Das Collegium Vocale Gent unter ihrem Gründer Philippe Herreweghe begeistert in der Kölner Philharmonie.
Johannes-Passion unter HerrewegheZum Heulen schön

Collegium Vocale Gent
Copyright: KölnMusik GmbH/Eric de Mildt
Der Mann ist zweifellos ein Phänomen. Der gestische Input des 77-jährigen vom Pult aus scheint inzwischen einerseits minimalistisch, andererseits auf eine verwirrende Weise kleingliedrig: Das Metrum wird bereits vor dem Einsatz der Musik vielfach unterteilt, sodass es für Außenstehende kaum erkennbar ist, wann und wo die Takt-Eins erreicht wird. Sänger und Instrumentalisten erkennen das aber offensichtlich zuverlässig – oder wissen aus jahrzehntelanger Gewohnheit eh, wie „der Hase läuft“. Anders wäre allein die technische Souveränität, die Chor und Orchester des Collegium Vocale Gent unter ihrem Gründer Philippe Herreweghe jetzt in der Kölner Philharmonie Bachs Johannes-Passion angedeihen ließen, auch kaum zu erklären.
Zu berichten ist von einer Aufführung, die eine seltene Reinheit und Präsenz mit eindringlichster Umsetzung der Bach´schen Figurensprache und, in den berichtend-dialogischen Stellen erheblicher Dramatik verband. Das alles war bewegend, erschütternd, zum Heulen schön – ganz unabhängig davon, ob der einzelne Zuhörer nun der Bach´schen Glaubenswelt nahe- oder fernsteht.
Einiges musste sich zweifellos zurechtruckeln. Gleich im ersten Chor etwa waren über der stark artikulierten Achtelfiguration der Bässe die 16tel-Koloraturen der übrigen Stimmen kaum zu hören. Bei aller legitimen Abneigung gegen Oberstimmendominanz – hier wurde die Balance des Satzgefüges eindeutig verletzt.
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Nie in oberflächliche Brillanz verfallende Klangschönheit
Diese Probleme lösten sich dann aber auf, und im Fortgang erwies sich der 16-köpfige Kammerchor immer wieder aufs Neue als ein Hort einer nie in oberflächliche Brillanz verfallenden „redenden“ Klangschönheit – ganz gleich ob in den cool exekutierten Fugen („Wir haben ein Gesetz“) oder den Turbae mit ihrer schmerzhaft angezogenen Chromatik („Wäre dieser nicht ein Übeltäter“) und den wunderbar federnden Synkopen in „Lasset uns den nicht zerteilen“, wo offensichtlich – eine Interpretation des studierten Psychiaters Herreweghe? – die von Gier befeuerte Aussicht auf Besitz das anfängliche aggressive Zischen zum Forte anschwellen ließ. Immer wieder sprang den Hörer allein die Vokalführung suggestiv an. Das „ö“ bei „Wir dürfen niemand töten“ konnte ihm nahezu das Blut in den Adern gefrieren lassen.

Dirigent Philippe Herreweghe
Copyright: KölnMusik GmbH/Stephan Vanfleteren
Die Choräle wiederum zeichneten sich durch einen natürlichen Fluss genauso aus wie eine differenzierte Binnenartikulation und merkliche Veränderungen im Fall zwei aufeinander folgender Strophen mit identischer Musik. Der Text verlangt es, dass da nichts über einen Leisten geschlagen wird, aber dieses Verlangen muss halt auch bedient werden.
Zur Eindringlichkeit der Aufführung trug schließlich die genaue Dramaturgie des „Stimmungsumschwungs“ bei. Immer wieder führte ein ruppiger Einsatz des Generalbasses nach den gleichsam aus der Zeit fallenden Arien und Chorälen wie der Weckruf aus einem schönen Traum zurück zur brutalen Gegenwart des Passionsgeschehens. Überhaupt ließ das kleine Orchester, ließen Flöten und Oboen, Laute und Gambe an expressiver Intensität keine Wünsche offen.
Unter den Vokalsolisten schoss wohl Reinoud van Mechelen als Evangelist mit glasklarer Formulierung und situativ überzeugendem Schwanken zwischen distanziertem Bericht und unmittelbarer eigener Beteiligung den Vogel ab. Die dramatische Erhitzung der Dialogpartien ging ganz wesentlich auf ihn als Motor zurück. Am anderen Ende der Skala war leider Krešimir Stražanac als Jesus angesiedelt, der nicht durch einen Mangel an vokaler Durchsetzungskraft missfiel, wohl aber durch salbungsvoll-betuliche, unecht-theatralische Übertreibungen.
Rundum überzeugend hingegen Johannes Kammler als Bassbariton. Die übrigen Solisten – die Sopranistin Marie Luise Werneburg, der Altus Alex Potter, der Tenor Guy Cutting und der Bass Phillip Kaven (Pilatus) – kamen aus der Kommunität des Kammerchores. Klar, riesige Stimmen waren hier nicht zu erwarten, dafür aber tonschöne und metiersichere, mit den Usancen barocker Klangrede innigst vertraute. Von Wagner- und Strauss-Interpreten möchte man Bach heutzutage ja auch nicht mehr unbedingt gesungen hören.
Theologe gegen Aufführungsverbot
Die Karwoche und Ostern ohne die populären Bach-Passionen? Keine gute Idee, findet der Wiener katholische Theologe Jan-Heiner Tück. Er wendet sich gegen einen Vorstoß, die Passionsmusiken von Johann Sebastian Bach wegen antijüdischer Klischees zeitweilig nicht aufzuführen. In der Tat sei Solidarität geboten, weil jüdisches Leben heute auch in Deutschland wieder gefährdet sei, schreibt Tück in einem Beitrag für das Portal communio.de. Alle Formen von gegenwärtigem Antisemitismus und auch „importiertem“ Judenhass in Deutschland zu bekämpfen, sei das Gebot der Stunde - „nicht aber die Zensur der Passionen von Bach“.
Der niedersächsische Antisemitismus-Beauftragte Gerhard Wegner hatte einen zeitweiligen Aufführungsstopp der Passionsmusiken von Bach ins Spiel gebracht. Auch seien Aufführungen ohne vorherige Hinweise verantwortungslos, fügte er hinzu. In Werken wie der Matthäus- und der Johannes-Passion, die vor Ostern oft aufgeführt würden, werde zum Beispiel der Eindruck erweckt, dass pauschal „die Juden“ die Schuld an Jesu Tod trügen.
Tück erklärte dazu, dass sehr wohl unterschiedliche Stränge des kirchlichen Antijudaismus selbstkritisch aufgearbeitet werden müssten. Historische Einordnungen und kritische Kommentierung seien die geeigneten Instrumente, Texte der Tradition zu bearbeiten.
„Aber ein Problem schafft man nicht aus der Welt, indem man Verbote ausspricht, Zensuren vornimmt oder kanonische Texte umschreibt“, ergänzte der Theologe. Daher sei es falsch, die Aufführung von Bachs Passionsmusik zeitweise auszusetzen. Denn dann müsste man auch die Rezitation des Johannes-Evangeliums im Gottesdienst untersagen. (kna)