Im Schmerzensgeldprozess wegen Missbrauch durch einen Priester hat sich das Erzbistum Köln durchgesetzt. Der Fall schockiert.
„Kaltschnäuzige“ BegründungErzbistum Köln muss für Missbrauch durch Priester nicht haften – Berufung angekündigt

Missbrauchsopfer Melanie F. vor dem Landgericht Köln: Ihre Schmerzensgeldklage gegen das Erzbistum Köln wurde abgewiesen.
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Das Erzbistum Köln muss für die Missbrauchsverbrechen des Ex-Priesters und Serientäters Hans Ue. an seiner minderjährigen Pflegetochter nicht haften. Das Landgericht Köln wies die Klage der heute 58 Jahre alten Melanie F. auf insgesamt 850.000 Euro Schadenersatz in vollem Umfang ab.
Die 5. Zivilkammer unter Vorsitz von Richter Dominik Theisen vertritt in ihrem Urteil die Auffassung, dass Ue. die Missbrauchstaten nicht als Priester in Ausübung seines klerikalen Amts begangen habe. Deshalb müsse die Institution Kirche auch nicht dafür einstehen. Die Klägerin, ihr Anwalt und Betroffenen-Vertreter kritisierten das Urteil scharf. Das Erzbistum reagierte betont verhalten.*
Pflegetochter wurde zweimal vom Priester schwanger
Ue. hatte die damals zwölf Jahre Melanie F. und einen zwei Jahre älteren Jungen Ende der 1970er Jahre aus einem Bonner Kinderheim geholt und in Pflege genommen. Der damalige Kölner Erzbischof, Kardinal Joseph Höffner, gab dafür eine Sondererlaubnis. Kurze Zeit darauf begann Ue., seine Pflegetochter aufs Schwerste zu missbrauchen.
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Die Verbrechen bis hin zum vollendeten Geschlechtsverkehr erstreckten sich über mehrere Jahre. Zweimal wurde Melanie F. ungewollt schwanger. Im ersten Fall ließ Ue. eine Abtreibung vornehmen, ohne dass seiner Pflegetochter dies bewusst war. 2022 verurteilte das Landgericht Köln Ue. wegen anderer Missbrauchsvergehen zu insgesamt zwölf Jahren Haft. Die Verbrechen an F. waren strafrechtlich verjährt. Im Zivilverfahren um Schadenersatz verzichtete das Erzbistum Köln auf die Einrede der Verjährung.
Gericht betont fehlenden Zusammenhang zum Amt
In seinem Urteil führt das Gericht aus, der für eine Amtshaftung der Kirche erforderliche Zusammenhang zwischen Missbrauchstaten und kirchlichem Amt des Täters sei im konkreten Fall nicht gegeben. Vielmehr bestehe die Besonderheit, dass Melanie F. dem Priester Ue. als Pflegekind anvertraut gewesen sei. Die Sorge für ein Pflegekind sei dabei durch einen staatlichen Akt begründet worden, nämlich durch die Genehmigung des Bonner Jugendamts. „Ein Zusammenhang zur kirchlichen Tätigkeit scheidet aus Sicht der Kammer bereits deshalb aus.“
Auch könne dem Erzbistum keine Verletzung von Kontroll- oder Aufsichtspflichten vorgeworfen werden. Der Prozessverlauf mit Anhörung mehrerer Zeugen habe nicht ergeben, dass Vertreter der Kirche Anhaltspunkte für einen Missbrauch der Klägerin gehabt hätten.
Dagegen hatten die Melanie F.s Anwälte vorgetragen, dass Ue. sein Priesteramt für seine Taten ausgenutzt habe. Seine Vertrauensstellung als Geistlicher habe es ihm ermöglicht, an sein Opfer heranzukommen – und insbesondere die Erlaubnis zu bekommen, mit dem Mädchen unter einem Dach zu wohnen.
Urteil zu Priesterrolle und Privatsphäre
Dass Ue. in der gemeinsamen Wohnung seiner Priestertätigkeit nachging, führt – so das Gericht – nicht dazu, „dass der Missbrauch in der privaten Wohnung eine kirchliche Tätigkeit darstellt. Ausdrücklich spielte das kirchliche Amtsverständnis, dem zufolge ein Priester „immer im Dienst“ ist, keine Rolle. „Es kommt auch nicht darauf an, ob Dienstvorgesetzte oder möglicherweise der Täter selbst die Betreuung des Pflegekindes als Teil der Ausübung des Priesteramtes angesehen haben“, so das Urteil. Maßgebend sei bereits aus Gründen der Rechtssicherheit „eine objektive Betrachtung“. Ue. habe Melanie F. unter Ausnutzung seiner Rolle des Pflegevaters missbraucht, nicht des Priesters. Kirchliche Körperschaften müssten aber nicht für jede Handlung ihrer Amtsträger haften.
Kardinal Höffners Sondererlaubnis zur Übernahme des Sorgerechts mache die Sorge für das Pflegekind auch nicht zur kirchlichen Aufgabe, so das Gericht weiter. F.s Anwälte hatten auch unter Berufung auf bistumsinterne Papiere argumentiert, die damalige Bistumsleitung habe bei der Zustimmung zur Übernahme des Sorgerechts ausdrücklich das Kindeswohl im Auge gehabt. Melanie F. sei damit in den seelsorgerlichen Verantwortungsbereich der Kirche hineingenommen worden.
Scharfe Kritik am Urteil und am Erzbistum
Das Erzbistum Köln hob in seiner Stellungnahme darauf ab, dass es - nach den Worten von Amtsleiter Frank Hüppelshäuser - beim Thema Missbrauch am Ende keine Gewinner gebe. Es sei gut, dass das Gericht nun ein Urteil gefällt habe. Die Entscheidung zur Frage der Amtshaftung habe das Erzbistum zur Kenntnis genommen. Hüppelshäuser betonte auch, dass das Verfahren überhaupt erst durch den Verzicht auf die Einrede der Verjährung ermöglicht worden sei.
Melanie F. sagte auf Anfrage, sie sei „traurig“ und könne das Urteil nicht verstehen. Es sei „eine weitere Klatsche“ - nicht nur für sie, sondern für alle, die sexualisierter Gewalt von Priestern erlitten hätten. „Es kann nicht sein, dass die Kirche in solchen Fällen hingeht und sagt, Missbrauch ist Privatsache.“ Eine solche Rechtsauffassung dürfe nicht stehenbleiben. „Auf dieser Basis könnten sich Betroffene in Zukunft den Gang vor Gericht schenken. Wir müssen weitermachen, weil das auch für viele andere wichtig ist“, sagte F. auf die Frage nach einer möglichen Berufung. „Dieses Urteil kann nicht das Ende sein. Das wäre fatal.“*
F.s Rechtsbeistand Eberhard Luetjohann nannte das Urteil auf Anfrage eine „Lizenz zur Verantwortungslosigkeit“ für das Erzbistum. In dem Prozess sei es entscheidend um die Frage gegangen, wem das Gericht Glauben schenke, „dem Opfer oder der Täterorganisation Erzbistum“. Offenbar habe sich das Gericht für letztere Variante entschieden. Die Amtskirche habe die Verantwortung für ihr Versagen weitergereicht, und das Gericht „hat die Drecksarbeit erledigt“, sagte Luetjohann dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.
Auch der Opferhilfe-Verein „Umsteuern“ sprach von einem erneuten Persilschein der Kölner Justiz, mit dem das Erzbistum sich seiner offensichtlichen Verantwortung entziehe. Die Urteilsbegründung des Gerichts sei nicht nachvollziehbar, sagte die Vereinsvorsitzende Maria Mesrian dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Es entstehe der Eindruck, „dass Betroffenen nicht einmal vor einer staatlichen Instanz Gerechtigkeit widerfährt“.
Matthias Katsch von der Betroffenen-Initiative „Eckiger Tisch“ zeigte sich „geschockt“. Die Entscheidung sei „ein Schlag für alle Betroffenen, die ihre Hoffnungen in den Rechtsstaat gesetzt haben“. Die „kaltschnäuzige“ Begründung des Gerichts zeuge von völliger Unkenntnis, wie umfassend die katholische Kirche das Priesteramt verstehe. Oder aber sie zeuge von „Voreingenommenheit für diese alte, ehrwürdige Institution hier in Köln“.
Die Kirche poche ständig auf ihre Sonderrolle im Staat, „aber wenn's ums Geld geht, vergisst sie selbst ihren eigenen Amtsbegriff und will, dass Priester von Gerichten behandelt werden wie irgendein staatlicher Beamter, der samstags frei hat“, sagte Katsch dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Nie im Leben hätte jemand wie Ue. als alleinstehender junger Mann Ende der 1970er Jahre das Sorgerecht für zwei Kinder übertragen bekommen. „Das ging nur, weil er Priester war. Sein priesterliches Amt, damit einhergehende finanzielle Absicherung und administrative Einbindung in die Amtskirche, das waren die entscheidenden Aspekte, und das soll keine Amtshaftung begründen?“
Bereits während des laufenden Verfahrens hatten führende Staatsrechtler wie der Stefan Rixen von der Uni Köln und Kirchenrechtsexperten wie der Bonner Professor Norbert Lüdecke die Verneinung der kirchlichen Amtshaftung und die Bewertung des Missbrauchs als Privatsache des Priesters durch das Landgericht Köln für irrig erklärt.
Anwalt der Klägerin will in Berufung gehen
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Luetjohann nannte die Argumentation des Gerichts grundfalsch, insbesondere werde Ue.s Rolle als Priester komplett ausgeblendet. Er habe die Kammer als voreingenommen erlebt. Seiner Mandantin werde er empfehlen, vor dem Oberlandesgericht (OLG) Köln in Berufung zu gehen. Auch Luetjohann sagte, Melanie F. sei vom Ausgang des Prozesses sehr betroffen. „Ich erwarte, dass das OLG das jetzt ergangene Urteil aufhebt.“
Kurz vor Ende des Verfahrens hatten Luetjohann und auch Betroffenen-Vertreter Katsch das Erzbistum und namentlich Kardinal Rainer Woelki wegen Prozessbetrugs angezeigt. Wichtige Dokumente seien dem Landgericht vorenthalten worden. Ausführungen der Bistumsanwälte zur zentralen Frage einer etwaigen Amtshaftung der Kirche seien dementsprechend verschleiernd oder verfälschend ausgefallen. Die Staatsanwaltschaft Köln hat den Eingang der Strafanzeige inzwischen bestätigt (Aktenzeichen 121 Js 1450/25). Ein Anfangsverdacht werde geprüft, sagte Behördensprecher Sinan Sengöz. Woelki und das Erzbistum haben die Vorwürfe als absurd zurückgewiesen. Im Urteil zur Schmerzensgeldklage bewertet das Landgericht die fraglichen Dokumente als nicht entscheidungserheblich.
* Die Stellungnahmen des Erzbistums und der Klägerin Melanie F. wurden nach Erhalt in dieser Version des Beitrags ergänzt.
In der vorigen Woche hatte das Landgericht Mainz einem Missbrauchsopfer die Rekordsumme von 340.000 Euro Schadenersatz zugesprochen. In diesem Fall sah das Gericht die Amtshaftung des Bistums Mainz als gegeben an. Zu dieser Auffassung war das Landgericht Köln 2023 auch im Fall des ehemaligen Messdieners Georg Menne gelangt. Er erhielt eine Summe von 300.000 Euro.
Aktenzeichen des Schmerzensgeldprozesses 5 O 220/23