden des Landes wenige Wochen nach der Wahl macht sich der Unmut breit: „Das war das letzte Mal, dass ich Union gewählt habe“, sagt die Chefin eines in der Region anerkannten Familienbetriebes. Der Manager einer großen mittelständischen Firma spricht es so aus und erntet Kopfnicken in der elitären und betuchten Runde: „Der Osten Deutschlands hat eine neue Mauer aufgebaut, nur diesmal ist es die richtige.“ Er meint die politische AfD-blaue Färbung aller fünf Bundesländer.
In den eigenen Reihen sorgt Merz für Irritationen mit der Personalie Jens Spahn, den er als neuen Unionsfraktionsvorsitzenden auserwählt hat. Zum Entsetzen auch in Unionskreisen führte jüngst dessen Plädoyer für einen Umgang mit der AfD wie mit den anderen Oppositionsfraktionen auch. Laut Umfragen zahlte das bei der AfD ein.
Irritationen über die Personalie Spahn
Spahn ist mit seinen 44 Jahren so ehrgeizig wie einst Merz. Sollte dieser als Kanzler unter Druck geraten, wäre Spahn der Erste, der ihn vor sich hertreiben würde, sind sich Abgeordnete sicher. Spahn hat Merz schon 2018 die Stirn geboten. Er war damals der dritte Kampfkandidat um den CDU-Vorsitz, und 2021 unterstützte er Armin Laschet. Nun kann sich der Mann, der sich als „Trump-Versteher” gefällt, mit der Fraktion eine eigene Machtbasis aufbauen.
Allerdings heißt es aus dem Konrad-Adenauer-Haus: Mit Generalsekretär Carsten Linnemann und dem künftigen Chef des Kanzleramts, Thorsten Frei, „brennt da nichts an“. Sie seien sein Schutzschirm.
Seinen vielleicht noch wichtigeren Verteidigungsring schließt allerdings seine Ehefrau Charlotte. Seit über 40 Jahren is das Paar verheiratet, sie ist seine wichtigste Vertraute. Die Direktorin des Amtsgerichts Arnsberg herrscht durchaus auch mal Journalisten an. Wie auf einem Parteitag 2024, als ein Reporter der Satiresendung „Heute Show“ Merz nach der Leitkultur fragte. Seine Frau grätschte dazwischen und antwortete: „Leitkultur bedeutet, als allererstes zu fragen, ob man eine Antwort geben möchte.“
Merz „mit Kraft und Herz“
Nun also ist der große Tag. Allerdings: Wenn Merz Kanzler wird, finden das laut ZDF-Politbarometer nur 38 Prozent der Bürgerinnen und Bürger gut. Union und SPD haben im Bundestag nur eine Mehrheit von 12 Stimmen. Wer sich von Merz und SPD-Chef Lars Klingbeil bei den Entscheidungen über Inhalte und Personalien übergangen fühlt, könnte sich in der geheimen Wahl revanchieren. Klimaschutz rangiert im Koalitionsvertrag eher unter ferner liefen. Hinter Rente und Pflege stehen dicke Fragezeichen, es werden viele Schulden gemacht. Das Merz-Spitzenteam in Kanzleramt, Partei und Fraktion ist männlich.
Aber scheitert diese schwarz-rote Koalition, scheitert vorerst auch die Rückkehr Deutschlands als verlässliche Größe für den Zusammenhalt in Europa und in der Auseinandersetzung mit US-Präsident Donald Trump und Kremlchef Wladimir Putin.
Wenn die Abgeordneten von Union und SPD dem Titel ihres Koalitionsvertrags „Verantwortung für Deutschland“ gerecht werden, wird Merz am Mittag den Eid leisten:
„Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.“ So wahr ihm Gott helfe.
Mit „Kraft und Herz“ werde er arbeiten, hat er versprochen. Seine Kraft ist offensichtlich. Vielen fehlt aber noch das „Herz“. Der Millionär und Hobbypilot gilt nicht als Mann des Volkes. Nicht jeder hat Wahlkampfauftritte mit ihm erlebt, wo er nach Provokationen aus dem Publikum das Jackett auszieht, die Hemdärmel hochkrempelt und sich den Kritikern stellt. Oder wie ihm nach seiner Wahl zum CDU-Chef die Tränen kommen. Eher sind Bilder präsent, wie er mit dem eigenen Flugzeug zur Hochzeit des früheren FDP-Finanzministers Christian Lindner nach Sylt flog.
Merkel wird übrigens zu seiner Wahl in den Bundestag kommen. Wenn ihr etwas Respekt abverlangt, dann dieser unbedingte Machtwille, Deutschland zu regieren. Diese Fähigkeit, Rückschläge zu verkraften, diese Ausdauer, immer weiterzukämpfen. Denn sie weiß, was das heißt. Welche Härte gegen sich selbst dafür nötig ist. Und vor allem, dass es jetzt für Merz erst richtig los geht.