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Cold CaseGroßcousin gibt Spurensuche nach vor Jahren verschwundener Morsbacherin nicht auf

Lesezeit 7 Minuten
Michael Kaiser aus Gau-Algesheim steht vor dem „Geisterhaus von Morsbach-Steimelhagen“: Dieses hat Anett Carolin Kaiser, seine spurlos verschwundene Großcousine, im Sommer 2011 gekauft, aber nie bezogen.

Michael Kaiser aus Gau-Algesheim steht vor dem „Geisterhaus von Morsbach-Steimelhagen“: Dieses hat Anett Carolin Kaiser, seine spurlos verschwundene Großcousine, im Sommer 2011 gekauft, aber nie bezogen.

Michael Kaiser ist sicher: Seine Großcousine Anett Carolin Kaiser ist tot. Doch starb sie bei einem Unfall oder wurde sie damals ermordet?

An einem Fachwerkhaus mitten in Steimelhagen öffnet sich ein Fenster, eine junge Frau lehnt sich hinaus. Sie deutet auf das schiefergraue Haus gegenüber und fragt: „Tut sich was?“ Dort aber ist alles finster. Kein Licht brennt, geschlossen sind alle Fenster, zugewuchert die Treppenstufen hinauf zur verwitterten Eingangstür – wie bereits seit bald 14 Jahren.

An diesem Tag aber parkt ein schwarzer Mercedes Sprinter am Grundstück: Michael Kaiser ist gekommen, um nach dem Rechten zu sehen. Jenes Haus hat seine Großcousine Anett Carolin Kaiser im Sommer 2011 gekauft – aber nie bezogen. Seit dem 26. August jenes Jahres gilt die Frau aus Solingen als spurlos verschwunden. Mit ihrem blauen Kleinbus, einem Ford Transit, will die damals 51-Jährige nach Andalusien fahren. Dort aber kommt sie offenbar niemals an.

Dieses könnte eines der letzten Fotos von Anett Carolin Kaiser sein: Seit August 2011 gilt die damals 51 Jahre alte Neu-Morsbacherin als verschwunden. Jegliche Suche ist bisher erfolglos geblieben.

Dieses könnte eines der letzten Fotos von Anett Carolin Kaiser sein: Seit August 2011 gilt die damals 51 Jahre alte Neu-Morsbacherin als verschwunden. Jegliche Suche ist bisher erfolglos geblieben.

Seither beschäftigt ihr Schicksal die zuständige Kriminalpolizei in Wuppertal. „Ich bin sicher, dass sie tot ist“, betont Michael Kaiser. Der 77-Jährige lebt in Gau-Algesheim (bei Mainz), mit Sohn Markus führt der Winzer und Obstbaumeister den Michaelishof, ein Weingut. „Die Frage ist nur, ob sie bei einem Unfall ums Leben gekommen ist oder ob sie getötet wurde. Ich glaube längst nicht mehr, dass sie irgendwo auf der Welt untergetaucht ist.“

Immer wieder blättert Kaiser in einer schwarzen Kladde, greift nach Papieren. Kurz nachdem seine Verwandte im November 2011 als vermisst gemeldet worden ist, beginnt er, den Fall zu dokumentieren. Er trägt Kontakte zusammen, listet Namen und Rufnummern auf, notiert Daten, Orte, Begegnungen. Und zum ersten Mal fährt der Rheinhesse nach Steimelhagen: „Da hat's mir prompt Schauer über den Rücken gejagt.“

Seit dem Sommer 2011 ist dieses Haus mitten in der Morsbacher Ortschaft Steimelhagen dem Verfall preisgegeben. Anett Carolin Kaiser, die Besitzerin, ist seither spurlos verschwunden.

Seit dem Sommer 2011 ist dieses Haus mitten in der Morsbacher Ortschaft Steimelhagen dem Verfall preisgegeben. Anett Carolin Kaiser, die Besitzerin, ist seither spurlos verschwunden.

Seit etwa drei Jahren steht er auch in engem Kontakt mit der Gemeinde Morsbach: Kaiser möchte die Großcousine für tot erklären lassen. Im April 2023 hat die Gemeindekasse eines der vier Bankkonten von Anett Carolin Kaiser gepfändet, um laufende Kosten zu begleichen. Alle anderen Konten lägen weiterhin brach, sagt Michael Kaiser. „Es muss etwas mit dem Haus in Steimelhagen geschehen, es sollte endlich möglich werden, es wieder zu nutzen“, erklärt er und betont, dass er selbst kein Interesse an der Immobilie und dem großen Grundstück habe.

Anett Carolin Kaiser gilt als sehr wohlhabend, das Haus soll sie bar bezahlt haben – mit 125.000 Euro, die sie angeblich in einem Koffer mitgebracht hat. „Und das ist nicht ihr einziger Besitz: In Gau-Algesheim und Nieder-Ingelheim gehören ihr drei Ackerflächen mit Größen von 600 bis 3000 Quadratmetern, die ich gepachtet habe und für die ich weiterhin Geld und auch die Grundsteuer bezahle. Sie waren Teil des Erbes von ihrem Vater Hans-Otto.“

Neu-Morsbacherin soll sich als Jugendliche bis in den Jemen durchgeschlagen haben

Der wiederum ist der Cousin von Michael Kaisers Vater Bernhard. In Gierschnach bei Münstermaifeld gehöre ihr zudem ein Bauernhof, ergänzt Kaiser. „Aber leben wollte sie dort nicht. Es sei ihr da zu kalt, sagte sie.“ Danach habe Anett Carolin Kaiser eben das Anwesen in Morsbach gekauft. „Doch solange ihr Schicksal nicht geklärt ist und es keine offiziellen Erben gibt, sind uns allen die Hände gebunden.“

Zwei Cousinen und ein Cousin, sagt der Winzer, hätten ihm eine Vollmacht erteilt, um Nachforschungen anstellen zu können und möglicherweise die Todeserklärung zu erwirken. Alles zu einem Ende zu bringen, das sei ihm eine Herzenssache, verrät Michael Kaiser. Denn er habe die kleine, oft wunderlich wirkende Frau mit den strubbeligen Haaren sehr gemocht.

Er beschreibt sie gern als Paradiesvogel – nicht nur wegen der kunterbunten Kleidung, die sie trägt: „Als Kinder haben wir viel miteinander gespielt, sie war oft zu Besuch bei meiner Familie – ich habe sechs Geschwister. Auch später ist sie häufig zu mir und meiner Frau Christa gekommen.“ Mit den eigenen Eltern habe sie sich nicht gut verstanden, manchmal sei sie ausgerissen, stets gibt es Streit. Der Vater stirbt früh, die Jugendliche wächst bei einer Tante auf. „Sie muss 15 oder 16 gewesen sein, da hat sie sich bis in den Jemen durchgeschlagen.“

Insgesamt vier solcher Übersee-Container stehen auf Betonsockeln im Garten des „Geisterhauses von Steimelhagen“. Darin lagern vor allem Kleidung und Möbel der verschollenen Anett Carolin Kaiser.

Insgesamt vier solcher Übersee-Container stehen auf Betonsockeln im Garten des „Geisterhauses von Steimelhagen“. Darin lagern vor allem Kleidung und Möbel der verschollenen Anett Carolin Kaiser.

Bei der Wahl des Wohnortes legt die spätere Solingerin ebenfalls eine gewisse Unruhe an den Tag, oft zieht sie um. Ihren Lebensunterhalt bestreitet sie, wie Michael Kaiser sagt, mit Krempel-Märkten, also mit Trödel. Und trägt selbst Dinge zusammen, die ihr wichtig erscheinen: Am 1. Mai 2011 mietet sie Michael Kaiser zufolge in Burscheid einen 85 Quadratmeter großen Lagerraum – und bezahlt die Miete in Höhe von 335 Euro bis zum 30. April 2020 im Voraus. Im Garten des Hauses in Steimelhagen stehen derweil auf Betonfüßen vier schwere Übersee-Container, jeder mit einem Volumen von rund 66 Kubikmetern. Sie sind randvoll mit ihrer Habe.

Auch da sucht die Polizei mit Leichenspürhunden nach der Vermissten, die geschulten Nasen der Tiere schlagen indes nicht an. „Ich war überzeugt davon, dass man ihre Leiche finden würde – oder dass sie auf dem Grundstück verscharrt wurde“, schildert der Winzer. Er selbst habe die Container auch mal von innen gesehen: „Wir haben darin sogar die Puppenküche von der Uroma gefunden – und Möbel über Möbel sowie Kleidung.“ Inzwischen hat das Ordnungsamt der Gemeinde Morsbach die Stahlcontainer verschraubt und eine Tür an der Rückseite des Hauses ebenso fest verschlossen. Diese hat wohl Jahre lang offen gestanden.

„Mehrmals haben sich Unbefugte Zutritt zum Haus verschafft“, erklärt Bürgermeister Jörg Bukowski. „Die Hinweise kamen aus der Nachbarschaft. Seit etwa anderthalb Jahren ist aber Ruhe.“ Der Bauhof, so der Rathauschef, habe zudem seit 2018 viermal Sträucher und Büsche auf dem Grundstück gestutzt, damit ungebetene Gäste keine Verstecke finden. Grund dieser Besuche, überlegt die Frau am Fenster, sei wohl der Reiz, sich das „Geisterhaus von Steimelhagen“ mal aus der Nähe anzusehen.


Fall ist der vermissten Morsbacherin wird jetzt als „Cold Case“ eingestuft

Seit kurzem erfährt der Fall „Anett Carolin Kaiser“ eine neue Bearbeitung bei der Polizei in Wuppertal. Er wird nun als „Cold Case“ geführt – „kalt“, weil seit langer Zeit keine neuen Hinweise zur Vermissten eingegangen sind. 2021 hat Landesinnenminister Herbert Reul eine Einheit gegründet, in der pensionierte Beamtinnen und Beamte solche Ermittlungen fortsetzen. „Und da liegt nun auch der Fall Kaiser“, sagt Polizeisprecher Stefan Weiand. „Wir versprechen uns davon neue Perspektiven und neue Ansätze.“

In einem der Räume steht ein Computer, benutzt wurde er von Anett Carolin Kaiser in Steimelhagen jedoch nicht.

In einem der Räume steht ein Computer, benutzt wurde er von Anett Carolin Kaiser in Steimelhagen jedoch nicht.

Der Fall aus Morsbach gehöre zu den drei Fällen seiner Dienststelle, die am meisten Aufmerksamkeit erregt hätten, schildert Weiand. Der Hauptkommissar nennt zudem Leonie Gritzka: Seit dem 23. Juli 2016 wird die damals 15-Jährige aus Remscheid vermisst. Weiterhin gesucht wird zudem Tanja Mühlinghaus aus Wuppertal, die im Oktober 1998 im Alter von 15 Jahren verschwand.

Im Mai 2016 berichtet das ZDF-Magazin „Aktenzeichen XY ... ungelöst“ über Anett Carolin Kaiser, danach treffen mehr als 40 Hinweise in der Redaktion ein. Doch keiner hilft.

Die Vermisstenanzeige für Anett Carolin Kaiser hat Stefan Weiand zufolge ein Bekannter am 18. November 2011 eingereicht. Hinweise zu der Frau gehen an die Polizei in Wuppertal unter (02 02) 284-0.


Die Chronologie des Verschwindens von Anett Carolin Kaiser aus Morsbach

Am 26. August 2011 bricht die damals 51 Jahre alte Anett Carolin Kaiser (Foto) auf, um mit ihrem Ford Transit nach Jerez de la Frontera zu fahren. In der spanischen Provinz Andalusien soll sie ein Feriendomizil besitzen, heißt es. Von Freunden und Bekannten verabschiedet sich die 1,61 Meter große, zierliche Frau aus dem Solinger Stadtteil Aufderhöhe mit den Worten, sie kehre spätestens zum Zöppkesmarkt am 10. September in die Klingenstadt zurück. Doch in Spanien kommt die Neu-Morsbacherin mit den wuscheligen, damals rötlichen Haaren offenbar niemals an.

Die Polizei konzentriert sich bei der Suche besonders auf den auffälligen Oldtimer-Bus mit dem Kennzeichen „SG – AD 895“. Diesen hat das Technische Hilfswerk ausgemustert, der Transit trägt also das markante Blau der Organisation. Doch auch der ist verschwunden.


Wie funktioniert eine Todeserklärung?

Ob ein Mensch für tot erklärt werden kann, ist gesetzlich geregelt. Das Verfahren führt dann das zuständige Amtsgericht. Dieses kann in Gang gesetzt werden, wenn seit längerer Zeit keine Nachricht vom Weiterleben vorliegt und ernstliche, begründete Zweifel am Fortleben oder gewichtige Hinweise für einen wahrscheinlichen Todesfall bestehen, etwa aufgrund von Unfällen, Naturkatastrophen oder Krieg. Der Mensch, der für tot erklärt werden soll, muss mindestens 25 Jahre alt sein.

Ziel des Verfahrens ist es, die mit dem Tod eines Menschen verbundenen Rechtsfolgen auszulösen, darunter die Auflösung der Ehe oder Eintritt des Erbfalles. Die Todeserklärung ist zulässig, wenn seit dem Ende des Jahres, in dem der Verschollene noch gelebt hat, zehn Jahre oder, wenn der Verschollene zur Zeit der Todeserklärung das 80. Lebensjahr vollendet hätte, fünf Jahre verstrichen sind.