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NRW-Landtag verabschiedet GesetzStaat kann künftig SMS von Verdächtigen mitlesen

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Der Verfassungsschutz in NRW kann künftig auch Handy-Botschsften von Menschen mitlesen, die im Verdacht stehen, Terroranschläge zu planen.

Der Verfassungsschutz in NRW kann künftig auch Handy-Botschsften von Menschen mitlesen, die im Verdacht stehen, Terroranschläge zu planen. 

Die Bedrohungslage in Deutschland wird immer komplexer, aber die Sicherheitsbehörden waren nicht auf Augenhöhe mit Terroristen und Staatsfeinden. Das soll sich durch das neue Verfassungsschutzgesetz in NRW jetzt ändern.

Der Verfassungsschutz in NRW erhält weitreichende zusätzliche Befugnisse. Das ermöglicht das neue Verfassungsschutzgesetz, das der Düsseldorfer Landtag mit den Stimmen von CDU und Grünen beschlossen hat. Das bislang geltende Gesetz stammt aus dem Jahr 1995. „Damals gab es noch kein Tiktok oder Instagram, kein Smartphone, kein Google“, erklärte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU). Ziel der Reform sei es, auf die sich wandelnden sicherheitspolitischen Herausforderungen und technologischen Entwicklungen zu reagieren und dem Verfassungsschutz damit die notwendigen Werkzeuge für die Anforderungen der Gegenwart zu geben.

Mit der Novelle des Gesetzes will die Landesregierung jetzt wesentliche Inhalte des Sicherheitspakets nach dem Terroranschlag von Solingen umsetzen. Auch der neuen Bedrohungslage durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine soll Rechnung getragen werden, zudem erfordert die Gefahr durch islamistischen Terror zeitgemäße neue Abwehrinstrumente. Geplante Anschläge in NRW konnten bislang nur durch Hinweise von ausländischen Geheimdiensten vereitelt werden. Im Dezember 2023 etwa hatte die Terrororganisation ISPK einen Anschlag auf den Kölner Dom geplant. Damals hieß es, durch den strengen Datenschutz seien die Sicherheitsbehörden in NRW „annähernd blind“. Jetzt will man unabhängiger von Tippgebern zum Beispiel aus den USA werden.

Mehr Befugnisse bei Videoüberwachung

Zu den zentralen neuen Instrumenten des Verfassungsschutzes gehören erweiterte Befugnisse bei der Videoüberwachung öffentlicher Räume und die Überwachung der Kommunikation über Messenger-Dienste. Auch die Befugnis zur Funkzellenabfrage in Mobilfunknetzen ist neu. Mit dieser können Netzwerke von Extremisten und Terroristen besser aufgedeckt werden. Zudem kann der Verfassungsschutz jetzt die Vorteile beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz nutzen.

Gregor Golland, Innenexperte der CDU-Landtagsfraktion, erklärte, der NRW-Verfassungsschutz habe bislang mit Vorschriften aus der analogen Welt gegen digitale Gegner kämpfen müssen. „Das war, als würde man Cyberterroristen mit einer Taschenlampe jagen – man sieht kurz ein Flackern, aber nie das ganze Bild“, sagte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende. Die Befugnisse des Verfassungsschutzes würden „maßvoll, gezielt und kontrolliert“ erweitert.

FDP prüft Klage

SPD und FDP scheiterten mit dem Versuch, die Verabschiedung des Gesetzes zu vertagen. Die Oppositionsparteien verlangten eine erneute Anhörung von Sachverständigen. „Das Gesetz steht auf wackligen Beinen“, kritisierte Christina Kampmann, Innenexpertin der SPD.  Die FDP will eine Klage vor dem Landesverfassungsgericht prüfen. Die AfD sprach von einem „Freibrief für staatliche Eingriffe“.

Innenminister Reul betonte, mit dem neuen Gesetz würden auch die Kontrollinstrumente gestärkt. „Erstmals werden bestimmte eingriffsintensive Maßnahmen unter eine richterliche Kontrolle gestellt“, sagte der Politiker aus Leichlingen. Die Regelungen zum Zugriff auf Videoaufnahmen seien fast wortgleich im neuen Verfassungsschutzgesetz von Rheinland-Pfalz zu finden. Dort sei ein SPD-Minister für das Innenressort verantwortlich. „Auch mit diesem Verfassungsschutzgesetz wird Nordrhein-Westfalen nicht zum Überwachungsstaat“, sagte Reul.

Gefährder werden immer jünger

Das neue NRW-Verfassungsschutzgesetz umfasst 259 Seiten. Seit dem Terroranschlag von Solingen, bei dem am 23. August 2024 drei Menschen ums Leben kann, haben die Sicherheitsbehörden mit Hochdruck an der Umsetzung gearbeitet. „Der Gesetzentwurf ist nicht nur repressiv ausgerichtet, sondern stärkt auch die Prävention“, sagte Reul. Die Sicherheitsbehörden hatte zuletzt beunruhigt, dass islamistische Gefährder immer jünger werden.

So sollen drei Jugendliche in einer Chatgruppe Anschläge auf Polizeistationen, Kirchen oder Synagogen in Köln, Düsseldorf, Dortmund oder Iserlohn geplant haben. Sie wurden im Frühjahr vergangenen Jahres verhaftet. Laut der Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf wollten die Anhänger der Terror-Miliz „Islamischer Staat“ (IS) mit Molotowcocktails, Messern und auf die Menschen schießen zu schießen. Das neue NRW-Verfassungsschutzgesetz reagiert darauf, dass auch junge Menschen schwere Straftaten planen. Künftig sollen auch Personen, die erst 14 Jahre alt sind, mit nachrichtendienstlichen Mitteln überwacht werden können.

Neu ist auch die Möglichkeit, dass der Verfassungsschutz künftig in Einzelfällen auch auf Daten aus der Videoüberwachung des öffentlichen Raums zugreifen darf. Dieser „Echtzeit-Zugriff“ ist auch auf private Videoanlagen möglich.

Auch Verfassungsschutz wird stärker kontrolliert

Die Befugnis zur Funkzellenabfrage in Mobilfunknetzen soll dabei helfen, Netzwerke von Extremisten und Terroristen besser aufdecken zu können. Bei einer Funkzellenabfrage fordern die Behörden von einem Mobilfunkanbieter die Daten aller Geräte an, die sich in einem bestimmten Zeitraum und Gebiet mit einem Mobilfunkmast verbunden haben.

Im Verfassungsschutzgesetz des Landes soll zudem klar verankert werden, dass auch Einzelpersonen beobachtet werden dürfen. In der Praxis wird das schon seit 2021 auf bundesrechtlicher Grundlage gemacht. Gleichzeitig werden Anfragen zu Kontostammdaten – etwa über das Bundeszentralamt für Steuern – erleichtert. Wenn zum Beispiel Waffen für terroristische Zwecke gekauft werden, soll das über die Spur des Geldes besser verfolgt werden können.

Eine neue Befugnis zur Anfrage bei Verkehrsunternehmen soll es erleichtern, Reisewege von Extremisten, Terroristen und Agenten fremder Mächte zu verfolgen. Gleichzeitig wird mit dem Gesetz der Verfassungsschutz auch selbst stärker kontrolliert: Neben die G10-Kommission für Verfassungsschutzmaßnahmen zur Telekommunikationsüberwachung rückt auch ein Richtervorbehalt für längerfristige Observationen, den Einsatz von Vertrauensleuten oder die Wohnraumüberwachung.

„Viel zu schwammig“

Dorothea Deppermann, Innenexpertin der Grünen, erklärte, das neue Verfassungsschutzgesetz stehe „für einen modernen, verantwortungsvollen und demokratisch kontrollierten Verfassungsschutz in NRW”. Die Landesregierung stelle die Sicherheitsbehörden „gut für die aktuellen Herausforderungen auf, achtet dabei aber ebenfalls die Grundrechte der Menschen“.

Die FDP verweigerte die Zustimmung zu dem neuen Gesetz.  Der Gesetzentwurf erlaube dem Verfassungsschutz erstmals die Nutzung automatischer Datenanalyse, sagte Henning Höne, Fraktionschef der Liberalen im Landtag. „Unwissende Dritte können künftig unter Beobachtung geraten, nur weil sie Kontakt zu einer Person haben, die schon beobachtet wird. Das ist viel zu schwammig und geht zu weit“, kritisierte Höne. Die Beziehung von Sicherheit und Freiheit wird durch das Gesetz „aus der Balance“ gebracht. „So groß die aktuellen Herausforderungen auch sein mögen, sind sie aber kein Freifahrtschein für eine Regierung, so weit über das Ziel hinauszuschießen, wie CDU und Grüne es planen“, sagte Höne.

Der Verfassungsschutz des Landes NRW bildet eine Abteilung des Innenministeriums in NRW. Der Bereich ist innerhalb des Hauses besonders gesichert, Besucher müssen ihre Mobiltelefone abgeben. Leiter ist seit März 2022 der Kölner Jurist Jürgen Kayser.  Im Jahr 2024 waren dem Dienst 553 Stellen zugewiesen. Im Jahr 2023 wurden mehr als 21.000 Personen wegen Extremismusverdachts beobachtet. Der Verfassungsschutz betreut auch Aussteigerprogramme wie „Wegweiser“. Dort werden jährliche etwa 60 Aussteiger aus der islamistischen Szene begleitet.