Die britische Elektronik-Band simulierte beim Kölner Open-Air-Konzert erfolgreich die 90er Jahre. Unsere Kritik.
Konzert auf dem RoncalliplatzFaithless beschwören den DJ-Gott vorm Dom

Sister Bliss von Faithless spielt auf dem Roncalliplatz.
Copyright: Michael Bause
Es gibt ein Leben nach dem Ende der Geschichte und auch ein Leben nach dem Tod. Maxwell Fraser, Kindern der 1990er unter dem Künstlernamen Maxi Jazz bekannt, ist vor zweieinhalb Jahren gestorben. Der schlaksige Charismatiker, der im Hit „Insomnia“ der britischen Elektronik-Band Faithless so eindrücklich bekannt hatte, sich wochenlang nachts im eigenen Schweiß hin und her zu wälzen, ohne jemals Schlaf zu finden, war im Alter von 65 Jahren friedlich eingeschlafen, hieß es damals ohne einen Funken Ironie. Doch am Donnerstagabend ist Maxi Jazz auf dem Roncalliplatz als Geist aus der Matrix wiederauferstanden – als zweidimensionales Lichtwesen aus vibrierenden Umrisslinien in Neonfarben. „Dies ist meine Kirche“, spricht das Lichtwesen von der Leinwand, „hier heile ich meine Wunden.“
Vor ihm pulsiert hypnotisch die Band, die heute unter dem Namen Faithless firmiert. Nach Maxi Jazz' Tod steht vom Gründungstrio einzig noch Ayalah Bentovim alias Sister Bliss auf der Bühne, sie bedient eine üppige Auswahl an Keyboards und Synthesizern, schüttelt das blondierte Haar mit den pinken Spitzen. Ihr Produktionspartner Rowland Armstrong, kurz Rollo, ist daheim im Studio geblieben, er scheut seit jeher die Öffentlichkeit.
Der Club ist die Kirche, die Kathedrale nur Kulisse
Hinter der Maxi-Jazz-Erscheinung erhebt sich die wundenheilende Hohe Domkirche zu Köln. „Respekt, Liebe, Mitgefühl“, fordert die Erscheinung ein. Ein frommer Wunsch. Doch einer, der – um Rainald Goetz zu zitieren – dank „Neuheit, Tumult, Kühle“ des Rave-Lebens einen winzigen Augenblick lang erfüllbar schien. Die Bassdrum gab die liturgische Ordnung vor, der Club war die Kirche, Tanzen ein Akt von religiöser Bedeutung. „Denn heute Nacht“, schließt die körperlose Stimme von Maxi Jazz gravitätisch, „ist Gott ein DJ.“
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Seine Stimme verhallt, die Musik pausiert. Dann spielt Sister Bliss die erlösende Keyboard-Melodie, ein göttliches Georgel. Blaue Laserstrahlen erleuchten die Bühne, auf dem Roncalliplatz strecken sich Hände dem Himmel entgegen. „Maxi hätte das geliebt“, kommentiert Sister Bliss. „Das war seine Botschaft an die Welt.“ Dann lobt sie, erwartungsgemäß, die passgenaue Kulisse der „amazing cathedral“.

Faithless auf dem Roncalliplatz vor dem Kölner Dom
Copyright: Michael Bause
Jetzt zieht das Tempo an, ein eskalierendes Schlagzeug und wilde Percussion-Schläge beleben den geraden Beat. Die Menge gerät in Bewegung, die alt gewordenen Kinder der 90er tanzen wieder. Wie damals, als die Geschichte eine Atempause machte, als Zeichen und Wirklichkeit zur ahistorischen Hyperrealität in eins fielen und der frei assoziierende französische Denker Jean Baudrillard die wichtigste Frage des Jahrzehnts formulierte: „Was tun wir jetzt, nach der Orgie?“ Die Antwort lautet: einfach weitertanzen.
Für anderthalb Stunden versuchen sich Faithless und ihre 2500 Zuschauerinnen und Zuschauer vor der Südfassade des Doms gemeinsam an der gewaltigen Simulation einer unbeschwerten, schwerelosen, aber eben längst vergangenen Zeit. Die Leinwand zeigt glückselige Raver auf grüner Wiese oder den Blick aus einem rasenden Triebfahrzeug auf sich verjüngende Schienen. Abfeiern, aufreißen und ausrasten (noch einmal Rainald Goetz): das Leben als totale Abfahrt.
Drum-and-Bass-Breakbeats, begleitet von buddhistischen Gesängen
Der hyperaktive Bassist trägt eine rote Adidas-Jacke und der junge Gastvokalist, der ganz in Jeans zu „I Need Someone“ auf der Bühne erscheint, singt leicht komatös, als hätte er den Tag an einem Strand auf Ibiza verbracht und trüge noch die Sonne auf der Zunge. „Schöner wird es nicht mehr“, stellt er später, in lächelnde Gesichter blickend fest. Darin verbirgt sich freilich auch eine bittere Wahrheit.
„Das Gras ist grüner ohne den Schmerz“, gibt eine zweite Gastsängerin zum Besten („Crazy English Summer“ heißt der Track), mit ihren Zöpfen und dem silbernen Top sieht sie aus, als wäre sie gerade 30 Jahre in die Zukunft gereist, es fehlen wirklich nur noch die grün gefärbten Augenbrauen. Erneut forciert die Band das Tempo, Drum-and-Bass-Breakbeats überschlagen sich, werden von buddhistischen Gesängen begleitet, als könnte man sich ins Nirwana zappeln.

24.07.2025, Köln: Konzert von Faithless auf dem Roncalliplatz. Foto: Michael Bause
Copyright: Michael Bause
Paradoxerweise gelingt Faithless' dieses Reenactment des elektronischen Fin de Siècle gerade deswegen so überzeugend, weil die Band ihre Musik so weit wie möglich live umsetzt, auf die natürliche Energie des Zusammenspiels statt auf millimetergenaue Computer-Architektur setzt. Da brummt der Bass in sorgloser Übersteuerung und der Gitarrist setzt zu einem David-Gilmour-artigen Entspannungssolo ein, das einen schlagartig daran erinnert, warum der Ekstase-Urknall der Rave-Kultur Ende der 1980er Jahre als „second summer of love“ gefeiert wurde, warum Acid House und Techno als fröhliche Wiederkehr vergessener Hippieträume galten: Im Leben der Nacht gab es kein Gestern und kein Morgen, nur Respekt, Liebe, Mitgefühl. Darüber möchte man heute, nach dem uns die Geschichte im neuen Jahrtausend so nachdrücklich daran erinnert hat, dass die Berichte über ihr Ableben übertrieben waren, zynisch die Nase rümpfen.
Bevor sie den Abend mit einem etwas seltsamen Jungle-Remix von Didos Ballade „Thank You“ beendet (die Sängerin ist die Schwester von Faithless' Rollo), spielt die Band mit dem agnostischen Namen ihr Glaubensbekenntnis: „We Come 1“ beschwört die Liebe zwischen zwei Partnern als Modell für die Eintracht unter allen Menschen, eine humanistische Techno-Hymne: „In dir das Lied, das meine Fehler wiedergutmacht/In dir die Fülle des Lebens/Die Kraft, neu anzufangen.“
Mit der Hit-Single wiederholten Faithless im Sommer 2001 ihren Anfangserfolg mit „Insomnia“. Dann wurde es September. Die Menschen auf dem Roncalliplatz wollen noch bleiben, verlangen lauthals nach dem Schlaflos-Stück, obwohl Faithless das doch längst gespielt haben. Aber so waren die 90er (um ein letztes Mal Rainald Goetz zu paraphrasieren): Getrieben vom Wunsch, sich wieder und wieder zu vergessen.